Einleitung
Im Feld der Kulturförderung ist die Europäische Union (EU) ein verhältnismäßig junger Akteur und - mit Blick auf ihren Gesamthaushalt von mehr als 100 Milliarden Euro - nach wie vor ein äußerst bescheidener.
Im kulturellen Bereich ist die Sensibilität auch einer breiteren europäischen Öffentlichkeit vergleichsweise hoch: Die Vielfalt der Kulturen, Sprachen, Religionen, Traditionen und Ethnien wird als ureigener Kraftquell dieses Kontinents begriffen. Die derzeit geführte Diskussion um das Label Kulturhauptstadt Europas in den 25 Mitgliedsländern ist dafür ein beredter Beleg; dabei nimmt sich die Förderung dieser Aktion durch die EU minimal aus.
In Deutschland allerdings wird selbst nach Verabschiedung des EU-Verfassungswerkes immer wieder, namentlich von den innerdeutschen "Entflechtern" der Kompetenzen, eine Zuständigkeit der EU für Kultur in Zweifel gezogen; dabei ist diese seit dem Vertrag von Maastricht (1992) rechtsverbindlich und ist schließlich sogar in der Grundrechtecharta im Artikel 22 (Nizza 2000) festgeschrieben. Darüber hinaus haben kluge Verfassungsmütter und -väter auch für den Kulturbereich die unsinnige Einstimmigkeitsklausel durch den Mehrheitsentscheid ersetzt. Auch dadurch wird eine eigene Kulturpolitik der EU ermöglicht.
Entwicklungsstationen
Man muss sich den weiten, fast ein halbes Jahrhundert währenden Weg vergegenwärtigen, wenn man heute - nach den Institutionen von EWG und EG bis hin zur Verfassung für Europa - eine EU-Kulturpolitik mit ihren Förderprogrammen, deren Schwerpunkten und auch Defiziten, würdigen will. Am langsam wachsenden Stellenwert von Kultur und Bildung als Politikfeldern der Gemeinschaft spiegelt sich seit ihrer Gründung bis heute pars pro toto auch die allgemeine Europäisierungstendenz wider, die zur Erfolgsgeschichte der Nachkriegsentwicklung werden sollte.
Bekanntlich kannten die Römischen Verträge den Begriff Kultur gar nicht, und Bildung kam nur im Zusammenhang mit Berufsbildung vor. In Artikel 2 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1957 heißt es: "Aufgabe der Gemeinschaft ist es, durch die Errichtung eines gemeinsamen Marktes und die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsaufwertung, eine größere Stabilität, eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung und engere Beziehungen zwischen den Staaten zu fördern, die in dieser Gemeinschaft zusammengeschlossen sind."
Erst zu Beginn der siebziger Jahre, einer in Westeuropa durch gesellschaftlich-politische Aufbruchstimmung gekennzeichneten Zeit, begannen auch Gremien der EWG sich mit Fragen der Kultur und Bildung zu befassen. Bislang war das die Domäne des Europarats gewesen. Jetzt wurde die "Verbundenheit der europäischen Völker", wie sie zur "Bildung eines gemeinsamen Paktes" notwendig war, auch als Frage nach der Identität der Europäer verstanden und thematisiert. So gelangte der Begriff Kultur erstmals in Texte der EWG; allerdings eher marginal und kulturpolitisch ohne Belang. Das änderte sich jedoch thematisch mit der Gipfelkonferenz von Kopenhagen 1973, deren Inhalte heute als "Kriterien von Kopenhagen" vor allem im Blick auf die Türkei-Debatte aktuell sind. Die Staats- und Regierungschefs hatten sich dort zwar eingehend, aber eher notgedrungen mit der Kultur befasst, weil das Defizit an europäischer Identität der "Bürger Europas" allgemein offenbar geworden war.
Wie sollte ein Europa der Bürger beschaffen sein, fragten sie, und verabschiedeten ein "Dokument über die europäische Identität".
