Einleitung
Die Terroranschläge des 11. September 2001 erschütterten das Fundament der freiheitlich demokratischen Grundordnung der Vereinigten Staaten: das Grundvertrauen der Amerikaner in die eigene Stärke. In der Folge wurde dem Staat eine besondere Schutzfunktion und damit die Aufgabe zugewiesen, das "Heimatland" zu schützen - auch um den Preis der Einschränkung individueller Freiheitsrechte, der so genannten "civil liberties"
Im Folgenden soll verdeutlicht werden, wie sehr die Anschläge des 11. September 2001 die Gesellschaft der Vereinigten Staaten traumatisiert und verändert haben. Erst vor diesem Hintergrund - diesem Verständnis für das Gefühl der Verwundbarkeit und der nationalen Bedrohung - kann man das Zutrauen der Amerikaner in die Schutzfunktion ihrer Regierung, vor allem in die Amtsgewalt des Präsidenten als Oberster Befehlshaber nachvollziehen. Nach Auffassung des Präsidenten George W. Bush verschaffen nur energisches Handeln im Ausland und erhöhte Wachsamkeit im Innern Sicherheit vor weiteren Angriffen auf das amerikanische "Homeland".
Dieser "Krieg gegen den Terrorismus" zeitigt auch innenpolitische "Kollateralschäden". Die Prävention künftiger Terroranschläge geht oft auf Kosten individueller Freiheit. Mehr noch: Die so genannte "Ashcroft-Doktrin" der Prävention droht die grundlegende Sicherung persönlicher Freiheitsrechte durch das System sich gegenseitig kontrollierender Gewalten auszuhebeln.
Einmal mehr in der amerikanischen Geschichte hat sich aufgrund äußerer Bedrohung die Machtbalance dieser konkurrierenden "branches of government" zugunsten der Exekutivgewalt verschoben. Insofern kommt dem Kongress eine besondere Verantwortung zu - zumal, wie die bisherige Erfahrung gezeigt hat, die richterliche Kontrolle in Kriegszeiten eher schwach ausgeprägt ist. Indem die Legislative ihre Kommunikations- und Kontrollfunktionen wahrnimmt, kann sie dafür sorgen, dass auch in Zeiten nationaler Unsicherheit individuelle Freiheiten nicht unter Berufung auf das kollektive Schutzbedürfnis über Gebühr eingeschränkt werden.
Der 11. September und die amerikanische Gesellschaft
Anders als in Europa wurden in den Vereinigten Staaten die Anschläge des 11. September nicht alsterroristische, sondern als kriegerische Akte verstanden. Amerika befindet sich nach dieser Auffassung im Kriegszustand. Diese kollektive amerikanische Wahrnehmung hat nicht nur fundamentale Auswirkungen auf die Verfassung der einzelnen Bürger, sondern auch auf die der Gesellschaft insgesamt. Im "Krieg für eine gerechte Sache" ist die Bevölkerung, sind auch die Intellektuellen eher bereit, materielle und ideelle Opfer zu bringen. Darüber hinaus eröffnet ein derartiges Szenario dem Präsidenten als Oberstem Befehlshaber und der in seinem Namen handelnden Exekutive einen umfangreichen Gestaltungsspielraum. In diesem Kontext werden unter anderem die grundlegenden Verfassungsprinzipien der staatlichen Sicherheit und der individuellen Freiheit in einem kriegsrechtlichen Rahmen neu bewertet.
Der 11. September 2001 verschaffte dem Präsidenten nicht nur einen Vertrauensvorschuss, er veränderte auch die Ausgangslage und Dynamik der Wahlen. Obschon das Amt des Präsidenten nicht zur Wahl stand, gilt George W. Bush als der Sieger der Zwischenwahlen 2002.
Für Präsident Bush bleibt es im Wahlkampf 2004 oberste Priorität, sich seiner Stammwähler zu versichern - indem er im Kampf gegen den Terrorismus weiterhin die nötige Härte zeigt und in seiner Irakpolitik standhaft bleibt. Tatsächlich hat Bush vielen seiner Landsleute glaubhaft machen können, dass der Waffengang im Irak nur eine weitere Schlacht im langwierigen Krieg gegen den Terrorismus sei.
