Einleitung
Die Strategie der USA für ihre Politik im Nahen und Mittleren Osten nach dem 11. September 2001 unter der Bezeichnung "Enduring Freedom" hat ihren Ursprung in der Konzeption der "Neuen Weltordnung" von 1991, die Präsident George Bush sen. im Vorfeld des Golfkrieges zur Befreiung Kuwaits von der irakischen Besatzung verkündet hatte. Die Vollendung dieser US-Politik musste damals aus taktischen Gründen zurückgestellt werden, da zu Saddam Hussein keine akzeptable Alternative in Sicht war.
Für das weitere Vorgehen der USA in der Region entwickelte Zbigniew Brzezinski eine Konzeption, die den US-Anspruch auf Vorherrschaft proklamierte. Er betonte, "daß Eurasien der Mittelpunkt der Welt sei und mithin derjenige, der Eurasien beherrsche, die Welt beherrsche". Neben diesem geostrategischen Ziel impliziert das ökonomische Interesse der USA "ungehinderten Zugang" zu diesem Raum. Diese Konzeption Brezinskis ist das "Drehbuch" dessen, was die Bush-Administration, ergänzt durch neokonservative Akzente, in der Region des Nahen und Mittleren Ostens unter der Chiffre "Krieg gegen den Terror" umsetzen möchte.
Wie der ehemalige Außenminister Pakistans Naiz Naik bestätigte, war der Krieg gegen das Taliban-Regime lange vor den Anschlägen vom 11. September beschlossen, denn schon im Juli 2001 war seine Regierung seitens der USA über einen bevorstehenden Krieg gegen Afghanistan informiert worden. Die Neokonservativen nahmen die Terroranschläge zum Anlass, "das Weiße Haus zu kidnappen und die Politik der Regierung Bush in erstaunlichem Maße zu prägen". Ihr Hauptziel "ist die Begründung einer konkurrenzlosen Pax Americana für das 21. Jahrhundert", um die USA als globale Ordnungsmacht zu installieren. Der Einsatz aller Waffengattungen ist Bestandteil dieser Strategie, um "jeden Teil der Welt für eine amerikanische Intervention offenzulassen" und gegebenenfalls "jeden Punkt der Welt in fünfzehn Minuten zu pulverisieren".
Wie die USA Afghanistan "warlordisierten"
Noch während des Krieges gegen das Taliban-Regime wurden auf dem Petersberg bei Bonn vom 27. November bis zum 5. Dezember 2001 "Talks on Afghanistan" veranstaltet, als deren Ergebnis eine Übergangsregierung für Afghanistan gebildet wurde. Vertreten waren neben den Monarchisten Modjaheddin-Gruppen aus Zypern und Peschawar sowie die Nordallianz. Die starke Präsenz von 20 US-Vertretern kündete von deren Einflussnahme auf Verlauf und Ergebnis der Verhandlungen, was der vorzeitig abgereiste Warlord der Provinz Nangrahar, Abdul Qadir, so kommentierte: "Ich halte diesen Druck nicht mehr aus." Als Wunschkandidat wurde Hamid Karsai, der in den Jahren des Bürgerkrieges gute Kontakte zu den USA gepflegt hatte, in Abwesenheit zum Regierungschef der Afghan Transitional Authority (ATA) ernannt. Die Weichen für die "Warlordisierung" Afghanistans waren gestellt, denn die ATA besteht fast ausschließlich aus Modjaheddin-Kommandanten. Dass die Auswahl der Mitglieder auf Grundlage fachlicher Kompetenz und persönlicher Integrität erfolgt sein soll, ist nach vier Jahren widerlegt.
Die Bemühungen der Bundesregierung - sie hatte einen Sieben-Punkte-Plan zur Zukunft Afghanistans vorgelegt - und der EU, säkulare und technokratische Kräfte, die über Regierungserfahrung verfügten, einzubeziehen, wurden von den USA verworfen. Ex-König Mohammad Saher, der als Integrationsfigur bei der Befriedung des Landes eine Rolle hätte spielen können, wurde samt seinen Anhängern marginalisiert. Für die Sicherheit der ATA wurde die International Security Assistance Force (ISAF) gebildet.