Zur Antwort auf diese Frage wurde auf das gemeinsame europäische Erbe und die gemeinsame kulturelle Tradition verwiesen, deren Bausteine Demokratie und die Achtung der Menschenrechte, der Parlamentarismus, die Tradition des Sozialstaates, Humanismus und Aufklärung sowie das Christentum sind. Das hatte 1949 bereits der Europarat betont. Für die hier zugrunde liegende Fragestellung, wie "eine europäische politische Identität erreicht werden soll", reichten Verweise auf gemeinsame historische und kulturelle Wurzeln zur Bildung einer europäischen Identität, wie es der Europarat in seiner Gründungsurkunde und dezidierter in der Kulturkonvention von 1954 formuliert hatte, jedoch nicht aus; dessen wurde man sich nun bewusst.
Ein Vierteljahrhundert nach dem Aufbruch eines politischen Europa wurde deutlich, dass allein auf der Basis der Wirtschaft keine postnationale Gemeinschaft entstehen würde. Schließlich reicht es auch nicht, sie als weiterhin unverzichtbaren und wirkungsvollen "Problemlösungsrahmen" für die Mitgliedsländer - Friedenssicherung, Stärkung der inneren Sicherheit, Schutz der Umwelt etc. - zu begreifen; es musste etwas Stabileres entstehen: eine Werte- und Kulturgemeinschaft. Denn anders als eine politische Struktur impliziert Kultur immer die Gesamtheit der Sinnzusammenhänge einer Gemeinschaft. Auch wenn das Vertrauen der Bürger zuallererst durch ökonomische Erfolge der Gemeinschaft und die Wirksamkeit ihrer Institutionen gestärkt wird, so reicht das allein nicht: Soll diese europäische Identität politisch belastbar sein und den Herausforderungen der Zukunft standhalten, muss noch ein weiteres konstitutives Element hinzukommen: ein europäisches Bürgerbewusstsein, das sich in einer breiteren Öffentlichkeit und deren aktiver Beteiligung am Europaprozess manifestiert. Europa-Bewusstsein ist sowohl wesentlicher Aspekt bei der Entstehung als auch Zeichen der Herausbildung europäischer Identität. Es ist letztlich ein Kultur- und Bildungsfaktor: Europäer ist man nicht von Geburt, sondern durch Bildung.
Parlamentsinitiativen
Nach Jahren der Stagnation wurden - trotz immer noch Unwilliger unter den damals neun Mitgliedsstaaten - daraus für den Kultursektor Konsequenzen gezogen. So griff die Kommission erstmals 1977 in einer "Mitteilung" diese Thematik in ihren Aktionen der Gemeinschaft im kulturellen Sektor auf. Doch erst das Europäische Parlament (EP) war willens, darauf - auf dem noch weiten Weg nach Maastricht - erste substanzielle Antworten zu geben: Es bildete zunächst, nach der ersten Direktwahl 1979, einen Ausschuss für Jugend, Kultur, Bildung, Information und Sport. Am Ende seiner ersten Legislaturperiode stand - nach langen und grundsätzlichen Erörterungen von Pragmatikern einerseits (Devise: Anpassung an die Rahmenbedingungen der Verträge) und Theoretikern andererseits (Devise: Entwicklung einer eigenständigen Kulturpolitik über den Wortlaut der geltenden Verträge hinaus) - der Fanti-Bericht (1983).
Im Ansatz zwar konzeptionell gedacht, waren seine Forderungen durchgehend pragmatisch, aber dennoch nicht ohne Weitblick. Das betraf insbesondere die Forderung, für kulturelle Aktionen inder EG (sowie in den nationalen Haushalten) mindestens ein Prozent auszugeben. Das war beieinem erheblich gewachsenen Haushalt der Gemeinschaft von beträchtlicher Bedeutung. Das EP "ist der Auffassung, daß die Zuweisung von einem Prozent (...) für den Sektor Kultur ein realistisches Ziel darstellt, das innerhalb einer angemessenen Frist erreicht werden muss", heißt es im Beschluss vom November 1983. Auch im Jahre 2004 ist dieses Ziel der Kulturförderung noch nicht voll erreicht.
