Arabische Entwicklungsdefizite angesichts globaler Herausforderungen
Die arabische Welt ist im internationalen Entwicklungswettlauf zurückgeblieben, insbesondere im Vergleich zu den Schwellenländern Asiens und Lateinamerikas. Nur Subsahara-Afrika weist noch desolatere ökonomische und soziale Indikatoren auf (Pro-Kopf-Einkommen, Analphabetenrate von Frauen, Kindersterblichkeit).
Diese gehen nicht mehr nur vom Westen ("kolonialistisch, imperialistisch, zionistisch") aus, sondern zunehmend auch vom Fernen Osten. Selbstkritischen arabischen Betrachtern wird nunmehr bewusst, dass eine radikale Kehrtwende in ihren Ländern unumgänglich geworden ist, welche Kernelemente kulturell geprägter
Kontroversen in der arabischenpolitischen Öffentlichkeit
Die damit ausgelöste Debatte verletzte bewusst Tabus, die in kulturelle Prägungen eingebunden sind. "Traditional culture and values, including traditional Arab culture and values, can be at odds with those of the globalizing world. Given rising global interdependence, the most viable response will be one of openness and constructive engagement, whereby Arab countries both contribute to and benefit from globalization. The values of democracy also have a part to play in this process of resolving differences between cultural traditionalism and global modernity."
Die Autoren beziehen eine klare Position: "An alliance between some oppressive regimes and certain types of conservative religious scholars (...) led to interpretations of Islam, which serve the government, but are inimical to human development, particularly with respect to freedom of thought, the interpretation of judgements, the accountability of regimes to the people and women's participation in public life."
Die Verfasser warnen vor einem weiteren Zurückfallen im internationalen Entwicklungswettlauf: "In the societal and cultural context of the Arab world, such wider choices regarding freedom, human rights, knowledge acquisition and the institutional context are especially critical."
Freiheitsrechte für Muslime als Schlüssel für Kreativität und Entwicklung
Der AHDR 02 brach das Muster resignierten Schweigens und diplomatischer Rücksichtnahmen auf. In einer bislang nicht da gewesenen Offenheit und Prägnanz wurden die politisch bedingten Entwicklungsblockaden benannt, an erster Stelle die Vorenthaltung elementarer Freiheiten, ohne die sich das Kreativ- und Innovationspotential (einschließlich desjenigen der weiblichen Hälfte der Bevölkerung über "women's empowerment") nicht entfalten kann. Die Verweigerung der Freiheitsrechte hat einen unmittelbaren Einfluss auf die Wissenslücke. Denn seit Jahrzehnten wandern die besten Köpfe ab. Nobelpreisträger Abdus Salam: "I had a stark choice: to stay in physics or in Pakistan."
AHDR 02 betont, wie weit der Weg ist, den die arabischen Staaten noch gehen müssen "in order to join the global information society and economy as full partners"
Der autoritäre Staat kann mit dem weltweiten Veränderungsdruck nicht mehr Schritt halten. Die Demokratisierungswellen, die in den achtziger Jahren Lateinamerika und Ostasien erfassten und Osteuropa in den achtziger und neunziger Jahren transformierten, sind in der arabischen Welt bis heute nicht angekommen. Die patrimonialen Herrschaftsstrukturen
Dynamische Entwicklungsprozesse wie in Ost- und Südostasien haben sich nicht durchsetzen können. Die Technologielücke hat existenzbedrohende Dimensionen angenommen. Auf 1 000 Menschen entfielen in Singapur 508 Personalcomputer, in Südkorea 257, in Malaysia 126, in Thailand 28, gegenüber 16 in Ägypten und Syrien sowie 14 in Marokko. Mehr als die Hälfte der arabischen Frauen sind immer noch Analphabetinnen. Im Jemen erreicht ihr Anteil 77 Prozent.
Der Reformstau resultiert aus der Zementierung autoritärer Herrschaftsverhältnisse. Inzwischen zeichnen sich familiendynastische Erbfolgemuster nicht nur in den Monarchien (Jordanien und Marokko) ab, sondern auch in den ehemals sozialistischen Präsidialregimen, in denen sich die Söhne anschicken, die Macht von ihren Vätern zu übernehmen (dem Modell Syriens folgend: Ägypten, Libyen, Jemen). Die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Steuerungskonzepte sind überholt. Das Ergebnis ist "lack of accountability, transparency and integration along with ineffectiveness, inefficiency and unresponsiveness to the demands of peoples and development"
Somit geht es um den Aufbau einer Wissensgesellschaft mitsamt ihren Rahmenbedingungen: politische Freiheitsrechte, Gender-Gleichheit und Entwicklungsorientierung staatlichen Handelns, öffentliche Rechenschaftspflicht der Regierenden und Rechtsstaatlichkeit. Konstruktives Engagement aller Gruppen in der Gesellschaft sei gefordert, verknüpft mit einer politischen Verfassung, die eine solche Partizipation und einen funktionsfähigen Interessenausgleich ermöglicht.