Auf der Grundlage der Petersberger Beschlüsse wurde die Loja Djerga (Große Ratsversammlung) im Frühjahr 2002 vorbereitet. Mitglieder einer Kommission reisten zur Wahlvorbereitung durch das Land, es kam zu Bedrohungen und zur Ermordung von Wahlmännern und unabhängigen Kandidaten. Die mächtigen Stammesführer und Warlords eliminierten jeden, der sie daran zu hindern wagte, zur Loja Djerga zu kommen. Hätten die Kommission bzw. die UNO die Wahlkriterien durchgesetzt, wären fast alle einflussreichen Männer ausgeschlossen worden; stattdessen "bekamen sie Hilfestellung durch die UNO, speziell durch Brahimi". Die Parteien, die an der ATA beteiligt waren, "hatten in den von ihnen dominierten Distrikten die Weisung herausgegeben, daß keiner sich zum Kandidaten aufstellen lassen durfte, der nicht die Erlaubnis der entsprechenden Partei besaß". Mit allen Mitteln wurde um Mandate gekämpft: "Alle Warlords, alle Parteien verteilten in den Provinzen eifrig Geld und Waffen, um ihre Leute in die Loya Jirga zu bringen", und "schon jetzt betreiben quer durch das ganze Land alle Parteien und Gruppen mit dicken Geldbündeln Wahlkampf".
Die USA haben zehn Millionen US-Dollar ausgegeben, um Stimmen für ihren Wunschkandidaten zu kaufen. Der deutsche Diplomat Klaus-Peter Klaiber, EU-Beauftragter für Afghanistan, sprach von massiven Einschüchterungsversuchen der Kriegsfürsten. Lakhdar Brahimi, UN-Sonderbeauftragter für Afghanistan, musste einräumen, "daß afghanische Kommandeure mit Geld und Einschüchterungsversuchen ihre Vertreter in der Loya Jirga durchsetzen wollten". Die Rückkehr Mohammad Sahers - er wollte wieder Staatsoberhaupt werden - aus seinem römischen Exil nach Kabul wurde auf Intervention von US-Präsident George W. Bush beim italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi verschoben, um seine Anwesenheit im Vorfeld der Loja Djerga zu verkürzen. Trotzdem: "Mehr als 800 Delegierte hatten vor Beginn der Loja Dschirga für ihn als möglichen Staatschef gestimmt." Zwei Stunden vor dem Ex-Monarchen verkündete Bushs Sonderbotschafter Zalmay Khalilzad in der US-Botschaft in Kabul dessen Verzicht auf eine Kandidatur. Der EU-Parlamentarier Elmar Brok forderte eine neue Afghanistan-Konferenz, um Saher und den Kronprinzen sowie paschtunische Stammesführer in die ATA einzubeziehen.
Erst nachdem die Kandidatenfrage im Sinne der USA geklärt war, nahm die Djirga am 10. Juni 2002 ihre Arbeit auf. Statt der vorgesehenen 1 500 Delegierten, von denen 500 ernannt waren, hatten 1 700 Zutritt zum Versammlungszelt erhalten, um eine mögliche Niederlage Karsais zu verhindern. Schon am zweiten Tag verließen 70 Delegierte die Versammlung, weil sie auf Entscheidungen bezüglich der Kandidatenauswahl für die Präsidentschaft und für die Mitglieder der künftigen Regierung keinerlei Einfluss nehmen konnten. "Eine plumpe amerikanische Aktion" nannte die "New York Times" die Art und Weise, wie die Kandidatur Karsais zum Präsidenten zustande gekommen war. Schon vor der Wahl hatten verschiedene Gouverneure auf dem Gelände der Loja Djerga die Delegierten per Unterschrift verpflichtet, für Karsai zu stimmen. Bei seiner Wahl am 13. Juni 2002 wurden 24 Stimmen mehr abgegeben, als Delegierte anwesend waren.