Es ist erstaunlich, wie trotz einiger grundsätzlicher Einsprüche von Europagegnern im EP während der ersten Legislaturperiode Kultur und Bildung auch als Aufgabenfeld der Europäischen Gemeinschaft begriffen wurden. Faktisch gab es aufgrund der Wirkung des Jugend- und Kulturausschusses im Europäischen Parlament kein kulturpolitisches Zurück mehr. Dazu trugen 1983 sowohl die Genscher-Colombo-Initiative bei, die schließlich mit der Stuttgarter Erklärung zur "engeren kulturellen Zusammenarbeit in Europa" führte, als auch das französische "Memorandum zur Europa-Politik" (mit Kultur-Inhalten) sowie der Plan einer Europäischen Stiftung gemäß dem Tindemans-Bericht von 1974, den das EP jedoch ablehnte. Die Idee einer Europäischen Stiftung als Kulturförderinstanz wurde später mehrfach von offiziellen sowie NGO-Gremien wieder aufgegriffen, brachte aber kein Resultat. So verbindet sich mit dem Begriff Europäische Kulturstiftung heute lediglich die unabhängige, höchst verdienstvolle European Culture Foundation (ECF) in Amsterdam mit eigenem Förderprofil.
Eine vergleichsweise immense kulturpolitische Aktivität, wie sie das erste direkt gewählte Parlament entfaltete, gab es in den folgenden Legislaturperioden nicht mehr. Auch der Text der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 (EEA), in der eine verstärkte kulturelle Zusammenarbeit als wichtige Dimension im Einigungsprozess gefordert wurde, sowie die Bemühungen ("Impulse (...) im kulturellen Bereich") des Kultur-Kommissars Ripa de Meana und später der Generaldirektorin Colette Flesch brachten keinen wesentlichen kulturpolitischen Fortschritt in der EG: Es gibt bisher keine Rechtsgrundlage zur Kulturtätigkeit der EG, hieß es stets.
Maastricht
Der Durchbruch für die Europäische Kulturpolitik kam erst im Zusammenhang mit der Diskussion über den Entwurf zum Maastrichter Vertrag, dessen Kultur-Artikel 128 aus der Mitte des Parlaments durchgesetzt wurde. Maastricht gewissermaßen vorwegnehmend, hatte die Kommission bereits in ihrem Neuen Kulturkonzept (Brüssel 1992) zur "Überwindung der rein wirtschaftlichen Dimension" erstmals die Notwendigkeit der Erarbeitung eines "Kulturpolitischen Konzepts der Gemeinschaft" eingeräumt: "1992 stellt den Beginn einer neuen Epoche dar, die die Gemeinschaft in erster Linie dazu nutzen sollte, den Arbeitsrahmen für ihr neues Kulturkonzept abzustecken", hieß es nun in Brüssel. Daraufhin hat das EP - schon mit Blick auf den Kultur-Artikel 128 - u.a. gefordert, die "Kulturpolitik zu einem der Kernstücke des (finanziell reich ausgestatteten) EU-Strukturfonds zu machen, um die kreative Wirtschaft zu stärken" (Escudero-Bericht). Letzterem ist für die Kulturförderung der EU weitgehend entsprochen worden: So unerheblich heute die Mittel aus dem Kulturbudget einerseits noch sind, so beträchtlich ist in den vergangenen Jahren andererseits der gemeinsam von Kommission und den Strukturfonds-Empfänger-Regionen verausgabte Kulturanteil gewachsen.
Mit der Verankerung des Kultur-Artikels 128 im Maastrichter Vertrag von 1992 wird eine Zuständigkeit der Gemeinschaft für Kultur bzw. kulturpolitisches Handeln zum erstem Mal rechtsverbindlich festgeschrieben und Kulturförderung "legitimiert".
Im Vorfeld von Maastricht hatte sich ein von der Kommission berufener "Beratender Ausschuss" von Experten die Frage gestellt, was denn die Kultur für die EG sei und sie folgendermaßen beantwortet: "Kultur ist kein abstrakter Begriff: Kultur ist die Gesamtheit der zahlreichen, verschiedenartigen Sitten und Gebräuche, die in allen Bereichen des täglichen Lebens ihren Ausdruck finden. In der Kultur spiegeln sich unser jeweiliger Lebensstil, unsere Traditionen und Ideale wider. In ihr wurzeln unsere Dialekte und unser Liedgut. Sie ist bestimmend dafür, wie wir eine Liebeserklärung machen und wie wir unsere Toten beerdigen. Kultur ist somit das bedeutsamste und stärkste Charakteristikum der menschlichen Gemeinschaft." Und weiter wird argumentiert: "Kultur steht in engem Zusammenhang mit den direkten und indirekten Lernprozessen und der menschlichen Entwicklung schlechthin. Als dynamisches, in ständiger Wandlung befindliches Element stellt sie eine Verbindung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart dar."
