"Bonn ist nicht Weimar" – so lautete der ebenso sachliche wie beschwörende Titel eines Essays, den der Schweizer Publizist Fritz René Allemann im Jahr 1956 veröffentlichte. Damit traf er das Selbstverständnis der frühen Bundesrepublik und zugleich ihre leitende Maxime: Bonn durfte keineswegs "Weimar" werden. Ist Berlin schon deshalb in Gefahr, Weimar zu werden, nur weil die Zahl der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien steigt und sich darunter eine populistisch-rechtsnationalistische befindet? So notwendig es ist, Erfahrungen der Geschichte für das politische Urteil zu nutzen, so wenig sinnvoll ist ständiger Alarmismus – populistische Extremisten leben von künstlich erzeugten Bedrohungsszenarien und Untergangsvisionen. Tatsächlich gehört die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu den eindrucksvollsten Beispielen, wie aus der Geschichte gelernt werden kann. Der Parlamentarische Rat 1948/49 und sein Vorgänger, der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, hatten das Scheitern der Weimarer Demokratie ständig vor Augen, war es doch die Voraussetzung für die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur. Aus der Schlüsselfrage "Warum scheiterte die Weimarer Demokratie?" folgt die Forderung, Gefährdungen der Demokratie zu erkennen, ohne sie zu dramatisieren.
Das Weimarer Parteiensystem stand zum einen in der Tradition der politischen Ideologien, die sich seit Aufklärung und Französischer Revolution herausgebildet hatten, zum anderen unter den konstitutionellen Rahmenbedingungen der Weimarer Verfassung. Sie führte ebenso wie die Revolution von 1918/19 zu Modifikationen des Parteiensystems. Wesentlich stärker veränderte es sich allerdings in der Auflösungsphase der Weimarer Demokratie seit 1929/30. Die ideologischen Traditionen des 19. Jahrhunderts bildeten in abgeschwächter Form noch in der Bundesrepublik den Ausgangspunkt der Parteiprogramme und traditioneller Parteibindungen: Sozialismus, Sozialdemokratie, christliche Parteien, Liberalismus, Konservativismus. Dabei dominierte in der Weimarer Republik die Programmatik weitgehend die Pragmatik, was die Bildung stabiler Regierungen ebenso erschwerte wie die Vielzahl von Parteien, die im Weimarer Reichstag vertreten waren – im Höchstfall waren es 14, darunter Splitterparteien oder reine Interessenverbände. Schon darin zeigen sich die Grenzen des Vergleichs, gehören dem heutigen Bundestag doch nur sieben Parteien in sechs Fraktionen an.
Die dominierenden Parteien der Republik, die bereits im Kaiserreich bestanden, waren die SPD, die im Krieg als pazifistische Abspaltung entstandene Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD), das katholische Zentrum, die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) als Nachfolgerin der Konservativen sowie unter anderem Namen die beiden liberalen Parteien, die linksliberale, aus der Fortschrittspartei hervorgegangene Deutsche Demokratische Partei (DDP) sowie die Deutsche Volkspartei (DVP) als Nachfolgerin der Nationalliberalen. Die zunächst einzige echte Neugründung war die Kommunistische Partei (KPD), die aber noch nicht zu den Wahlen am 19. Januar 1919 antrat. Am 5. Januar 1919 kam die antimarxistische, antisemitische, nationalistische und antikapitalistische Deutsche Arbeiterpartei (DAP) hinzu, die sich 1920 in NSDAP umbenannte und ein Jahrzehnt lang Splitterpartei blieb. Die Abspaltung der katholisch-föderalistischen Bayerischen Volkspartei von der Zentrumspartei im November 1918 erwies sich bei einzelnen Entscheidungen, etwa der Reichspräsidentenwahl 1925, als verhängnisvoll. So unterstützte die BVP nicht den Zentrumskandidaten Wilhelm Marx, sondern den antirepublikanischen ehemaligen Chef der Obersten Heeresleitung Paul von Hindenburg. Die Parallele zur Bundesrepublik ist allerdings schon deshalb fragwürdig, weil die beiden echten (überkonfessionellen) Neugründungen von 1945, CDU und CSU, seit 1949 eine Fraktionsgemeinschaft bilden und trotz mancher Querelen gemeinsame Spitzenkandidaten unterstützen.