Nach den Vorgaben der Loja Djerga von Juni 2002 verlief auch das Verfahren zur Verfassungsdjerga vom 14. Dezember 2003 bis zum 4. Januar 2004. Die Islamisten setzten eine "Islamische Republik Afghanistan" durch, und faktisch wurde die Scharia durch die Formulierung in Art. 3 der Verfassung, dass kein Gesetz im Widerspruch zu den Grundlagen des Islam stehen darf, eingeführt.
Schleppender Wiederaufbau
Die Geberländer hatten der ATA auf der Konferenz vom 21. Januar 2002 in Tokio 5,25 Mrd. US-Dollar Wiederaufbauhilfe zugesagt. Karsai beschwerte sich Ende 2002, dass von den 890 Mio. Euro Finanzhilfe für Afghanistan 800 Mio. an die Bürokratie und die Hilfsorganisationen in Kabul fließen. Das Gros der zugesagten Mittel blieb bei der Weltbank "geparkt". Die Geberländer befürchteten, dass das Geld in dunkle Kanäle fließen würde, und die fast ausschließlich aus Islamisten bestehende Administration ist offenbar unfähig, ein Aufbauprogramm zu erstellen. Das auf der Berliner Konferenz Ende März 2004 vorgelegte fundierte Aufbauprogramm war von der Weltbank ausgearbeitet worden. Die USA nutzten die Unfähigkeit der ATA aus und stellten jedem Minister einen "afghanisch-amerikanischen Berater, der Einfluß auf die Entscheidungen nimmt", zur Seite.
Da Afghanistan kein funktionierender Staat, sondern de facto ein US-Protektorat ist, versuchen 900 internationale Nichtregierungsorganisationen (NGOs), das Überleben der Bevölkerung zu sichern. "Die jüngsten Nachrichten aus Afghanistan geben Zeugnis von einem Land in Chaos. Mit den schulterklopfend verabschiedeten Wiederaufbau-Plänen zweier prunkvoller Konferenzen auf dem Bonner Petersberg hat die Wirklichkeit am Hindukusch nichts gemein." Diese sieht ganz anders aus: "Eigentlich ist Kabul gar keine Stadt, sondern eine Wildnis in urbaner Dekoration", und die Menschen werden mit ihren "Problemen von einer nur mit sich beschäftigten Zentralregierung und indifferenten Besatzungsmächten im Stich gelassen". Es gibt "immer noch verminte Ruinen, soweit das Auge reicht. Kabul, dieser Schutthaufen bei einem großen internationalen Militärlager, sieht anderthalb Jahre nach dem Sturz der Taliban kaum besser aus als Berlin Ende 1946." Nur NGOs reparieren hier und dort zerstörte Einrichtungen, Schulen, Straßen und Brücken, wobei sie teilweise durch Korruption, die bis in höchste Kreise der ATA reicht, behindert werden. Daher fühlen sich die NGOs niemandem unterstellt oder gar rechenschaftspflichtig. Sie vergeben in eigener Regie Projektaufträge an Organisationen, die "schlechte Arbeit leisten", stellte Wiederaufbauminister Farhang fest. Er wird über geplante Vorhaben nicht konsultiert: "Ich habe keine Ahnung, was die machen."
Das Budget des Landes für 2001/02 betrug 2195 Mio. US-Dollar, davon wurden 2093 Mio. aus ausländischen Quellen finanziert; für 2003/04 waren 2268 Mio. veranschlagt bei einer Auslandsfinanzierung von 1364 Mio. Andererseits ist im Lande Geld genug da: Nach Angaben von Karsai kassieren die Zollbehörden jährlich rund 600 Mio. US-Dollar, die sie aber nicht nach Kabul abführen. Die Warlords von Herat und Qandahar kassieren je eine Million täglich. Der Handel erlebt einen Aufschwung: Afghanistan importierte 2002/03 Waren im Wert von 2452 Mio. US-Dollar, hingegen erreichte der Export nur einen Wert von 100 Mio.