Es ist sicher, dass die juristische Fassung des Artikels 128 und eine notwendige Kulturklausel für das Gesamtpolitikfeld der Gemeinschaft auf der Arbeit dieser Expertengruppe basiert. Allerdings wurde deren Begriffsdefinition bewusst nicht übernommen (der Vertrag hat den kulturpolitischen Handlungsspielraum nicht durch einen bestimmten Kulturbegriff begrenzt).
Mit Maastricht und seiner Fortschreibung im Vertrag von Amsterdam (1997) erhielt die Gemeinschaft ein neues Profil und wurde "mit Leben und Geist erfüllt" (Jacques Delors). Der anfangs wirtschaftlich orientierte Zusammenschluss europäischer Staaten war nun zu einer Europäischen Union geworden. Dies bedeutete einerseits die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion, aber andererseits auch die einer politischen Gemeinschaft mit der Unionsbürgerschaft. Es kommt also nicht von ungefähr, dass es mit dem Maastrichter Vertrag zu Kompetenzerweiterungen der Gemeinschaft in so wichtigen Bereichen wie Sozialpolitik, Bildungs- und Forschungspolitik sowie auch der Kulturpolitik kam.
Der Kultur-Artikel 128 - und später im Vertrag von Amsterdam 151 - bietet eine Chance für europäische Kulturpolitik, die das Bewusstsein für die kulturelle Vielfalt einerseits und die der Einheit von Europa andererseits vertieft. Dieser Artikel muss allerdings auch im Zusammenhang mit dem neuen Artikel 3b (Amsterdam Artikel 5), der Bestimmung über die so genannte Subsidiarität, gesehen werden. Subsidiarität heißt in diesem Falle logischerweise, dass die europäische Ebene grundsätzlich nur das regelt, was auf nationaler Ebene nicht geregelt wird. Für Kulturpolitik gilt demnach - mit Konsequenzen auch für die Kulturförderung -, dass die europäische Ebene nur komplementär tätig werden sollte, sich jedoch - interpretiert man positiv - darauf nicht beschränken muss.
Bis 1992 wurden Kulturaktivitäten entweder unter einem rein marktwirtschaftlichen, wettbewerbsorientierten Ansatz betrachtet oder im Hinblick auf die Schaffung eines Europas der Bürger für sinnvoll angesehen, wobei sie sich beim letztgenannten Aspekt in einer juristischen Grauzone bewegten. Nun wurde durch den neuen Kultur-Artikel, so allgemein er formuliert sein mag, zum ersten Mal vertragsrechtlich überhaupt das Tätigkeitsfeld der Gemeinschaft im kulturellen Bereich verbindlich definiert:
- Verbesserung der Kenntnis und Verbreitung der Kultur und Geschichte der europäischen Völker;
- Erhaltung und Schutz des kulturellen Erbes von europäischer Bedeutung;
- nichtkommerzieller Kulturaustausch;
- künstlerisches und literarisches Schaffen, auch im audiovisuellen Bereich (mit Konsequenzen im Urheberrecht).
Das EP, dem bisher nur bei der Binnenmarktregelung ein Mitwirkungsrecht zugestanden hatte, erhielt mit dem Maastrichter Vertrag u.a. im Kulturbereich wie auch im Bildungsbereich ein Mitentscheidungsrecht, das heißt, europäische Kulturpolitik, die unter Art. 128 fällt - bzw. unter Art. 151 Amsterdamer Vertrag -, kann nur mit dem EP gestaltet werden. Die zukünftige europäische Kulturpolitik Europas ist also Sache der demokratisch und direkt gewählten Abgeordneten.