Das Ergebnis der Zwischenwahlen 2002, die Kommunikation und Legitimation des Waffengangs im Irak 2003 sowie der sicherheitspolitische Rahmen bei den Auseinandersetzungen im aktuellen Wahlkampf verdeutlichen, dass die Anschläge vom 11. September die Wahrnehmung und das Selbstverständnis der amerikanischen Gesellschaft verändert haben. Das Grundvertrauen in die eigene Stärke als einzig verbliebene Supermacht wich dem Bewusstsein der Verwundbarkeit im "Heimatland"
Vertrauen in die Regierung
Obschon der Begriff "government" über Jahrzehnte in den Köpfen der meisten Amerikaner negative Vorstellungen hervorgerufen hatte, wurde die amerikanische Regierung von ihren Bürgern nunmehr merklich positiver wahrgenommen. Eine seit den sechziger Jahren nicht mehr registrierte Vertrauensmarke von 60 Prozent brach mit dem seit damals vorherrschenden Muster eines "confidence gap"
Konventionelle Erklärungsmuster unterstellen eine kausale Beziehung zwischen der Einschätzung der bisher erbrachten Leistung der Regierungsvertreter und dem in sie gesetzten Vertrauen. Danach ist Vertrauen Resultat von Erfahrungen. Da jedoch der 11. September den Erfahrungshorizont auch der amerikanischen Bevölkerung sprengte, dürfte der enorme Vertrauensvorschuss unmittelbar nach den Anschlägen nicht allein auf eine Ex-post-Bewertung des Regierungsverhaltens zurückzuführen sein. Vielmehr brachten die Bürger damit vermutlich vor allem ihre Erwartung zum Ausdruck, dass die Regierung sie schützen werde. Insofern trägt es zum Verständnis dieses Phänomens bei, wenn man zwischen spezifischer und diffuser Unterstützung differenziert. Erstere gründet auf der Zufriedenheit der Bürger mit konkreten Politikinhalten bzw. mit der spezifischen Leistung von Regierungsvertretern; Letztere reflektiert eine allgemeine Einstellung der Bevölkerung gegenüber den politischen Institutionen.
Sowohl der erste als auch der zweite terroristische Anschlag auf das World Trade Center ließen jeweils das Vertrauen der Bevölkerung in die Schutzmacht ihrer Regierung wachsen. Hatte schon der erste Anschlag auf das World Trade Center vom 26. Februar 1993 einen Vertrauensschub bei der Bevölkerung bewirkt, trauten nach den Terrorangriffen vom 11. September fast doppelt so viele Menschen ihrer Regierung zu, das Land vor weiteren Terrorangriffen wirksam schützen zu können.
Präsidentielle Regierung
In Zeiten äußerster Bedrohung kommt dem Präsidenten die Rolle des Schutzpatrons zu. Als Oberster Befehlshaber steht er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Der patriotische Sammlungseffekt des "rally around the flag" bedeutet einen immensen Machtgewinn und Vertrauensvorsprung für den Präsidenten und die Exekutive. Nicht zuletzt symbolisiert das Präsidentenamt die nationale Einheit, gilt das Weiße Haus als Ort der Orientierung, an dem in Krisenzeiten die Standarte hochgehalten wird.
Das schlägt sich auch im Selbstverständnis des Weißen Hauses nieder, denn, so der damalige Pressesprecher Ari Fleischer: "Aufgrund der Art und Weise, wie unsere Nation konstituiert und unsere Verfassung geschrieben ist, liegt die politische Macht in Kriegszeiten hauptsächlich in den Händen der Exekutive."
In der Tat legt eine differenziertere Untersuchung offen, wie sehr die Bevölkerung ihrem Präsidenten nach den Terroranschlägen vertraute (vgl. Tabelle 2). Neben ihm konnte nur seine unmittelbare Umgebung von Amtsträgern der Exekutive auch nach einem zeitlichen Abstand zu den Anschlägen diesen immensen Vertrauensbonus noch auf sich konzentrieren, während die übrigen Volksvertreter und Staatsangestellten in der Gunst der Bevölkerung nach einem kurzen Ausschlag wieder ihre gewohnten Positionen einnahmen.