Einer der wenigen Erfolge der ATA bzw. des IWF war die Währungsreform Anfang 2003, wodurch 1 000 alte Afghani durch einen neuen Afghani ersetzt wurden. Der Währungsumtausch erleichterte nicht nur den Geldhandel, sondern war auch ein gutes Geschäft. Das alte Geld wurde säckeweise mehrfach umgetauscht. Als weiterer Erfolg der ATA gilt das von einem deutschen Wirtschaftsberater ausgearbeitete attraktive Investitionsgesetz. "Es sieht 100%igen Firmenbesitz von Ausländern vor, Schutz vor Enteignung, Steuerbefreiung in den ersten acht Jahren, Zollreduzierung und 100%igen Gewinntransfer." Dennoch halten sich die Investoren zurück, denn es gibt kein Bankengesetz, es fehlen Sicherheit, weitere rechtliche Grundlagen, qualifiziertes Personal, die nötige Infrastruktur; auch die exorbitanten Bodenpreise in Kabul tragen zur Verunsicherung bei. Nach Angaben des Handelsministers sind im ersten Jahr der ATA über 5 000 Geschäftslizenzen, davon aber nur zehn Prozent an Ausländer, ausgestellt worden. Aber diese investieren nicht, nachdem sie sich einen Überblick über die Verhältnisse vor Ort verschafft haben. Auch die Ende August 2003 von Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul eröffnete Afghan Investment Support Agency zur Förderung ausländischer Investitionen zeigte keine Wirkung. Ein weiteres Hindernis ist die Beherrschung der Wirtschaft durch eine winzigeMacht- und Geldelite mit guten Beziehungenzur Politik und den Warlords. Von einer freien Marktwirtschaft können nur Phantasten reden.
Nur der Drogenhandel und die Drogenproduktion prosperieren; 2003 wurden alle bisherigen Rekorde gebrochen. Während 2001 ca. 185 Tonnen Opium produziert wurden, waren es 2002 ca. 3 500 Tonnen; dadurch wurden rund 1,2 Mrd. US-Dollar erzielt, nach UN-Angaben sogar ca. 2 Mrd. Die UNO schätzt, dass zirka 75 Prozent des weltweit gehandelten sowie etwa 90 Prozent des in Europa verbrauchten Heroins aus Afghanistan stammen. Während 2003 eine Rekordernte von über 4 600 Tonnen eingefahren wurde, dürfte das 2004 nicht viel anders werden, da mittlerweile in fast allen Provinzen Mohn angebaut wird. "Wenn wir das Problem der Drogen nicht in den Griff bekommen, dann sind alle anderen Bemühungen umsonst", und als Folge "landen wir über kurz oder lang in einem von einem Drogenkartell erpressten und gesteuerten Land", stellte General Wolfgang Korte, ehemals Vizekommandeur der ISAF, fest. Da es bei Drogenproduktion und -handel schon jetzt eine Personalunion von Warlords, Politikern, hohen Sicherheitsbeamten und Schmugglern gibt, spricht der afghanische Finanzminister Ashraf Ghani von einem "Drogenmafia-Staat".
Auch die Taliban und Al Qaida finanzieren sich durch Drogenhandel, da sie nach wie vor 35 Prozent des Landes kontrollieren. Mohammad Scharif, Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium, konstatiert: "Die Drogenbekämpfungspolitik der westlichen Geberländer ist ein eklatanter Mißerfolg." Weder die Briten, die dafür zuständig sind und 100 Mio. Euro zur Verfügung hatten, noch die ATA konnten den Bauern einen genügenden Ausgleich anbieten; die je Hektar angebotenen 13 000 US-Dollar lehnten diese ab. "Die Amerikaner müssen sich sogar vorwerfen lassen, die Machenschaften noch zu fördern. Denn für ihre Terroristenjagd paktieren sie mit den Warlords, die als Drahtzieher des Drogenhandels gelten." Die über 600 000 Tonnen US-Nahrungsmittelhilfe seit 2001 treiben die Preise für einheimische Produkte in den Keller und die Bauern in den Ruin. Diese bauen keine Nahrungsmittel mehr an, schließlich verkauft sich Opium 30-mal teurer als Weizen.
