Einleitung
"Komm und träume mit uns von einer Insel, einer Welt mit Wasser im Überfluss, mit natürlichen Ressourcen, die sich ständig erneuern, mit sauberer Energie und unberührter Natur, wo der Mensch in Harmonie mit der Umwelt lebt. / Komm und träume mit uns von einer Insel an der Grenze der bewohnbaren Welt, vom Golfstrom umarmt, von Thermalwasser erwärmt und von Vulkanen beheizt. / Komm und träume mit uns von einer Insel der Neuzeit, mit modernster Technologie und althergebrachten Traditionen, einer Insel mitten zwischen der Alten und der Neuen Welt. / Komm und träume mit uns von Island, wo Träume wahr werden." (Island-Werbung auf der EXPO 2000)
Wer hätte nie von einem solchen Ort geträumt? Der Island-Tag auf der EXPO 2000 in Hannover war ein großer Erfolg für das kleine Land, dessen pragmatisches Dichtervolk ständig bestrebt ist, Immanenz und Transzendenz zu vermischen: "Wie Fußspuren am Himmel. Wie Träume auf der Erde." Der isländische Ausstellungspavillon - ein an seinen Außenwänden ständig mit sanft herabströmendem Wasser bedeckter blauer Kubus - wurde als materialisierte Poesie bestaunt und versetzte die Besucherinnen und Besucher in eine meditative Stimmung.
Königliche Hoheiten hat dieses von Wasser umgebene und von Fischereierträgen abhängige Nordland mit 1100-jähriger Geschichte nicht zu bieten, aber der Präsident der Republik Island, O'lafur Ragnar Grímsson, warb höchstpersönlich für den Inselstaat, der bis 1944 zum dänischen Königreich gehörte und dessen Unabhängigkeitsbewegung von Poeten und Literaten geführt wurde. Früher hat Grímsson als Politikprofessor die isländische Machtstruktur analysiert und war Vorsitzender einer (linken) politischen Partei. Heute repräsentiert er einen modernen Staat, der den Tourismus fördert und dabei an die Sehnsüchte gestresster, naturverbundener und reisefreudiger Menschen appelliert. Denn manchmal kommen die Fische nicht so zahlreich; dann sind Touristen wichtig, die Devisen bringen.
Das kleine Island muss Geld verdienen, um als Staat zu überleben. Die erst vor 60 Jahren gegründete Inselrepublik will das "gelobte Land" in den eigenen Grenzen schaffen. Besonders Ende des 19. Jahrhunderts wanderten viele Verarmte und Glückssuchende nach Nordamerika aus. Heute steht Island an siebter Stelle in der UNO-Liste der Länder, in denen es sich am besten lebt. Sie wird seit mehreren Jahren von Norwegen angeführt, von wo die ersten Siedler der Nordmeerinsel stammten.
Im Mittelalter war Island für viele ein "Traumland": In der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts gelangten Berichte nach Norwegen, die von einem großen, unbewohnten Eiland weit draußen im Ozean erzählten, einer Insel mit üppigen Schafweiden und einem Überfluss an Fischen, Seehunden und Wasservögeln. Die größeren Landbesitzer betrachteten die Auswanderung als Möglichkeit, dem Untertanendasein zu entgehen. Auch viele Kleinbauern waren interessiert. So segelten ab 870 Tausende von Pionieren (allen voran der legendäre Ingólfur Arnarson, der Gründer von Reyjkavík) westwärts, und später kamen viele Menschen aus Schottland und Irland hinzu. 930 gründeten die Wikinger dort ein unabhängiges Staatswesen, einen Freistaat ohne König. Diese erste Republik bestand bis zum 13. Jahrhundert, als Island zunächst unter norwegische und später unter dänische Herrschaft geriet und zu einer Kronkolonie degradiert wurde. "Iceland is the first 'new nation' to have come into being in the full light of history, and it is the only European society whose origins are known." Die Erhaltung der mit friedlichen Methoden erlangten Souveränität ist für die selbstbewusste Bevölkerung von größtem Wert.