Diese Tatsache ist umso bemerkenswerter, wenn man sich vergegenwärtigt, wie schwach die Legitimation des Präsidenten durch den Wahlakt im November 2000 gewesen ist. Obwohl es Bush bei den Präsidentschaftswahlen nicht gelang, die Mehrheit der abgegebenen Wählerstimmen (popular vote) zu erreichen, und obwohl auch seine Amtsführung in der Bevölkerung auf geteilte und zunehmend negative Beurteilungen stieß, konnte sich der Präsident seit den Anschlägen auf ein großes - wenn auch tendenziell wieder abnehmendes - Zutrauen seiner Landsleute stützen.
Differenziertere Meinungsumfragen lassen darauf schließen, dass der Vertrauensbonus des Präsidenten überwiegend auf den Erwartungen an seine institutionelle Rolle als Oberster Befehlshaber im Krieg gegen den Terrorismus beruhte.
In dieser Lage wäre die Legislative schlecht beraten, ihr institutionelles Gegengewicht
Schutzbedürfnis der Amerikaner
In den Umfragen direkt nach den Anschlägen vom 11. September artikulierte sich das emotionale Schutzbedürfnis einer terrorisierten amerikanischen Öffentlichkeit, das auch in der Nachfrage nach größerer Sicherheit - auch um den Preis individueller Freiheiten - zum Ausdruck kam. Es ist jedoch anzunehmen, dass sich die Wahrnehmung der Bedrohung mit zunehmendem zeitlichen Abstand und bei Ausbleiben neuer Anschläge weiter relativieren und die amerikanische Öffentlichkeit wieder eine kritischere Haltung einnehmen wird.
Zunächst hatte die Bush-Administration gegen Jahresende 2001 mehr oder weniger freie Hand bei der Wahl ihrer Mittel zur Abwehrder Terrorismusbedrohung: Einer repräsentativen Umfrage im Dezember 2001
Inzwischen ist in der öffentlichen Meinung bereits eine Kehrtwende feststellbar. Während unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September die Zahl derer anstieg, die von der Regierung schärfere Antiterrorgesetze forderten, und analog dazu seltener die Sorge vor exzessiven Eingriffen in die Bürgerrechte durch neue Antiterrorgesetze artikuliert wurde, hatte sich schon neun Monate nach den Anschlägen das Meinungsbild grundlegend verändert: Nur etwa ein Drittel der amerikanischen Bevölkerung blieb besorgt, dass die Regierung keine schärferen Anti-Terror-Gesetze verabschiedet, aber knapp die Hälfte der Amerikaner hegte mittlerweile Bedenken, dass diese Maßnahmen schwerwiegende Eingriffe in die persönlichen Freiheitsrechte darstellen.
Knapp zwei Jahre nach den Anschlägen vom 11. September gehören jene Amerikaner, die fordern, dass die Regierung ungeachtet der Einschränkungen der persönlichen Freiheitsrechte alle notwendigen Maßnahmen ergreifen müsse, um weitere terroristische Anschläge zu verhindern, einer Minderheit (29 Prozent) an. Eine Zweidrittelmehrheit (67 Prozent) würde mittlerweile Maßnahmen ablehnen, wenn sie grundlegende individuelle Freiheitsrechte beeinträchtigten. Im Januar 2002 hielten sich Befürworter und Gegner solcher Maßnahmen noch in etwa die Waage (47 versus 49 Prozent).