Als relativer Erfolg der ATA kann die Wiedereröffnung der Schulen bezeichnet werden; nach offiziellen Angaben gehen drei Millionen Kinder zur Schule. "Die Medien zeigen, wie Hunderte Mädchen zur Schule gehen, aber sie zeigen nicht, wohin sie gehen, wie sie dort sitzen und welche Qualität ihre Ausbildung hat." Die Schulen unterscheiden sich in den Provinzen meist kaum von Koranschulen: Die Kinder sitzen vielerorts auf dem nackten oder mit einem zerfetzten Kelim bedeckten Fußboden, teilweise fehlt es an Fenstern und Heizung. Immer wieder kommt es zu Brandanschlägen, insbesondere auf Mädchenschulen.
Frauen dürfen wieder arbeiten, aber kaum eine Frau traut sich, ohne Schleier zum Dienst zu gehen. Mutige Frauen, die es dennoch wagen, werden von Männern belästigt, beschimpft oder sogar angegriffen. "Frauen können wegen unentwegter Lebensbedrohung und Vergewaltigung nicht am gesellschaftlichen Aufbau teilnehmen." In einem Bericht von Amnesty International heißt es: "Der Schutz der Frauen gegen Gewalt und der Schutz von Frauen, die akut von Gewalt bedroht sind, ist praktisch nicht vorhanden." Auch "die Strafgerichte verletzten die Rechte der Frauen mehr als daß sie sie schützen". Gefährdet sind die Frauen vor allem, wenn sie sich politisch organisieren. In Kabul wurde das Zentrum der All-Afghanischen Frauenassoziation überfallen. Die Lehrerin Zarmina Tookhi musste nach Morddrohungen aus Afghanistan fliehen; sie hatte in Kabul ein "Frauenbildungszentrum" aufbauen wollen. In einem Kabuler Gefängnis saßen 35 Frauen, 28 wegen angeblicher Verstöße gegen die Scharia.
Die gesundheitlichen Verhältnisse im Lande sind weiterhin katastrophal. Es gibt Frauen, die keine 30 Kilo wiegen. Jedes zweite Kind unter fünf Jahren leidet an Unterernährung, und jedes vierte stirbt, bevor es fünf Jahre alt wird. In Herat, wo es im Gegensatz zu Kabul fast 24 Stunden am Tag Strom gibt und der Wiederaufbau vergleichsweise besser vorangeht, liegen 500 Patienten in einem für 200 Betten vorgesehenen Krankenhaus. Bei einem Einzugsgebiet von sieben Millionen Menschen wird es kaum je in der Lage sein, die nötige medizinische Versorgung zu gewährleisten.
Gute Nachrichten gab es hingegen für die US-Ölgesellschaft Unocal: Am 27. September 2003 konnte endlich das lang ersehnte Protokoll zum Bau einer Gas- und Ölpipeline von Turkmenistan durch Afghanistan zum Indischen Ozean (Kosten: 1,9 Mrd. US-Dollar) zwischen Afghanistan, Turkmenistan und Pakistan unterzeichnet werden; ab 2005 sollen zirka 20 Billionen Kubikmeter Erdgas nach Pakistan geleitet werden.