Generell dominierten in der Weimarer Republik Weltanschauungsparteien mit starker Klassenbindung. Nur die sozial heterogene, aber konfessionell auf den katholischen Volksteil beschränkte Zentrumspartei und in geringerem Maße die überwiegend protestantische DNVP gingen über diese enge Klassenbindung hinaus. Neben den sozialen und konfessionellen Begrenzungen wiesen selbst die größten Parteien starke regionale Schwerpunkte auf. Während sie in manchen der 35 Reichstagswahlkreise absolute Mehrheiten erreichten, waren sie in anderen kaum oder gar nicht präsent. Ideologisch und sozial begrenzte Interessenparteien tun sich in der Regel schwerer, Kompromisse zu schließen, als die in der Bundesrepublik dominierenden großen Integrationsparteien, die programmatisch und faktisch schon innerparteilich zum Kompromiss gezwungen sind.
In der Weimarer Republik äußerte sich die Unfähigkeit zum echten Kompromiss darin, dass fast alle Regierungen schwach und kurzlebig waren, ab 1920 wurde fast mehr laviert als regiert. Vom Februar 1919 bis zum Regierungsantritt Hitlers am 31. Januar 1933 amtierten in 14 Jahren 20 Reichsregierungen. Auch die beiden am längsten amtierenden, die des SPD-Reichskanzlers Hermann Müller 1928 bis 1930 und die ihm folgende des Zentrumspolitikers Heinrich Brüning, waren aus unterschiedlichen Gründen schwach: Das ohne formelle Koalitionsvereinbarung gebildete Mehrparteienkabinett Müller wurde von den gegensätzlichen Partnern SPD und DVP paralysiert. Als Außenminister Gustav Stresemann als die personifizierte Klammer dieser Regierung am 3. Oktober 1929 verstarb, zerbrach sie binnen weniger Monate am Dissens ihrer Flügelparteien über die Frage, ob Arbeitnehmer oder Arbeitgeber ein halbes Prozent Beitragserhöhung zur Arbeitslosenversicherung tragen sollten. Das folgende Präsidialkabinett Brüning besaß keine parlamentarische Mehrheit mehr, wurde jedoch überwiegend von der SPD aus Gründen der Staatsräson toleriert. Im Übrigen hing der Reichskanzler völlig von der Bereitschaft des nicht systemkonform handelnden Reichspräsidenten Hindenburg ab, ihn mit Notverordnungen regieren zu lassen.
Welch seltsame Blüten die mangelnde Kompromissfähigkeit trieb, zeigte sich oft genug: Ein geradezu selbstzerstörerisches Beispiel ereignete sich am 17. November 1928, als die SPD-Fraktion ihren Reichskanzler Hermann Müller dazu zwang, im Reichstag gegen eine Vorlage zu stimmen, die sein eigenes Kabinett zuvor beschlossen hatte. Für nicht wenige Sozialdemokraten war gesinnungstüchtige Opposition wichtiger als verantwortliches Regieren. Dazu trug nicht allein der postulierte Klassencharakter der SPD bei, die unter Führung Friedrich Eberts mehrfach über ihren eigenen Schatten gesprungen war und die Demokratie gerettet hatte, sondern auch die Tatsache, dass keine der Weimarer Regierungen populär war: Nicht ein Regierungsbonus wirkte sich bei Reichstagswahlen aus, sondern ein ausgesprochener Regierungsmalus.
Worin lag der tiefere Grund dafür, dass sich die meisten Parteien mit einer gewissen Ausnahme der Zentrumspartei und der DDP mit dem Regieren schwertaten? Die Kontinuität des Parteiensystems über die Revolution hinaus hatte eine politische und eine personelle Kehrseite: Die Parteien waren in der Regel überaltert, hatten oligarchische Organisationsstrukturen ausgebildet und agierten aufgrund ihrer verfassungsrechtlich begrenzten politischen Möglichkeiten eher destruktiv als konstruktiv. Das konstitutionelle Verfassungssystem des Kaiserreichs hatte den Parteien keinen Einfluss auf die Regierungsbildung zugebilligt; der Reichskanzler war nicht gegenüber dem Reichstag verantwortlich, sondern gegenüber dem Monarchen. Im Konstitutionalismus besaß der Reichstag das Budgetrecht und das Gesetzgebungsrecht, konnte also Regierungsvorlagen ablehnen. An ihrer Entstehung aber war er nicht beteiligt. Opposition war das normale Geschäft, wechselnde Mehrheiten zum Beschluss von Regierungsvorlagen waren die Regel. In gewissen Grenzen dauerte dieser Dualismus von Parlament und Regierung in der Weimarer Zeit fort, weswegen der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel von "Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus" gesprochen hat und der Historiker Karl Dietrich Bracher von Semi-Parlamentarismus. Tatsächlich förderte die Weimarer Verfassung die nur begrenzte Regierungswilligkeit der Parteien. Ein Reichskanzler war lediglich zu seiner Amtsführung, nicht aber für seinen Amtsantritt auf ein mehrheitliches Parlamentsvotum angewiesen.