Um die eigene Position auf diesem Schauplatz des Kampfes gegen den Terrorismus zu stärken, erwirkte die Bush-Administration die Rückendeckung des Kongresses: Der USA Patriot Act vom 26. Oktober 2001
Dieses Beispiel ist bezeichnend für die in den USA zu beobachtende Tendenz, die Rolle des Gesetzes grundlegend neu zu interpretieren. Justizminister Ashcroft brachte sie im Dezember 2001 vor dem Justizausschuss des Senats deutlich zum Ausdruck: "Herr Vorsitzender, Mitglieder des Ausschusses, wir befinden uns im Krieg gegen einen Feind, der individuelle Rechte ebenso missbraucht wie Passagierflugzeuge: als Waffen zum Töten von Amerikanern. Wir haben darauf reagiert, indem wir den Auftrag des Justizministeriums neu definiert haben. Unsere Nation und ihre Bürger gegen terroristische Angriffe zu verteidigen ist nunmehr unsere erste und vorrangige Aufgabe."
Spannungsverhältnis zwischen Freiheitsrechten und Sicherheit
Das Spannungsverhältnis zwischen persönlichen Freiheitsrechten und Sicherheit betrifft neben zahlreichen Problembereichen des USA Patriot Act,
An den einzelnen Bereichen, in denen die Problematik der Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte vor allem auch internationale Aufmerksamkeit erregte, lässt sich erkennen, dass die Verantwortlichen zwischen zwei Klassen von Rechtsträgern unterscheiden: zwischen amerikanischen Bürgern und "Nicht-Amerikanern". Ungeachtet der verfassungsrechtlichen "due process"- bzw. "equal protection"-Bestimmungen, in denen vom Schutz der individuellen Freiheitsrechte "jeder Person" (any person) die Rede ist, genießen die sich in den Vereinigten Staaten aufhaltenden Ausländer nach Auffassung der Bush-Administration grundsätzlich nicht den gleichen Rechtsschutz wie die Staatsbürger der Vereinigten Staaten. Wenn sie als mutmaßliche Terroristen eingestuft werden, haben sie zudem auch noch diesen "minderen Anspruch" verwirkt. Sie werden gar als Outlaws behandelt, wenn sie sich nicht auf dem souveränen Staatsgebiet der Vereinigten Staaten befinden - wie die gefangenen Taliban- und Al-Qaida-Kämpfer auf dem US-Marinestützpunkt in Guantánamo Bay, Kuba. Die Entscheidung, wer welche Rechte "verdient", wurde a priori von der Exekutive getroffen. Die Bush-Administration versuchte dabei auch, sich der Kontrolle juristischer und parlamentarischer Instanzen zu entziehen. Nicht wenige Beobachter sehen in dieser Praxis aus verfassungsrechtlicher Warte ein gefährliches Wagnis, bei dem die im politischen System der Vereinigten Staaten fest verankerten Prinzipien der "checks and balances" ausgehebelt zu werden drohen.
Hingegen sehen deren Befürworter die außerordentlichen Machtbefugnisse der Exekutive durch die alles überragende Schutzrolle des Obersten Befehlshabers legitimiert. Aus dieser Sicht erscheint es vertretbar, dass in Kriegszeiten das zivile Recht, das stärker den Anspruch auf individuelle Freiheitsrechte betont, zum Kriegsrecht mutiert, in dem der kollektive Sicherheitsaspekt alle anderen überragt. In den verschiedenen Problembereichen lässt sich entsprechend ein gemeinsamer Nenner ausmachen: Es geht weniger um die strafrechtliche Verantwortung einzelner Täter und deren Verfolgung wegen begangener Taten, sondern vielmehr um die allgemeine Verhinderung künftiger Attentate. Denn laut Justizminister Ashcroft war die "Kultur der Hemmung" (culture of inhibition) vor dem 11. September "so stark auf die Strafverfolgung begangener Straftaten fokussiert, dass sie die Prävention künftiger Terroranschläge einschränkte"
Die "Ashcroft-Doktrin" der Prävention,
Die Grenzen zwischen ziviler Strafverfolgung und Prävention einerseits sowie militärischer Operation und Kriegsrecht andererseits verwischen sich zusehends. Insofern hat der sich abzeichnende Paradigmenwechsel in der Interpretation der staatlichen Schutzfunktion nicht nur Auswirkungen auf das Verständnis demokratischer Rechtsstaatlichkeit, sondern auch auf das Funktionieren des politischen Systems sich gegenseitig kontrollierender Gewalten, welches den Schutz der persönlichen Freiheitsrechte gewährleistet.