Sicherheits- und Menschenrechtssituation
Unabdingbar für die Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung sowie von nationaler Einheit und für Entwicklung ist der Aufbau einer Nationalarmee. Ohne die auf dem Petersberg beschlossene Entwaffnung der Milizen sind freie Wahlen nicht möglich. Der von Karsai am 2. Dezember 2002 verkündete Aufbau einer 75 000 Mann starken Truppe ist nicht annähernd erreicht. Trotz US- und französischer Hilfe hat die ATA nach offiziellen Angaben ca. 25 000 Soldaten aufgestellt. Tatsächlich waren es Anfang 2003 erst 1700 und im Oktober 2004 mit 8 300 Mann nur unwesentlich mehr. Angesichts der vom Armeechef Bismillah Chan geschätzten 100 000 Privatmilizionären der Warlords ist das ein Verhältnis "wie Maus und Elefant". Da die ATA den Rekruten ihren Sold nicht zahlen kann, gehen diese nach ihrer Ausbildung in Kabul zu ihren Warlords zurück. Die Entwaffnung der Privatmilizionäre wird von den Warlords torpediert. Allein Verteidigungsminister Fahim verfügt über eine Privatarmee von 30 000 Mann. Wenn hier und da eine Entwaffnungsshow veranstaltet wird, bei der zum größten Teil alte Waffen abgegeben werden, ist das ein gutes Geschäft. Für jede alte abgegebene Kalaschnikow erhalten die Söldner 100 US-Dollar; auf dem Markt kann sich jeder für 70 US-Dollar eine neue kaufen. "Seit Juni sollten die Kriegsfürsten und ihre privaten Milizen entwaffnet werden, doch nichts ist bisher passiert. Ein entsprechendes 50-Mio.-US-Dollar-Programm liegt auf Eis, weil sich das afghanische Verteidigungsministerium sträubt, Reformen durchzuführen", die neben der Entwaffnung die Berücksichtigung der Multiethnizität bei der Vergabe hoher Armeeposten beinhalten.
In einem Bericht des Auswärtigen Amtes vom August 2003 heißt es, dass der "praktisch landesweit bestehende Zustand weitgehender Rechtlosigkeit des Einzelnen (...) noch nicht überwunden" ist. Im Süden und Osten des Landes herrschen wieder Bedingungen, die einst den Siegeszug der Taliban begünstigt haben. Die Taliban nutzen die Unzufriedenheit der Bevölkerung, um ihren Einfluss zu erweitern. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen gründeten sie mit Hekmatjar und anderen, die von den Wahlen ausgeschlossen sind bzw. diese bekämpfen, eine politische Sammlungsbewegung.
Selbst in Kabul werden Familien, bevorzugt Rückkehrer, überfallen, ausgeraubt und getötet. "Raubüberfälle und Vergewaltigungen, Mord oder Folter gehören zum Alltag. Täter tragen oft Uniform, sie stehen im Dienst der Polizei", aber auch der Armee. Mitglieder der Menschenrechtskommission, die auf die Verletzung von Frauen- und Menschenrechten hinweisen, sind Gefahren ausgesetzt. Sexuelle Gewalt gegen Frauen ist sehr weit verbreitet. "US-Präsident Bush und Außenminister Powell hatten versprochen, daß der Krieg in Afghanistan den Frauen die Befreiung bringt. Doch noch immer sind Gewalt, Diskriminierung und Unsicherheit im Leben der Frauen an der Tagesordnung." Zarmina Tookhi beklagt: "Die Supermacht USA läßt die Frauen im Stich." Außerhalb Kabuls werden NGOs überfallen, ihre Mitarbeiter ermordet. Ärzte ohne Grenzen stellte nach der Ermordung von Mitarbeitern die Arbeit in Afghanistan ganz ein. Die Kriegsfürsten sind eher Teil des Problems als Teil der Lösung des Konfliktes, stellte Brahimi fest. Die Gewaltanwendung wird u.a. von den Ministern Fahim und Kanuni, den Milizenführern der östlichen Region, Hazrat Ali, Rabani und dem Ultra-Islamisten Rasul Sayaf befohlen. Personen, die sich für den Aufbau eines säkular orientierten Staates einsetzen, sind bei einer Rückkehr nach Afghanistan gefährdet. Auch Karsai ist nicht sicher; ohne seine amerikanischen Leibwächter kann er keinen Schritt tun. Mindestens drei Attentatsversuche sind mittlerweile auf ihn verübt worden. Über 35 Prozent des Landes im Osten und Süden werden für Angehörige der ATA als "No-Go-Area" eingestuft. Im Sommer 2004 stufte die UNO gar "die Hälfte des Landes als riskantes Gebiet ein". Nur die US-Marines führen von Zeit zu Zeit Operationen durch, ansonsten herrschen dort Al Qaida, die Taliban und die Milizen von Hekmatjar.