Man kann das mit Maastricht verabschiedete neue Kulturkonzept der EU in fünf Punkten knapp zusammenfassen und mit folgender Perspektive versehen:
1. Führung eines noch intensiveren Dialoges mit allen am Kulturbetrieb Beteiligten als zuvor;
2. Klare Prioritätensetzung bei Kulturfördermaßnahmen;
3. Subsidiaritätsprinzip und, damit verbunden, eine stärkere Transparenz der geplanten und eingeleiteten Initiativen;
4. Überprüfung der kulturellen Aktivitäten der EU auf die gesetzten Ziele hin;
5. Zusammenarbeit mit Drittländern und auch mit internationalen Organisationen wie dem Europarat und der UNESCO.
In diesem Tätigkeits- und folglich Förderungsfeld drückt sich kein elitäres Kulturverständnis aus. Es geht nicht um die Förderung einer prestigeträchtigen Kultur als Vehikel zur Selbstdarstellung der Gemeinschaft, sondern um die Schaffung einer europäischen Identität der Vielfalt und um die Berücksichtigung der kulturellen Dimension in allen Politiken und Programmen der Gemeinschaft ("horizontaler Ansatz"). Die so verstandene europäische Kulturpolitik kann und will nationale Kulturpolitik nicht ersetzen, sondern ihr nur eine zusätzliche europäische Dimension verleihen. Diese ist allerdings entscheidend und wird beispielhaft im Programm "Kulturhauptstadt Europas" manifest. Ansonsten sind die Befugnisse dieses Artikels so allgemein gehalten, dass der Gemeinschaft praktisch ein unbegrenztes Tätigkeitsfeld im kulturellen Bereich zur Verfügung steht, was sich auch auf Fördermaßnahmen erstreckt.
Für eine eigenständige europäische Kulturpolitik ist die Kulturverträglichkeitsklausel das Herzstück des Kultur-Artikels, der im Amsterdamer Vertrag noch präziser gefasst wurde: "Die Gemeinschaft trägt bei ihrer Tätigkeit aufgrund anderer Bestimmungen dieses Vertrages den kulturellen Aspekten Rechnung, insbesondere zur Wahrung und Förderung der Vielfalt ihrer Kulturen" (Art. 151,4). Einen solchen Passus gibt es in keiner nationalen Verfassung.
In meiner kulturpolitischen Interpretation (die verfassungsrechtliche ist diffiziler) ist die EU damit verpflichtet, in allen von ihr wahrgenommenen Politikfeldern dem speziellen Charakter der Kultur Rechnung zu tragen - was sich auch in der Kulturförderung auszuwirken hat -, und es bedeutet, dass die Dominanz der Ökonomie aufgehoben ist. Das gilt dann beispielsweise für den Komplex Buchpreisbindung: Die Ware Buch, unter kulturellem Aspekt betrachtet, verliert damit ihren bloßen Warenwert - und ist entsprechend nicht unter europäischen "freiem Wettbewerb" zu behandeln, sondern die Buchpreisbindung bleibt nach nationalem Recht aufrechterhalten. Mit dem Artikel 151,4 (Amsterdam) - dem der Umweltschutzbestimmung im Art. 174 nachgebildet - ist der Grundstein gelegt für eine singuläre europäische Kulturpolitik. Diesen positiven Aspekt für die Politik der kulturellen Belange in der Gemeinschaft nehmen nahezu alle späteren Dokumente - namentlich wenn sie aus dem EP kommen, wie beispielhaft der Ruffolo-Bericht (2001) - auf.
Kultur 2000
Die verschiedenen Kulturförderprogramme, die sich auf der Grundlage des Verfassungsartikels 128 (Maastricht) bzw. 151 (Amsterdam) und zum Teil schon davor entwickelt haben, wurden weitgehend im Programm "Kultur 2000" (Kaleidoskop, Ariane, Raphael) zusammengefasst und laufen laut Beschlusslage der EU-Gremien erst im Jahre 2006 aus. Das darauf folgende Programm "Kultur 2007" (2007 bis 2013) befindet sich seit dem 15. Juli 2004 im Prozess der Beratung.