Gewaltenkontrolle zum Schutz des Einzelnen
Persönliche Freiheitsrechte sollen vor allem durch das Prinzip der "checks and balances", der konkurrierenden, sich gegenseitig kontrollierenden politischen Gewalten der Exekutive, Legislative und Judikative gesichert werden.
Judikative
Nach seinem Blick in die Geschichte hat der Chief Justice jedoch kein allzu großes Vertrauen, dass seine Zunft der Exekutive die zu wahrenden Grenzen unmittelbar aufzeigt: "Wenn die (höchstrichterliche) Entscheidung getroffen wird, nachdem die Kriegshandlungen beendet sind, ist es wahrscheinlicher, dass die persönlichen Freiheitsrechte favorisiert werden, als wenn sie getroffen wird, während der Krieg noch andauert."
Mittlerweile sprach jedoch das Oberste Gericht ein "Machtwort" zum rechtlichen Status des in Afghanistan festgenommenen amerikanischen Staatsbürgers Yaser Esam Hamdi (Hamdi et al. versus Rumsfeld) und zu den Rechtsansprüchen von Nicht-Amerikanern auf dem US-Marinestützpunkt in Guantánamo Bay, Kuba (Rasul et al. versus Bush). Mit diesen Urteilen vom 28. Juni 2004 widersprach der Supreme Court der bisherigen Praxis der Exekutive, wonach diese eigenmächtig und a priori darüber urteilte, wer welche Rechte "verdient", und die Möglichkeit einer Ex-post-Überprüfung durch eine juristische Kontrollinstanz verwehrte. Der Supreme Court verdeutlichte, dass die richterliche Kontrolle exekutiver Entscheidungen ein wesentliches Element des amerikanischen Systems der "checks and balances" ist. Bei der Urteilsfindung ging es um nicht weniger als das Habeas-corpus-Prinzip, das Recht jedes Häftlings in demokratisch verfassten Staaten, die Verfassungs- oder Gesetzmäßigkeit seiner Festnahme vor Gericht anzufechten. Die Richter nahmen nur zur Frage der Gerichtsbarkeit Stellung,
Solange der Krieg gegen den Terrorismus andauert - nach wiederholten Aussagen des Präsidenten und seines Verteidigungsministers also noch lange Zeit -, wird wohl die römische Maxime "inter arma silent leges"
Das Augenmerk richtet sich demnach auf den Kongress, die von der Washington Post und anderen kritischen Medien schon seit längerem geforderte - und auch im Urteil des Supreme Court bestätigte - Kontrollfunktion wahrzunehmen: "Die Exekutive/Administration ist dem Land eine besonnenere Balance schuldig; die Rolle des Kongresses - seine patriotische Aufgabe - ist es, dabei zu helfen, diese zu finden."
Legislative
Nationale wie internationale Organisationen, die sich für die Wahrung der persönlichen Freiheitsrechte einsetzen, wären demnach gut beraten, ihre diplomatischen Aktivitäten auch auf die einzelnen Kongressabgeordneten und ihre federführenden Mitarbeiter zu richten. Entsprechend dem höheren Standing einzelner Abgeordneter im "checks and balances"-System der Vereinigten Staaten nehmen deren Mitarbeiter wichtige Schlüsselpositionen im Gesetzgebungsprozess ein. Nicht zuletzt aufgrund ihrer im Vergleich zu den Abgeordneten längeren Verweildauer im Kongress und ihrer größeren Erfahrung spielen "congressional staffers" eine entscheidende Rolle bei der Sicherung der grundlegenden Kontinuität des politischen Entscheidungsprozesses.