Der Reichspräsident besaß anders als heute ein materielles Ernennungsrecht und konnte, wie es Hindenburg denn auch mehrfach tat, Reichskanzler berufen, die von vornherein keine Mehrheit besaßen. Der Reichspräsident konnte ihnen Notverordnungen genehmigen und gegebenenfalls den Reichstag auflösen. Diese Kombination präsidialer Rechte stärkte den Reichspräsidenten, schwächte jedoch den Reichstag und den Reichskanzler. Die Verfassungsgeber hatten 1919 einen vermeintlichen "Parlamentsabsolutismus" vermeiden wollen und zusätzlich plebiszitäre Elemente in die Verfassung eingebaut: In der Praxis wirkten sie nie konstruktiv, sondern wurden stets agitatorisch antidemokratisch genutzt, beispielsweise beim Volksbegehren gegen den Young-Plan 1929.
Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben nach dem Zweiten Weltkrieg ein konsequent parlamentarisch-repräsentatives Regierungssystem geschaffen. Gegenüber der Weimarer Verfassung stärkt das Grundgesetz das Parlament und die Regierung und weist den Parteien eine positiv definierte politische Verantwortung zu, während die "Parteienprüderie", so der Rechtswissenschaftler und Weimarer Justizminister Gustav Radbruch, der Weimarer Republik den Parteien zutiefst misstrauisch gegenüberstand. Das Grundgesetz fördert eine stabile Regierung und bindet ihren Amtsantritt konsequent an eine Mehrheit im Bundestag. Dieses hohe Gut gilt es zu bewahren. Deshalb zählt es heute zu den beunruhigenden Symptomen, dass immer wieder Vorschläge zur Schwächung des repräsentativen Systems gemacht werden, beispielsweise durch Plebiszite auf gesamtstaatlicher Ebene. Dabei zeigen die Weimarer Erfahrungen, aber auch aktuelle Phänomene wie der Brexit, in welchem Ausmaß Plebiszite die Stunde der Populisten sind. Nicht zufällig reklamieren extreme Parteien regelmäßig für sich, "das" Volk zu vertreten, sie polemisieren, wie in der Weimarer Republik, auch heute wieder gegen die "Systemparteien", geben sich selbst jedoch als Anti-Parteien aus. Die Polemik gegen die politischen Eliten, gegen die Politiker überhaupt, erwies sich schon in der Weimarer Republik als verhängnisvoll. Und auch hier bedarf es heute der entschiedenen Gegenwehr. Es gibt keine Demokratie ohne Parteien und ohne Politiker.