Islamistische Regression und Versuche der Instrumentalisierung der Religion zur Stützung autokratischer Herrschaft weist AHDR 03 zurück.
Die Heftigkeit der innerarabischen Diskussionen über die Selbstkritik von AHDR 02 und 03 hat hier ihre Wurzeln. Die offene Einforderung von Demokratie wäre ohne die schützende Hand von UNDP schwer vorstellbar gewesen. Insofern wurden die Veröffentlichungen als sensationell und von den kritischen arabischen Intellektuellen als Befreiungsschlag empfunden. Die Indikatoren für politische Freiheitsrechte in arabischen Ländern (gemessen in "freedom scores" und "voice and accountability indicators")
Folgende Entscheidungen stehen an: Erstens Beibehaltung des politischen Status quo einerseits, der sich als nicht entwicklungsadäquat erwiesen hat, oder Schaffung einer neuen institutionellen Struktur von good governance andererseits. Zweitens geht es um die Bereitschaft zu einer gesamtarabischen Kraftanstrengung unter gemeinsamer Nutzung der Ressourcen der arabischen Region. Von einer entsprechenden Nutzung, insbesondere der Erdöleinnahmen, kann bislang keine Rede sein. Drittens steht die arabische Welt vor der Wahl "between remaining at the margins of the modern world and developing a new societal capacity, on both the national and pan-Arab levels, sufficient to ensure not only openness to the new world being shaped by globalization, but also a capacity for active participation in shaping this new world from a position of capability and security"
Die innenpolitischen Kräftefelder und ihre politischen Artikulationsspielräume haben hinreichend starke politische Reformprozesse nicht zugelassen. Konzepte einer Stützung solcher Reformprozesse von außen zwischen neokonservativen US-Doktrinen einer "forward strategy of freedom" (Afghanistan, Irak) und den EU-Ansätzen zur Etablierung einer euro-mediterranen "Zone des Friedens und der Stabilität" mit der Perspektive einer euro-mediterranen Freihandelszone bis zum Jahre 2010 sind bislang nicht überzeugend umgesetzt worden.
Wissen - die kritische Ressource
Die arabische Wissenslücke und ihre entwicklungspolitischen Konsequenzen sind seit den achtziger Jahren eingehend beschrieben worden.
Doch liegen die Ursachen der wachsenden arabischen Wissenslücke tiefer, beginnend in frühkindlichen Konditionierungen. Die Autoren des AHDR 03 verweisen auf die autoritären Erziehungsstile, die unabhängiges Denken und Selbstvertrauen nicht ermutigen und intellektuelle Neugierde, kritisches Erforschen, Hinterfragen und individuelle Initiative unterdrücken.
Wichtig für eine realistische Einschätzung der Erfolgschancen einer Schließung der arabischen Wissenslücke ist das Verständnis der existentiellen Verunsicherung angesichts des nicht bewältigten globalen Wandels. Die tief greifende Identitätskrise in der Konfrontation mit den weltwirtschaftlichen, weltpolitischen und kulturellen Umbrüchen ist von islamischen Autoren selbst frühzeitig und klarsichtig artikuliert worden.
Zwischen aufgeklärten Intellektuellen und Fundamentalisten tobt ein Kampf um zukunftsfähige Interpretationen des Islam in einer globalisierten Welt, die durch leistungsfähige Wissensgesellschaften charakterisiert wird, anstelle von "ideologies, societal structures and values that inhibit critical thinking, cut Arabs off from their knowledge-rich heritage and block the free flows of ideas and learning"
Ein spezielles Anliegen der Autoren ist die Weiterentwicklung der arabischen Sprache als wichtigstes Medium der Wissensverbreitung. Ein kürzlich in den USA promovierter syrischer Informatik-Professor beschreibt die Situation wie folgt: Er lehrt in Damaskus auf Arabisch unter Verwendung seiner eigenen Übersetzungen von Fachtermini aus dem Englischen ins Arabische. Diese seine Übersetzungen werden aber schon in Aleppo nicht mehr verstanden, da die dortigen Dozenten die gleichen englischen Fachtermini anders ins Arabische übertragen. Unterrichtssprache in Bahrein ist Arabisch unter Verwendung der angelsächsischen, nicht übersetzten Originalbegriffe. In Tunis lehrt man auf Französisch. Eine einheitliche, überall verständliche arabische Fachterminologie hat sich bislang nicht durchgesetzt, was bis auf die Ebene der Schulbücher in den Primar- und Sekundarschulen durchschlägt.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es in der arabischen Welt trotz des spürbarer werdenden Wettbewerbsdrucks durch Globalisierung und technischen Fortschritt weiterhin an einem entschlossenen politischen Willen zur Aktivierung des menschlichen Potentials über Bildung, Ausbildung und F & E fehlt, ebenso wie an der Bereitschaft zur Gewährung entsprechender Freiheiten. Schulen und Hochschulen gelten aus der Sicht der Herrschenden als "dangerous places", die einer scharfen politischen Aufsicht bedürfen. Die vitale Rolle innovativer Köpfe bei der Entwicklung einer international wettbewerbsfähigen Wirtschaft wird von den Regierenden vielfach nicht verstanden, der Eigenwert freier, gebildeter Individuen in einer zukunftsoffenen Gesellschaft negiert
Eine zukunftsorientierte Politik muss gleichzeitig mehrere Dimensionen im Blick haben: Bildungsinvestitionen und F & E, Arbeitsmärkte und deren Qualitätsanforderungen, private und öffentliche Unternehmen, in- und ausländische Investoren sowie Bereiche der Zivilgesellschaft, die am Erwerb von Wissen, seiner Verbreitung, Anpassung und Weiterentwicklung beteiligt sind.