Der amerikanische Kongress ist, anders als etwa der homogenere, geschlossenere und parteidisziplinierte Deutsche Bundestag, eine einzelunternehmerische, stärker wettstreitende Arena, die Außenstehenden weitaus mehr Gelegenheit zur Einflussnahme bietet. Nicht zuletzt hat der Kongress im politischen System der Vereinigten Staaten, anders als die Legislative in parlamentarischen Regierungssystemen, allgemein eine sehr starke, institutionell fundierte Machtstellung gegenüber der Exekutive - ein Machtpotenzial, mit dem freilich in Zeiten nationaler Bedrohung sehr behutsam umgegangen wird.
Denn in Kriegszeiten ist jeder einzelne, in seinem politischen Handeln ansonsten überwiegend nur sich selbst und seinen Wählern verantwortliche Abgeordnete angehalten, Partei für die nationale Sicherheit zu ergreifen. Obschon amerikanische Abgeordnete grundsätzlich keine Parteisoldaten sind, stehen auch sie in solchen Zeiten an der Seite des Obersten Befehlshabers, wenn es darum geht, ihm "patriotische Handlungsbefugnisse" zu geben und ihn bei der "Verteidigung des Heimatlandes" zu unterstützen. Die Sorge um den Schutz individueller Freiheitsrechte und die institutionelle Machtbalance bleibt dabei "notwendigerweise" zweitrangig - solange Gefahr in Verzug ist.
Es überrascht daher nicht, dass der USA Patriot Act, der eine Reihe gravierender Einschränkungen der "civil liberties" zur Folge hat, mit administrativem Hochdruck und ohne großen Widerstand der Abgeordneten durch die legislativen Kanäle auf dem Capitol Hill geschleust werden konnte. Der Handlungsdruck wurde am 11. Oktober 2001 noch zusätzlich erhöht durch eine öffentliche Warnung des FBI vor weiteren terroristischen Anschlägen innerhalb der nächsten Tage. Der Kongress verzichtete in Anbetracht dieser "eindeutigen und gegenwärtigen Bedrohung"
Mit der Verabschiedung des USA Patriot Act gab der Kongress dem Obersten Befehlshaber die von ihm geforderte Rückendeckung im Kampf gegen den Terrorismus. Justizminister Ashcroft ging in seinen Ausführungen vor dem Kongress sogar so weit, Kritik an der Einschränkung der persönlichen Freiheitsrechte in die Nähe des Landesverrates zu bringen: "An diejenigen, die Amerikaner gegen Einwanderer ausspielen und Bürger gegen Nicht-Bürger; an diejenigen, die mit dem Schreckgespenst verlorener Freiheit friedensliebenden Menschen Angst einjagen, richte ich folgende Mitteilung: Ihre Taktiken helfen nur den Terroristen - weil sie unsere nationale Einheit untergraben und unsere Entschlossenheit schwächen. Sie liefern Munition für die Feinde Amerikas und geben unseren Freunden Anlass zu zögern. Sie begünstigen das Verstummen wohlgesinnter Menschen angesichts des Bösen."
Das heißt nicht, dass der Kongress bisher keine Kontrollen erwirkt hätte. Vor allem auch die republikanische Führung des Abgeordnetenhauses sprach sich vehement gegen die Pläne des Justizministers aus, ein Informantensystem einzusetzen, das unter dem bezeichnenden Akronym TIPS (Terrorism Information and Prevention System) firmieren sollte.
Ferner hatten Bibliothekare, Buchhändler sowie Bürgerrechtler und kritische Medienberichterstatter öffentliche Aufmerksamkeit generiert und damit dazu beigetragen, dass im Abgeordnetenhaus ein Änderungsantrag des USA Patriot Act debattiert wurde, der es den Ermittlungsbehörden untersagt hätte, geheime Einsicht in die Ausleih- bzw. Verkaufsunterlagen von Bibliotheken und Buchläden zu nehmen. Doch das Weiße Haus drohte mit einem Veto und übte massiven Druck auf einzelne Parlamentarier aus. Der republikanischen Mehrheitsführung im Abgeordnetenhaus gelang es schließlich - nachdem auch die für die Abstimmung angesetzte Zeit großzügig verlängert wurde -, acht Abgeordnete aus dem eigenen Lager sowie einen Demokraten zu bewegen, ihr ursprünglich geplantes Votum für den Antrag zu revidieren.