NATO-Stützpunkt mit Osthandel
Zwei einschneidende Ereignisse stehen am Anfang der Geschichte der Republik Island: der Beitritt des Landes zur NATO 1949 und die Erlaubnis an die Amerikaner, auf der Insel einen Stützpunkt einzurichten. Im Gegenzug sollte das kleine Land, das sich keine eigenen Streitkräfte (außer dem Küstenschutz) leisten kann, im Ernstfall von amerikanischen Soldaten verteidigt werden. Die Amerikaner hatten die Insel als Ablösung britischer Truppen während des Zweiten Weltkrieges "beschützt", beteiligten den strategisch wichtigen Staat am Marshallplan und betreiben ihre US Naval Air Station, seit dem Ende des Kalten Krieges mit verringertem Personal, noch heute: in Keflavík westlich von Reykjavík, der "rauchenden Bucht".
Die beiden stark umstrittenen Entscheidungen wurden auch in literarischen Werken thematisiert. Im weltberühmten Nachkriegsroman des Literaturnobelpreisträgers von 1955 Halldór Laxness, "Atomstation", geht es um die Befürchtung, dass die Amerikaner ihre Airbase mit Nuklearwaffen ausrüsten würden. In "Engel des Universums" von Einar Már Guðmundsson wird die tumultartige Protestdemonstration auf dem Platz (Austurvöllur) vor dem Parlament (Althing) in Reykjavík am Tag der Entscheidung über den NATO-Beitritt am 30. März 1949 erwähnt: "Mein Geburtstag war ein historischer Tag. Ich wurde begrüßt mit Steinwürfen und Tränengas. Volk und Polizei prügelten sich. Scheiben im Thinghaus gingen zu Bruch. Eier und Steine flogen durch die Luft. Ein Thingmitglied erlitt eine Hautabschürfung am Arm. Ein anderes bekam eine Glasscherbe ins Auge. Als die Polizei die Lage nicht mehr zu beherrschen glaubte, trotz Ersatzmannschaften und starker Truppen von Freiwilligen, wurde Tränengas eingesetzt am Austurvöllur. Rauchwolken stiegen auf, wie sie der Landnahmemann Ingólfur gesehen hatte, als er nach Kennzeichen spähte, um diesem Ort einen Namen zu geben."
Die kommunistischen Abgeordneten von der Sozialistischen Einheitspartei, die sich später in Volksallianz umbenannte und ab 1987 eine Zeitlang vom heutigen Staatspräsidenten geführt wurde, stimmten erwartungsgemäß gegen den NATO-Beitritt und die amerikanische Militärpräsenz. Seitdem geht es auf den Straßen der nördlichsten Hauptstadt Europas friedlicher zu - auch am 1. Mai, an dem die Menschen sowohl ihr ökonomisches Überleben als auch die immer wieder bedrohte soziale Sicherheit thematisieren ("Wohlfahrt für alle"). Nach dem Absingen der "Internationale" wird das schöne Lied "Maístjarnan" (Der Maistern) mit einem Text von Laxness (der mit den Kommunisten sympathisierte, aber nie Mitglied war) von 1937 angestimmt, das der Komponist Jón Asgeirsson 1981 vertont hat. Die letzte Strophe lautet: "Für den Arbeiter endet heut die eisige Zeit, morgen scheint ihm die Sonne, denn der Mai ist bereit, und auch uns scheint die Sonne unsres einenden Bands, für dich trage ich die Fahne dieses zukünftigen Lands."