Das Programm "Kultur 2000", das nach längerer Diskussion schließlich auf dem Kölner Gipfel 1999 verabschiedet werden konnte, hebt - mit den Worten der 15 Staats- und Regierungschefs - die Bedeutung der kulturellen Dimension im Unionsprozess hervor: "Zur europäischen Einigung gehört auch das Bewusstsein der kulturellen Zusammengehörigkeit. Deshalb fördert die Europäische Union die kulturelle Zusammenarbeit und den Kulturausstausch. Es gilt, die Vielfalt und die Tiefe der europäischen Kulturen zu erhalten und zu fördern." Als zentrale Aktionen der europäischen Kulturförderung werden die Europäische Kulturhauptstadt und das neue Rahmenprogramm "Kultur 2000" hervorgehoben. Darüber hinaus werden Kulturprojekte im Rahmen der Strukturfonds, "sofern sie zur Schaffung dauerhafter Arbeitsplätze beitragen", ausdrücklich begrüßt.
Für die Durchsetzung dieses Programms haben sich die Kulturschaffenden und ihre Verbände wie nie zuvor engagiert. Auch wenn es letztlich - entgegen dem Vorschlag des Europäischen Parlaments - lediglich mit 167 Millionen Euro im Haushalt ausgewiesen wurde, an denen überdies die 12 mittel- und südosteuropäischen Länder (mit zusätzlich 16 Millionen Euro) zu beteiligen sind, ist mit diesem Programm doch immerhin eines manifestiert worden: Kulturpolitik ist jetzt ein Faktor sui generis der Gemeinschaft. "Aufgrund der zunehmenden Bedeutung der Kultur für die europäische Gemeinschaft und der Herausforderungen, vor denen die Gemeinschaft an der Schwelle zum 21. Jahrhundert steht, ist es notwendig, die Effizienz und Kohärenz der Tätigkeit der Gemeinschaft im kulturellen Bereich zu erhöhen, [nämlich, O. S.] die Kultur stärker in die einzelnen Gemeinschaftspolitiken einzubeziehen", heißt es zur Begründung des Programms "Kultur 2000".
Die EU war in der europäischen Kulturpolitik angekommen und bekennt sich zu einem "gemeinsamen Kulturraum der Europäer", was im späteren Ruffolo-Bericht (2001) noch stärker und gedanklich untermauert wird. Sie beginnt sich auf das ihr originäre kulturelle Thema konzeptionell einzustellen: "Wahrung und Förderung der Vielfalt der Kulturen", wozu ihre Charta der Grundrechte noch "Religionen und Sprachen" hinzufügt - sowohl in der Präambel als auch im Artikel 22. Zusammen mit dem Wortlaut des Kultur-Artikels 151,4 (Vertrag von Amsterdam) - "Die Gemeinschaft trägt bei ihrer Tätigkeit den kulturellen Aspekten Rechnung, insbesondere zur Wahrung und Förderung der Vielfalt ihrer Kulturen" - erkennen wir einen kulturwirksamen Dreiklang der Gemeinschaft. Darin hat die EU auch gegenüber anderen kulturpolitischen Instanzen - Europarat, UNESCO, OSZE etc. - ihr singuläres Kulturprofil erlangt. Diese Tendenz könnte in dem Vorschlag der Kommission für das "Programm Kultur 2007" (2007 - 2013), über das eine Diskussion gerade erst eingesetzt hat, verstärkt werden.
Kulturförderperspektiven
Der lange Weg von einer bloßen Wirtschafts- zu einer Wertegemeinschaft kann mit der Annahme der Verfassung für Europa im Wesentlichen als abgeschlossen angesehen werden. Darin ist der Stellenwert der Kultur für die EU nochmals erhöht. War in der Grundrechtecharta (Nizza 2000), die nun integraler Bestandteil des Verfassungswerkes ist, noch allgemein von "geistigem Erbe" die Rede, so heißt es in der Präambel präziser, "daß der Kontinent Europa (...) im Laufe der Jahrhunderte die Werte (...) Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft (entwickelte) und (...) schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas" fortschreiten wird, gebunden an Offenheit für "Kultur, Wissen und Fortschritt".
Wie könnte auf der Basis solch hehren Selbstverständnisses der EU das neue Förderprogramm "Kultur 2007" aussehen? Der Vorschlag der Kommission dafür liegt nun vor.