Man kann also festhalten, dass sich der Kongress bislang noch nicht als die institutionelle Instanz bewährt hat, die wirksam für eine ausgewogene Balance zwischen staatlicher Sicherheit und individuellen Freiheitsrechten sorgt. Dennoch wurde ein entsprechendes taktisches Potenzial deutlich: Es zeigte sich, dass selbst ein "wartime president" gezwungen ist, auf die Initiative des Kongresses zu reagieren - die jedoch nicht im Widerspruch zur öffentlichen Meinung stehen darf.
Demnach käme dem Kongress im amerikanischen System der "checks and balances" in erster Linie eine Kommunikationsfunktion zu - eine der wichtigsten Funktionen moderner Parlamente schlechthin.
Fazit
Nicht nur das politische Handeln, sondern auch juristische Interpretationen von Verfassungsprinzipien sind an das öffentliche Bewusstsein und angesellschaftliche Wertepräferenzen gebunden. Entsprechend erfahren konkurrierende Werte, wie zum Beispiel die der staatlichen Sicherheit und der individuellen Freiheit, in einer lebenden Verfassung wie jener der Vereinigten Staaten eine kontinuierliche Neubewertung. Die Anschläge vom 11. September haben im kollektiven Bewusstsein tiefe Spuren hinterlassen. Sie bilden den Hintergrund dafür, dass in den Vereinigten Staaten die Schutzfunktion des Staates auf Kosten der individuellen Freiheit an Bedeutung gewinnt.
Neben zahlreichen spezifischen Verfassungsprinzipien spielt das Prinzip der "checks and balances", welches das amerikanische politische System grundlegend kennzeichnet, eine besondere Rolle für die Sicherung individueller Freiheitsrechte. Die nationale Bedrohung verschafft dem Präsidenten jedoch sowohl gegenüber dem institutionellen Gegenspieler Kongress als auch gegenüber der Judikative einen Zugewinn an Macht. Insofern kommt dem Kongress eine besondere Verantwortung zu - zumal, wie die bisherige Erfahrung gezeigt hat, die richterliche Kontrolle in Kriegszeiten eher schwach ausgeprägt ist. Er muss dafür Sorge tragen, dass auch in Zeiten nationaler Unsicherheit individuelle Freiheiten nicht unter Berufung auf das kollektive Schutzbedürfnis über Gebühr eingeschränkt werden.
Vor diesem Hintergrund ist das Verhalten der Abgeordneten als Resultat des Spannungsverhältnisses zwischen politischer Führung und "Responsivität" zu bewerten. Die entscheidende Frage ist, ob gesellschaftlicher Druck - nicht zuletzt motiviert durch kritische Medienberichterstattung (wie im Zusammenhang mit den Foltervorwürfen und Misshandlungen im Militärgefängnis Abu Ghraib)
Die Kongresswahlen 2002, der Waffengang im Irak 2003 sowie der aktuelle Wahlkampf 2004 verdeutlichten einmal mehr die Signifikanz der nationalen Sicherheitsbedrohung und die Sonderstellung des Präsidenten als "Commander in Chief". Es bleibt abzuwarten, inwiefern das allgemeine Kriegsbewusstsein und das Schutzbedürfnis durch weitere Anschläge oder Warnungen genährt werden. Bis auf weiteres besteht die Gefahr, dass der amerikanische Rechtsstaat sich weiterhin zum Sicherheitsstaat entwickelt. Eine Untersuchung der veränderten innenpolitischen Rahmenbedingungen liefert Indizien dafür, dass sich auf amerikanischer Seite ein problematisches nationales wie internationales Rechtsverständnis artikuliert. Diese Entwicklung ist umso prekärer, als der Zustand der amerikanischen, freiheitlich verfassten offenen Gesellschaft aufgrund ihres Vorbildcharakters die weltweite Perzeption demokratischer Rechtsstaatlichkeit und internationale Rechts- und Ordnungsvorstellungen beeinflusst.