In den von der Bevölkerung unterstützten "Kabeljaukriegen", die Island seit den fünfziger Jahren vor allem gegen den NATO-Partner Großbritannien geführt hat, kommen beide Aspekte des Überlebenskampfes zusammen: die Verteidigung der Fischereigrenzen gegen Eindringlinge (die Exklusivzone beträgt seit Mitte der siebziger Jahre 200 Seemeilen) und der Kampf um die ökonomische Existenz des Landes, die bis heute zum Großteil auf Fisch basiert. Kabeljau ist der "goldene Brotfisch", und etwa die Hälfte des isländischen Nationaleinkommens wird mit Fischfang verdient. Maritime Produkte machen ungefähr drei Viertel des Exports aus. Der Außenhandel ist in der Nachkriegszeit unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass die Verluste durch den britischen Boykott isländischer Waren durch Handelsbeziehungen zur Sowjetunion ausgeglichen werden konnten und sich Europa seit den siebziger Jahren zu einem wichtigeren Absatzmarkt entwickelt hat als die USA. Auch Japan ist ein guter Abnehmer für isländischen Fisch.
Der größte Handelspartner ist die Europäische Union, der die Isländer bis heute nicht beigetreten sind: "Zwischen Island und der EU liegen der Himmel und das Meer." Es gibt mehr als nur ökonomische Gründe, weshalb die Regierung des EFTA-Mitglieds Island niemals ernsthaft einen EU-Beitritt erwogen hat. Nur die Sozialdemokraten sprachen sich ausdrücklich dafür aus, bevor sie - seit 1995 wieder in der Opposition - durch ihr Wahlbündnis mit den Sozialisten und der Frauenliste 1999 zu leiseren Tönen bewegt wurden, um die gemeinsame Machtstrategie nicht zu gefährden.
Zu einem institutionellen Kräftemessen hätte es Anfang der neunziger Jahre vor dem Eintritt Islands in den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) kommen können, wenn Staatspräsidentin Vigdís Finnbogadóttir während des Gesetzgebungsprozesses nicht auf ihr Vetorecht verzichtet und die Regierungsvorlage akzeptiert hätte. Inzwischen ist eingetreten, was viele Isländer, auch Parlamentsabgeordnete, befürchtet hatten: Das Althing "is increasingly impotent in the legislative process. Government ministers dominate it. So does the government bureaucracy, interest groups, and - last but not least - the EEA [EWR]." Der Ratifizierung gingen kontroverse Debatten im Althing voraus - beide politischen Lager waren in sich gespalten. Die Beteiligung Islands am EWR ist eine Streitfrage, die quer zur in der pragmatischen politischen Kultur des Landes allerdings ohnehin nicht besonders prägnanten Links-rechts-Achse liegt.
Politische Kultur mit tradierten Werten
Die Auswanderungswellen nach Nordamerika verebbten, als mit der Mechanisierung der Fischerei die Aussicht auf Arbeit und bessere Überlebensmöglichkeiten im eigenen Land entstand. In der Gegenwart sind nur noch etwa zehn Prozent der Erwerbstätigen in diesem Wirtschaftssektor beschäftigt. Heute geht es um mehr als ums bloße Überleben, und die Präsenz der Amerikaner, deren Konsumkultur in den sechziger Jahren über den Fernsehsender ihrer Basis in die isländischen Wohnzimmer ausstrahlte, weckte bei den Einheimischen starke Wünsche nach amerikanischer Lebensart.
Die beiden Romane des Kultautors Einar Kárason "Törichter Männer Rat" und "Die isländische Mafia" beschreiben die unermüdliche Betriebsamkeit zur Verwirklichung von großen Konsumträumen und zeichnen ein "herzhaft komisches Sittengemälde von Dallas am Rande von Reykjavík" - so der Werbetext für diese "moderne Familiensaga". Wurde früher um reichlich Fisch gebetet, so seufzen die isländischen Kinder nun "Lieber Gott, gib uns Kaugummi". Die Männer des Inselreiches träumen von großen geländegängigen Autos: "The spirit of Iceland: hard work and big cars." Die isländischen Frauen haben andere Vorstellungen, denn sonst hätte es keine derart erfolgreiche Frauenpartei gegeben. Die ehemalige Staatspräsidentin Finnbogadóttir - Romanistin und vor ihrer Wahl Theaterdirektorin - empfahl sie allen Ländern: "Man braucht eine solche Partei."