Deutschlands und Europas Beitrag zur Sicherheit
Die afghanische Polizei ist von Deutschland ausgebildet worden. Die Kabuler Polizeiakademie wurde reaktiviert. Seit August 2002 werden 1 500 Führungskräfte "und die im Dienst befindlichen ehemaligen Mudschaheddin" zu einer "den Menschenrechten verpflichteten Polizei" ausgebildet. Die Bundesregierung hatte für das Polizeiprojekt im Jahre 2002 mehr als 14 Mio. Euro zur Verfügung gestellt, und bis März 2002 sind 48 Minibusse nach Kabul geliefert worden. Das Projekt soll auf alle 32 Provinzen erweitert werden, daher besteht die Hoffnung, dass die gesamte Polizei nach deutschen Ausbildungskriterien geschult wird. Geplant ist der Ausbau zentraler Polizeieinrichtungen, die mit Computern, einem computergestützten Informationszentrum und einer Medien- und Kommunikationszentrale ausgestattet werden sollen. Das Auswärtige Amt hat in seinem Jahresbericht 2002 die Bedeutung des Polizeiprojekts besonders hervorgehoben. Genauso wichtig ist aber die langfristige deutsche Beratertätigkeit im afghanischen Innenministerium. Sowohl die Partnerschaft mit der Universität Kabul als auch die Zusammenarbeit mit der dortigen Amani-Oberschule (einer deutschsprachigen Schule) wurden wieder aufgenommen.
Mit der Erweiterung des Bundeswehreinsatzes im Rahmen der Provincial Reconstruction Teams (PRT) in Kundus und Faisabad (zunächst geplant in Herat und Tscharikar) soll auch außerhalb Kabuls für mehr Sicherheit gesorgt werden. In Kundus haben die Bundeswehrsoldaten die US-Amerikaner ersetzt. Obwohl die Sicherheitslage in den genannten Orten besser ist als in Kabul, wird vom Leiter des Erkundungsteams, Generalleutnant Riechmann, "auf die Gefahr des Aufbaus eines 'Narcotic State' hingewiesen. Bereits jetzt gebe es Auseinandersetzungen zwischen Drogenbaronen, in die auch die regionalen Machthaber und Politiker verwickelt seien."
Am 11. August 2003 ist das Kommando der ISAF von der NATO übernommen worden, die Ausdehnung auf ganz Afghanistan wurde damit eingeleitet. Die Bundeswehreinsätze in Kundus und Faisabad wurden von der NATO beschlossen. Faisabad ist eines von fünf PRTs, "die der Operationsplan der Allianz für die erste Phase einer Ausweitung der Isaf-Mission über Kabul hinaus vorsieht". Dies wurde auf dem NATO-Gipfeltreffen am 28. Juni 2004 in Istanbul entschieden.
Präsidentschaftswahl
Am 9. Oktober 2004 wurden Präsidentschaftswahlen in Afghanistan abgehalten, aus denen erwartungsgemäß Karsai als Sieger hervorgegangen ist. Auf dem Petersberg war jedoch 2001 beschlossen und in Art. 160 der Verfassung vom 26. Februar 2004 bekräftigt worden, im Juni 2004 zeitgleich Parlaments- und Präsidentschaftswahlen durchzuführen. Somit war die Amtszeit von Interimspräsident Karsai abgelaufen; er regierte seit mehreren Monaten offiziell ohne Mandat. Statt sein Amt niederzulegen, verschob er im Widerspruch zur Verfassung den Wahltermin zum zweiten Mal. Dieses Taktieren erinnert an den zweiten islamischen Präsidenten Rabani, als dieser 1992/93 einen Krieg innerhalb der Regierungsparteien auslöste, der die Zerstörung Kabuls und später den Einmarsch der Taliban zur Folge hatte. Stünden hinter Karsai nicht die USA, gäbe es wohl einen erneuten Bürgerkrieg. Am 22. Juni 2004 forderten Demonstranten in Kabul den Rücktritt Karsais und die Einsetzung eines Übergangsrates bis zu den Wahlen.