Das blockierte Potential der Frauen
Humankapitalbildung in der Wissensgesellschaft kann die Hälfte der arabischen Bevölkerung - die weibliche - nicht ausschließen und auf deren produktives Potential außerhalb der häuslichen Sphäre verzichten. Angesichts der Analphabetenraten muss "empowerment" von Frauen mit der flächendeckenden Durchsetzung des Schulbesuches der Mädchen auch in ländlichen Räumen beginnen, ungeachtet der aus den kulturellen Traditionen herrührenden massiven Widerstände. Analphabetinnen können ihre Kinder auch nicht das Lesen lehren und die Schulaufgaben begleiten. Gender-Gleichstellung beginnt mit gleichem Zugang zu elementaren Dienstleistungen, was neben Bildung vor allem Gesundheit einschließt. Nicht nur sind mehr als die Hälfte aller Araberinnen illiterat; auch die Müttersterblichkeit ist doppelt so hoch wie in Lateinamerika und viermal so hoch wie in Ostasien.
Kulturelle und rechtliche Barrieren verstärken die Arbeitslosigkeit von Frauen. Die durch die religiösen Regeln erzwungenen betrieblichen Vorkehrungen für die Geschlechtertrennung am Arbeitsplatz
Ein internationaler Politikdialog zwischen hoch rangigen Juristinnen kam zu dem Ergebnis, dass die arabischen Frauen durch die politischen Systeme gravierend marginalisiert und durch Gesetz und kulturelle Traditionen diskriminiert werden. Gefordert wird ein Zeitplan zur Beseitigung aller rechtlichen Benachteiligungen sowie die Umsetzung der internationalen Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination Against Women (CEDAW).
Zwei Drittel der 65 Millionen arabischer Analphabeten sind Frauen. Zehn Millionen Kinder besuchen keine Schule, insbesondere Mädchen. Diese Zahlen könnten angesichts der bestehenden Trends bis 2015 um 40 Prozent zunehmen.
Aufbruch in eine arabische Renaissance?
Die Autoren weisen ihren Ländern den Weg ausder entwicklungspolitischen Sackgasse. Sie machen Front gegen die gängige Verdrängung deprimierender Fakten und das Wunschdenken. "Turning a blind eye to the weaknesses and shortfalls of the region instead of decisively identifying and overcoming them, can only increase its vulnerability and leave it more exposed."
Doch die Zeit für die erforderlichen Umsteuerungen wird knapp. Die arabisch-islamische Welt hat den Anschluss auch an die Schwellenländer Asiens und Lateinamerika verpasst. Die Erdölressourcen wurden nicht produktiv für die arabische Region als Ganzes genutzt. Die Autoren fordern deshalb nichts weniger als eine "kreative arabische Renaissance" in fünf Bereichen:
- Freiheit und good governance;
- Aufbau eines qualitativ hoch stehenden Bildungssystems;
- Etablierung leistungsfähiger Wissenschaftskapazitäten und deren Einbettung in ein Wertesystem, welches innovative Spitzenleistungen fördert, würdigt und angemessen honoriert;
- Umorientierung der Volkswirtschaften auf wissensbasierte, technologisch hochwertige Erzeugnisse, da die arabischen Länder auf dem Gebiet einfacher Industrieprodukte wie Textilien und Bekleidung gegenüber den konkurrierenden asiatischen Niedrigstlohnanbietern wie Indien und China nicht überlebensfähig sind;
- schließlich wird die Entwicklung eines "aufgeklärten arabischen Wissensmodells" gefordert, das sich auf die rationale, offene geistige Tradition der arabischen Blütezeit besinnt und kognitives Denken, Problemlösungsorientierung, Kreativität und interkulturellen Austausch fördert.
Dies bedeutet eine mutige, unmissverständliche Absage an rationalitätsfeindliche islamistische Bewegungen und deren Koalitionen mit innovationsfeindlichen autoritären Herrschaftsstrukturen sowie eine Wiederbesinnung auf "the civilised, moral and humanitarian vision of pure religion; restoring to religious institutions their independence from political authorities, governments, states and radical religious-political movements; recognising intellectual freedom, activating interpretative jurisprudence, preserving the right to differ in doctrines, religious schools and interpretations"