Als Gründungs- und Nationalfeiertag der Republik Island wurde mit dem 17. Juni der Geburtstag von Jón Sigurðsson gewählt, der im 19. Jahrhundert die (gewaltlose) Unabhängigkeitsbewegung der dänischen Kolonie anführte. Er war Präsident des Mitte des 19. Jahrhunderts wieder eingesetzten Althing sowie Vorsitzender der Isländischen Literarischen Gesellschaft in Kopenhagen. Eine Statue dieses Politikers und Philologen steht auf dem Reykjavíker Austurvöllur, dem Platz vor dem 1881 erbauten Parlamentsgebäude: Das Althing befindet sich neben der Domkirche, dem institutionellen Mittelpunkt des christlichen Glaubens, der auch in der Nationalhymne zum Ausdruck kommt: "Oh Gott, du unsres Islands Herr".
In Island herrschen Nonchalance und Skepsis gegenüber Autoritäten. Politikerinnen und Politiker werden wie alle Mitbürger mit ihrem Vornamen angesprochen und geduzt, auch das Staatsoberhaupt. Dessen Residenz in Bessastaðir ist allgemein zugänglich. Deshalb erscheint die Szene in Guðmundssons Roman "Engel des Universums" keineswegs aus der Luft gegriffen, in der Psychiatriepatient Óli vom Präsidenten empfangen wird und ihn ernsthaft fragt, ob er nicht dessen Nachfolger werden könne. Der stimmt lachend zu, und sein Besucher fährt fort: "Sag mal, da ich ja nach dir Präsident werde, meinst du nicht, es wäre in Ordnung, wenn ich den Wagen etwas früher kriege?"
Autonomie, Eigenständigkeit und Selbstbestimmung sind die weit über das nationale Unabhängigkeitsstreben hinausgehenden obersten Werte der Bevölkerung. Sie konnten am erfolgreichsten von der konservativen Partei in Stimmen umgemünzt werden, der Unabhängigkeitspartei von Davið Oddsson, die seit 1991 ununterbrochen regiert. In der egalitär orientierten Inselrepublik wird die Demokratie sehr geachtet, doch "im Allgemeinen sind die Isländer pragmatisch, mehr damit beschäftigt Geld zu verdienen als Prinzipien zu diskutieren".
Parlament, Präsident und Parteien
Island ist eine parlamentarische Demokratie mit einer semipräsidentiellen Verfassung und einer Tradition, die bis ins "goldene Zeitalter" des von 930 bis 1262 bestehenden Freistaates zurückreicht, als das Althing in Thingvellir die höchste politische Instanz - zugleich Parlament und Gerichtsort - war. Schon die ersten Siedler hatten mit dem historischen AlÞingi Recht und Gesetz an die erste Stelle ihres Staatswesens gesetzt. Ihr Versammlungsort Thingvellir, bis 1798 Hauptversammlungsort der Nation, ist ein beliebtes Touristenziel. Dort wurde im Jahr 1000 das Christentum als Staatsreligion angenommen. Heute steht das Althing im Zentrum der Politik. Die Abgeordneten haben seit dem Eintritt Islands in den EWR zunehmend Gesetze abzusegnen, die aus Brüssel stammen. Die Wahlbeteiligung betrug in der Nachkriegszeit siebenmal über 90 Prozent (2003: 87,7 Prozent). Das Wahlrecht wurde zur Jahrtausendwende zum wiederholten Mal revidiert, denn es hatte die ländlichen Stimmbezirke bevorzugt, so dass lange Zeit die Bauernschaft bzw. die agrarische Fortschrittspartei überrepräsentiert war. Außerparlamentarische Aktionen beschränken sich weitgehend auf friedliche Protestmärsche nach Keflavík, wo gegen "die Basis" demonstriert wird - auch die ehemalige "Präsidentin Vigdís" beteiligte sich vor ihrer Amtsübernahme daran.