Auch die Trennung von Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ist ein Verstoß gegen das Petersberger Abkommen und die Verfassung. Bei gleichzeitig abgehaltenen Wahlen wären Kontrolle, Beeinflussung oder gar Manipulation erschwert worden. Eine Niederlage Karsais war jedoch für die USA unannehmbar. Daher musste zunächst der Präsident, genauer Karsai, gewählt werden, um dann, aus der Position der Stärke heraus, die Parlamentswahlen durchführen zu lassen. George W. Bush brauchte angesichts der katastrophalen Lage im Irak einen außenpolitischen Erfolg. Der Beschluss zur Wahlverschiebung fiel denn auch nicht in Kabul, sondern im Weißen Haus. Innenpolitisch unter Druck, bekräftigte Karsai, "die Wahlen würden planmäßig stattfinden". Er reiste am 15. Juni 2004 nach Washington, wo er die Verschiebung des Wahltermins verkündete. Die Bestätigung der ATA erfolgte erst Anfang Juli.
Karsai traf sich am 23. Mai 2004 mit den rund einhundert mächtigsten Warlords, darunter Ismael Chan, die Ultra-Islamisten Rasul Sayaf und Rabani, Fahim, Dostum und dessen Rivale, Warlord Atta Mohammad. Dieses Treffen hat dem Verdacht weitere Nahrung gegeben, dass Karsai "mit Rückendeckung der USA - eher mit den Warlords die Macht teilt, als am Reformkurs, Recht und Gesetz festzuhalten". Diese Koalition stimmt insofern mit der US-Strategie in der Region überein, als eine Allianz aus Karsai und Warlords das US-Militär hinsichtlich seines Einsatzes im Irak entlasten dürfte. Bei diesem Treffen versprachen die Warlords der Nordallianz Karsai ihre Unterstützung, wenn ein Modjahed (Heiliger Krieger) Vizepräsident und ein weiterer Präsident der Nationalversammlung wird. Darüber hinaus sollten 50 Prozent der Posten im künftigen Kabinett mit Modjaheddin besetzt werden und "Heilige Krieger" in Nationalarmee und Polizei aufgenommen werden. So könnte aber Karsai seine verfassungsmäßig starke Position nicht durchsetzen. "Karsai muß seine Herrschaft mit vielen teilen, um an der Macht zu bleiben, mit Zalmay Khalilzad, dem US-Botschafter in Kabul, mit Verteidigungsminister Mohammad Fahim, mit Finanzminister Aschraf Ghani, mit den Königstreuen und selbst mit einem Teil der Taliban. Was bleibt ihm am Ende? Nichts als ein bloßer Titel!", resümierte "Pyame Mudjahed" (Die Botschaft des Modjahed).
Die Probleme Afghanistans sind mit dem Wahlgang nicht gelöst: "Noch ist Afghanistan von einer Demokratie weit entfernt", und der Weg zu einer "Normalisierung" wird immer länger. In einer Untersuchung des britischen Parlamentes von Mai 2004 wird die Lage in Afghanistan als "Desaster" bezeichnet: "Die Infrastruktur liegt am Boden, die Opiumproduktion explodiert, und die Taliban kontrollieren ebenso wie die Warlords weite Teile des Landes." Die Warlords bzw. die Heroinbarone, aus taktischen Gründen Verbündete der USA, schwächen die von Karsai geführte ATA und müssen erst von ihren Positionen vertrieben werden.
Afghanistan bleibt für längere Zeit ein Sorgenkind und ein Unruheherd mit Ausstrahlung auf die gesamte Region. Das Land am Hindukusch ist Handelsoase für Drogen, Waffen, Edelsteine, aber auch für Kinder und Frauen. Vonnöten wäre ein langfristiger Wiederaufbauplan, flankiert mit echten Demokratisierungsmaßnahmen, denn so lange breite Volksschichten an einer Entwicklung nicht partizipieren, bleibt das Land ein destabilisierender Faktor.