Dies sind Einsichten von heute. Wie aber sah es in der Weimarer Republik angesichts der "Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus", der nicht optimal agierenden Parteien und einer sie benachteiligenden Verfassungsordnung aus? Trotz dieser Ausgangslage gab es einen verheißungsvollen Start: Die drei Parteien SPD, Zentrum und DDP, die bereits bei der Friedensresolution des Reichstages 1917 und bei der Bildung des Interfraktionellen Ausschusses zusammengearbeitet hatten, vereinbarten nach der Wahl zur konstituierenden Nationalversammlung die sogenannte Weimarer Koalition. Sie war der Versuch, konfessions- und klassenübergreifend zu integrieren. Gemeinsam errangen diese drei Parteien, die den durch Friedrich Ebert vorangebrachten Übergang zur demokratischen Republik sicherten, mit 76,2 Prozent einen überwältigenden Wahlerfolg. Die neue Regierung trat bereits im Februar 1919 unter Führung der SPD, die mit 37,9 Prozent stärkste Partei geworden war, ihr Amt an. Nationalversammlung und Regierung lösten schnell zentrale Probleme: Es wurde eine neue republikanische und demokratische Verfassung beschlossen, ein Wahlgesetz gemäß dem Verhältniswahlrecht erarbeitet, gegen extreme Widerstände die – alternativlose – Annahme des Friedensvertrags von Versailles durchgesetzt, eine Reichsfinanzreform durchgeführt, und schließlich wurden wichtige sozial- und arbeitsrechtliche Gesetze beschlossen. Diese außergewöhnlichen Leistungen erbrachten Parlament und Regierung in weniger als 18 Monaten, trotz ständiger Unruhen, des Kapp-Putsches 1920, steigender kriegsbedingter Inflation und weiterer massiver Kriegsfolgelasten. Keine der schweren Belastungen hatte die Republik von Weimar selbst verursacht, alle waren sie vielmehr vom Kaiserreich geerbt, das den Krieg geführt und verloren hatte. Würde man die Weimarer Republik nicht stets von ihrem Untergang her beurteilen, so müsste man ihr großartige Leistungen binnen kürzester Zeit attestieren – Leistungen, die unter Führung der demokratischen Parteien erbracht wurden. Das galt auch für spätere Erfolge, vor allem für Gustav Stresemanns Locarno-Politik der Aussöhnung mit den Siegermächten und die Einbeziehung des Deutschen Reiches in eine allgemeine europäische Verständigungspolitik.
Und doch: Kaum eineinhalb Jahre nach dem grandiosen Wahlsieg verloren die drei Weimarer Parteien die erste Reichstagswahl am 6. Juni 1920 katastrophal. Die Republik hätte Zeit gebraucht, um die vielen Probleme zu bewältigen – Zeit, um den Bürgerinnen und Bürgern die Legitimität der neuen Verfassungsordnung und Staatsform sowie ihre politische und ökonomische Leistungsfähigkeit zu dokumentieren. Diese Zeit hatte die Weimarer Republik nicht. Eine Krise folgte der anderen, die massive Vermögensumschichtung infolge der Hyperinflation 1923 löste "Panik im Mittelstand" aus, so der Soziologe Theodor Geiger. Die Lasten, die der Versailler Vertrag 1919 neben der moralischen Verurteilung den Deutschen auferlegte, wurden immer weniger akzeptiert. Zum Ziel innenpolitischer Restauration kam außenpolitischer Revisionismus. Den verantwortlich handelnden Politikern wurde wahrheitswidrig die Niederlage in die Schuhe geschoben. Es wurde eine "Dolchstoßlegende" konstruiert. Der spätere Reichspräsident von Hindenburg, selbst Hauptverantwortlicher der militärischen Führung, beteiligte sich daran. Diejenigen Politiker, die versuchten, den Vertrag zu erfüllen und mit den alliierten Siegern zu verhandeln, wurden als "Erfüllungspolitiker" diffamiert. Das politische Klima wurde durch Rechtsextremisten vergiftet, die zahlreiche politische Morde zu verantworten hatten. Zu deren Opfern zählten unter vielen anderen der zeitweilige Reichsfinanzminister Matthias Erzberger (Zentrum) und Reichsaußenminister Walther Rathenau (DDP). Dieser wurde nicht zuletzt deshalb diffamiert, weil er jüdischer Herkunft war. Die beiden bedeutendsten Staatsmänner der Weimarer Republik, Friedrich Ebert und Gustav Stresemann, wurden durch den ständigen Kampf gegen Diffamierungen zermürbt und starben früh.
Am Kampf gegen die Republik beteiligten sich gleichermaßen Links- wie Rechtsintellektuelle. Auch wenn es den demokratischen Parteien nicht gelang, eine republikanische politische Kultur mehrheitsfähig zu machen, so kann man ihnen die Verantwortung dafür nicht allein anlasten. Wesentliche Gründe für ihre Probleme resultierten aus der Verfassung und dem Wahlrecht, die sie allerdings 1919 selbst beschlossen hatten. Die Weimarer Republik wurde in einem mehrfachen Systemwechsel gegründet, wozu der Wechsel der Staatsform von der verherrlichten und durchaus erfolgreichen Vorkriegsmonarchie zur Republik ebenso zählte wie der Wechsel des Regierungssystems vom konstitutionellen zum (semi-)parlamentarischen. Schließlich kam 1918/19 ein partieller, insgesamt unvollendeter Wechsel von Funktionseliten hinzu. Eine derart komplexe und fundamentale Zäsur kann nur durch schnelle Erfolge die Anerkennung einer allgemeinen Mehrheit erreichen. Dafür fand sich hingegen schon 1920 nur noch eine Minderheit. Demgegenüber sind hohe Zustimmungswerte in der Bundesrepublik seit Langem die Regel. 2018 halten laut dem Meinungsforschungsinstitut Emnid 86 Prozent der Deutschen die Demokratie für die beste Regierungsform.