Präsident Grímsson trat im Juni 2004 nach seiner Wiederwahl seine dritte Amtszeit an. (In Island wird der Präsident direkt gewählt.) Ministerpräsident Oddsson von der Unabhängigkeitspartei, Regierungschef seit 1991, übergab im September 2004 sein Amt (wie nach der Althingswahl 2003 verabredet, bei der die Konservativen sieben Prozent der Stimmen verloren hatten) an Außenminister Halldór Ásgrímsson von der seit 1995 mitregierenden Fortschrittspartei. Das Jahr 2004 hatte mit einem Fauxpas der Regierungskanzlei begonnen, der auf den laxen Umgang mit Autoritäten auch innerhalb des Institutionensystems hinweist. Dänemark hatte Island 1904 das Recht auf Selbstverwaltung zugestanden. Oddssons Mitarbeiterstab bereitete die Feierlichkeiten anlässlich von "100 Jahren Heimatrecht" vor. Man "vergaß" dabei aber, das Staatsoberhaupt einzuladen; "Präsident Ólafur" war am Tag der Zeremonie (Kranzniederlegung am Grab des ersten einheimischen "Islandministers" und Poeten Hannes Haftstein) außer Landes. Zu einem ernsteren Konflikt kam es im Juni 2004, als 60 Jahre nach der Gründung der Republik ihr Präsident zum ersten Mal von seinem Vetorecht gegen ein GesetzGebrauch machte: Grímsson wies den Entwurf für das so genannte "Mediengesetz" zurück, das den gleichzeitigen Besitz von Print- und Funkmedien untersagt. Schließlich wurde erganz zurückgezogen, so dass es nicht zur im Vetofall vorgeschriebenen Volksabstimmung über den Gesetzentwurf kam.
Das isländische Parteiensystem hat sich stark gewandelt. Von den fünf alten Parteien - der vor der Republikgründung entstandenen sozialdemokratischen (1916), bäuerlichen (1916), konservativen (1929) und kommunistischen/sozialistischen (1930) Partei - sowie der Frauenliste (1983) bestehen heute nur noch die konservative Unabhängigkeitspartei, die trotz großer Verluste auch bei der letzten Althingswahl am besten abschnitt (2003: 33,7 Prozent), und die agrarische Fortschrittspartei (17,7 Prozent). Eine liberale Partei gibt es erst seit Ende der neunziger Jahre (7,4 Prozent). Sie entstand aus Protest gegen die Konzentration der Fischfangquoten bei weniger als einem Dutzend Unternehmen, die rund 70 Prozent aller Fischereirechte halten. Die im Mai 2000 gegründete linke Allianzpartei (31,0 Prozent), in der die für skandinavische Verhältnisse immer relativ schwache sozialdemokratische Volkspartei, die vergleichsweise starke sozialistische Volksallianz und die Frauenliste aufgingen, die 1999 schon als Wahlbündnis angetreten war, hat die soziale Gerechtigkeit zum Wahlkampfthema gemacht. Sie prangerte die zunehmende Verarmungstendenz im Wohlfahrtsstaat an und kritisierte, dass die Regierung zu wenig gegen die wachsenden Einkommensunterschiede unternommen habe. Die isländische Frauenbewegung gründete 1983 einepolitische Partei. Eines ihrer wichtigsten Ziele hatte die Frauenliste erreicht: die Erhöhungder parlamentarischen Repräsentanz von Frauen auf 34,9 Prozent (1999). Seitdem ist der Frauenanteil an den Althingsabgeordneten wieder gesunken.