Die mangelnde Krisenlösungskapazität der Weimarer Verfassungsordnung und das hilflose und fehlerhafte Agieren der Parteien in der schwersten Krise der Weimarer Demokratie ab 1929/30 waren nicht ausschließlich durch Konstruktionsmängel des Regierungs- und Parteiensystems erklärbar. Dieses wurde durch eine extrem hohe Erwerbslosigkeit mit Verarmung von nahezu 40 Prozent der Bevölkerung vor eine kaum zu bewältigende Herausforderung gestellt. Gerade systemkonforme Parteien können eine Zeit lang, aber nicht dauerhaft ohne Mehrheit in der Bevölkerung agieren.
War also der Untergang der Demokratie 1930 bis 1933 zwangsläufig? Keineswegs. So war ihr gefährlichster Feind, die NSDAP, bis 1930 eine Splitterpartei mit nur 2,6 Prozent der Stimmen auf Reichsebene. Die verfehlte, geradezu dilettantische Auflösung des Reichstages im Sommer 1930, für die Reichskanzler Brüning (Zentrum) ebenso wie die SPD-Fraktion verantwortlich waren, zog die erst für 1932 anstehenden Wahlen in die schwerste Wirtschaftskrise der Republik vor und ließ die NSDAP am 14. September 1930 auf 18,3 Prozent anschwellen. Da die ebenfalls systemfeindliche KPD immerhin 13,1 Prozent erreichte und die DNVP 7 Prozent, rückte der antidemokratische Teil des Reichstages gefährlich nahe an die Mehrheit heran, ohne dass dieses Warnzeichen verstanden worden wäre. Die nächste Neuwahl am 31. Juli 1932 erbrachte eine Obstruktionsmehrheit der totalitären Parteien NSDAP und KPD, während die politische Mitte zerrieben wurde. Für diese Neuwahl trugen bereits Hindenburg, seine Entourage und der Reichskanzler Franz von Papen die Verantwortung. Bis zum Ende der Republik bestanden also Alternativen. Doch sogar in ihrer existenziellen Bewährungsprobe, während der sich Verfassungskrise und Wirtschaftskrise wechselseitig verschärften, vermochten es die schon außerordentlich geschwächten demokratischen Parteien nicht, einen Kompromiss zu finden, der sie bis zur regulären Reichstagswahl 1934 gerettet hätte – bis zu einem Zeitpunkt, an dem sich in fast allen Staaten Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit abschwächen sollten.
Will man die Weimarer Republik gerecht beurteilen, ist ein Blick über die Grenzen hilfreich. Und dieser Blick ist ernüchternd: Kaum eine der nach dem Ersten Weltkrieg neugegründeten Demokratien überlebte die europäische Krise des Parlamentarismus, in fast allen ergriffen schon seit den 1920er Jahren autoritäre, faschistische oder militaristische Diktaturen die Macht. Auch jetzt ist wieder ein europäischer Vergleich angebracht: Heute zählt die Bundesrepublik weltweit zu den stabilsten Demokratien, in kaum einem Staat sind nationalistische Populisten vergleichbar schwach. Die Bundesrepublik zählt zu den wenigen Staaten, in denen die derzeitige Renationalisierung beziehungsweise ein auflebender Nationalismus keine Breitenwirkung erlangt haben, was nicht zuletzt auf den antitotalitären Grundkonsens in der Bundesrepublik und ihre nachhaltige Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur zurückzuführen ist. Wie wesentlich es ist, die Jugend zu gewinnen, dafür bietet die Weimarer Republik ebenfalls ein warnendes Beispiel: Den überalterten demokratischen Parteien standen nur zwei gegenüber, deren Funktionäre, Mitglieder und Wähler überwiegend jung waren, die NSDAP und die KPD: Sie vermittelten scheinbar Zukunftsperspektiven und Aufbruchsstimmung, die heutigen Nationalisten aber Untergangsstimmung.
Alles in allem gibt es derzeit keine Indizien für eine vergleichbare Gefährdung der Demokratie. Die Verfassungsordnung des Grundgesetzes gewährleistet die größtmögliche Stabilität der Regierungen und gemeinsam mit dem Wahlrecht die Bildung von Mehrheiten im Bundestag. Sie verbindet Verhältniswahl und Persönlichkeitswahl und erschwert zusätzlich mittels der Fünfprozenthürde den Einzug in den Bundestag. Auch diese Regelungen sind der Lehre aus den Weimarer Verhältnissen geschuldet. Anders als die Weimarer Republik gelangte die Bundesrepublik nicht zuletzt dank einer liberalen und sozialen Marktwirtschaft überraschend schnell zu Erfolgen in nahezu allen Sektoren. Schon nach wenigen Jahren akzeptierte die große Mehrheit der Bevölkerung den neuen Staat. Diese Entwicklung ist wesentlich der Politik der Regierungen Adenauer sowie der klaren Zielorientierung und politischen Durchsetzungskraft des 14 Jahre amtierenden Bundeskanzlers zu verdanken. Auf diesem Fundament ruhte künftig die Stabilität der demokratischen Ordnung in der Bundesrepublik. Die Zahl der im Bundestag vertretenen Fraktionen beziehungsweise Gruppen verminderte sich von 1949 zehn bis 1961 auf drei, bevor sie sich seit 1983 durch die zunächst nicht systemkonformen Grünen wieder auf vier erhöhte. Doch wurden auch sie schließlich eine "normale" regierungsfähige Partei.
Die extreme Polarisierung des Freund-Feind-Denkens der Weimarer Jahre (und der NS-Diktatur) existiert heute nicht mehr – eher das Gegenteil einer zu großen Ähnlichkeit der großen Parteien, die klare politische Alternativen verwischt. Es ist schädlich für eine demokratische Kultur, selbstverständliche Kontroversen pejorativ zum "Parteienstreit" abzuqualifizieren. Auch ist Kritik an geradezu obrigkeitsstaatlich anmutender staatlicher oder europäischer Regelungswut nicht systemwidrig, sondern indiziert die Einschränkung unverzichtbarer liberaler Grundprinzipien und individueller Selbstverantwortung.
Ein weiterer Vergleich ist aufschlussreich: Die ökonomisch stark geschwächte Weimarer Republik konnte die riesigen sozialen Probleme von sechs Millionen Erwerbslosen und ihren Familien nicht lösen, was sie in die Fänge der extremen Parteien trieb. Die wirtschaftlich starke Bundesrepublik konnte sowohl die Jahre mit ungefähr fünf Millionen Arbeitslosen sowie die schwere Banken- und Finanzkrise relativ gut bewältigen. Haushaltssanierung ist also alles andere als ein Selbstzweck, vielmehr ermöglicht sie einem finanziell stabilen Staat in schweren wirtschaftlichen Krisen die notwendige soziale Abfederung. Gelingt das nicht, dann erodieren selbst scheinbar gefestigte Parteiensysteme, wie die Wahlen am Ende der Weimarer Republik sowie in hochverschuldeten Staaten in den vergangenen Jahren demonstrieren – dann schlägt die Stunde der Populisten, die vorgeben, einfache Lösungen für komplexe Probleme zu haben.
Aus der Geschichte der Weimarer Republik kennen wir transnationale Radikalisierungen, die buchstäblich in andere Staaten überschwappen. Insofern ist die Krise der parlamentarischen Demokratien im Europa der Zwischenkriegszeit ein Menetekel. Angesichts der engen europäischen Verflechtung ist das ständige Anwachsen nationalpopulistischer, gelegentlich auch linkspopulistischer Bewegungen in anderen EU-Mitgliedstaaten bedrohlich auch für die stabilen Demokratien: Inseln der Seligen lassen sich kaum bewahren, wenn benachbarte Demokratien gefährdet sind oder gar einstürzen.
Dieser Beitrag erschien erstmals in: Andreas Wirsching/Berthold Kohler/Ulrich Wilhelm (Hrsg.), Weimarer Verhältnisse? Historische Lektionen für unsere Demokratie, Ditzingen 2017.