In der linksgrünen Partei (8,8 Prozent) schlossen sich die stärker ideologisch orientierten Linken aus der sozialistischen und der feministischen Partei mit den bisher erfolglosen Grünen zusammen, die nicht am sozialdemokratischen Gemeinschaftsprojekt teilnehmen wollten. Die Linksgrünen, die 1999 mit sechs Abgeordneten ins Parlament einzogen, verteidigen den offiziell proklamierten Traum von der unberührten Natur Islands und opponierten im Althing gegen das Regierungsprojekt, bei Kárahnjúkar im nordöstlichen Hochland ein Wasserkraftwerk zu bauen, das die geplante Aluminiumfabrik in Reyðarfjörður mit Energie versorgen soll. Sie lehnen die NATO-Mitgliedschaft und einen EU-Beitritt ihres Landes deutlich ab und befürworten bilaterale Handels- und Kooperationsverträge. Insgesamt wollen sie das im Frühlings- und Arbeiterlied "Maístjarnan" ersehnte Land der Zukunft durch eine Kombination von sozialer, ökologischer und feministischer Politik erreichen. Die Fahne, die sie für ihr Traum(is)land tragen wollen, soll rot, grün und lila sein mit einer weißen Friedenstaube.
Als Reaktion auf Kritik an ihrer Machtfülle haben die großen Parteien bereits in den siebziger Jahren "open primaries" eingeführt, bei denen auch Nichtmitglieder entscheiden dürfen. Die Bedeutung der Parteimitgliedschaft hat sich durch die Einführung einer staatlichen Parteienfinanzierung weiter verringert. Die Kritik an den Parteien bezog sich auf ihre alle gesellschaftlichen Bereiche umfassende Macht. Bis Ende der fünfziger Jahre wurden die wichtigsten Institutionen von einer kleinen Gruppe von Personen kontrolliert, deren Kern die Parteiführer bildeten. Diese (männlichen) Machthaber hatten de facto die dänische Obrigkeit abgelöst und hintertrieben eine wirkliche Gewaltenteilung. Die politische Elite dominierte auch das ökonomische Establishment. Das begann sich erst zu ändern, als der öffentliche Dienst, juristische Institutionen, der Wirtschafts- und Finanzsektor (v. a. einige große Unternehmen und die früher staatlichen Banken) sowie die Zeitungen durch zunehmende Professionalisierung von den Parteien unabhängiger wurden. Die Entwicklung setzt sich bis heute fort. Sie entzieht klientelistischen Parteien die Möglichkeit zur Patronagepolitik.
Perspektiven für eine eigensinnige Gesellschaft
Ein Großteil der Bevölkerung will es ohne die EU schaffen, neue Einnahmequellen zu erschließen. "Als Teil Europas hat man sich in dem Inselstaat nie gefühlt. Eine Öffnung zur EU käme nur, wenn eine Mehrheit dies als wirtschaftlich nützlich empfände. Und für ein solches Umdenken wären ein paar magere Kabeljau-Jahre nötig." Noch wird im protestantischen Island wohl heimlich zum Fischgott gebetet, der dem Land ein Einkommen beschert hat, mit dem wohlfahrtsstaatliche Leistungen finanziert werden können. Für viele Bürgerinnen und Bürger sind diese lebensnotwendig. Aber in Island wird nicht gejammert: Das isländische Volk hatte schon vor dem Wirtschaftsaufschwung der neunziger Jahre einen sehr hohen "Glücksindex", der von den Erforschern des subjektiven Wohlbefindens nicht nur mit materiellen Gütern, sondern vor allem mit Demokratie in Verbindung gebracht wird.
In Island gibt es viel Dunkelheit, und der Alltag ist durchaus beschwerlich: "Trotzdem ist die Welt schön." Es sind nicht nur Bestsellerautoren, die positiv denken. Auch die jungen Popmusiker, die als Repräsentanten Islands zur EXPO 2000 nach Hannover geschickt wurden, wollen Hoffnung und Zuversicht verbreiten: "Aber das Beste was Gott geschaffen hat ist / der neue Tag."