Weder inhaltlich noch materiell trägt die Vorlage den hohen Ansprüchen der Verfassung Rechnung. Der Finanzansatz für das Sieben-Jahres-Programm beläuft sich auf lediglich 408 Millionen Euro - für 450 Millionen EU-Bürger in 25 Mitglieds- sowie weiteren Anwärterländern (incl. EWR/EFTA = 33 Länder).
Man wird der Kommission und ihren Beraterinnen und Beratern nicht unterstellen können, aus gewissen Defiziten - etwa der Unverbundenheit des Rahmenprogramms "Kultur 2000" mit anderen kulturellen Gemeinschaftsaktionen - bei der Realisierung nichts gelernt zu haben. In sich ist das Programm samt seiner Begründung formal stimmig, wenn schwerpunktmäßig für den Ausbau der Zusammenarbeit zwischen Kulturschaffenden, Kulturakteuren und kulturellen Einrichtungen folgende Maßnahmen zur Verwirklichung eines gemeinsamen europäischen Kulturraumes erwogen werden:
- Unterstützung der grenzüberschreitenden Mobilität von Menschen, die im Kultursektor arbeiten;
- Unterstützung der internationalen Verbreitung von kulturellen Werken und Erzeugnissen;
- Förderung des interkulturellen Dialogs - mit dem Ziel, damit "einen maximalen Zusatznutzen auf europäischer Ebene anzustreben";
- Ausbau von "resonanzträchtigen Vorhaben" von europäischer Bedeutung, wie z.B. das der "Kulturhauptstädte Europas";
- Unterstützung von Analysen im Bereich der kulturellen Zusammenarbeit in Europa.
Auch "offener" soll das künftige Programm sein und weniger "bürokratisch" gehandhabt werden durch Aufhebung des "sektorbezogenen Ansatzes", damit in Zukunft "kein Aspekt des kulturellen und künstlerischen Schaffens" ausgeschlossen bleibt und neue Kooperationen möglich werden. Es wird auch auf die globale Dimension für Aktionen der EU hingewiesen; doch was folgt daraus förderpolitisch?
Zum globalen Aspekt heißt es, dass Kultur dazu beitragen kann, dem "Erscheinungsbild der EU in der Welt mehr Kontur zu geben". Das wird zu bezweifeln sein, wenn die Sektoralisierung ihrer gemeinsamen Außenpolitik - wie es scheint - weiter voranschreitet, wo ein gesamtpolitisches, integratives Konzept dafür vonnöten wäre. Ob diese Aufgabe ein künftiger Außenminister der EU mit seinen erweiterten Kompetenzen (und eigenem Auswärtigen Dienst) leisten wird, ist noch völlig offen. Jedenfalls animiert ihn (oder sie) der vorliegende Vorschlag der Kommission keineswegs, sich auch der gemeinsamen außenkulturpolitischen Interessen anzunehmen.
Dem hohen Niveau der Verfassung für Europa entspricht die Vorlage der Kommission für eine künftige Kulturpolitik der EU keineswegs. Sie bleibt einer bloßen Summierung (und dürftigen Dotierung) der Programme verhaftet, lässt auch nicht die Konturen eines kulturpolitischen Konzepts erkennen und ignoriert jegliche Zukunftsvision. Sie wird vor allem bittere Enttäuschung bei den neuen Mitgliedsländern hervorrufen - materiell wie inhaltlich. Wie soll namentlich aus den mitteleuropäischen Ländern deren von uns Westeuropäern so sehr erwünschter kultureller Beitrag erbracht werden, wenn ihnen dazu fast keine Mittel aus Brüssel bereitgestellt werden? Die Kulturförderung seitens der EU würde - wenn die Kommission ihren Vorschlag durchsetzen könnte - nicht nur stagnieren, sondern letztlich auf ein so geringes Niveau zurückfallen, dass von einer EU-Kulturpolitik nicht mehr ernsthaft die Rede sein könnte.
Wie könnte ein Konzept für eine positive Kulturpolitik - neben einer erheblich besseren finanziellen Ausstattung
Wenn einleitend selbstkritisch als Defizit angemerkt wird, dass es "derzeit an einer echten Unterstützung der Denkarbeit über die Herausforderung und Möglichkeiten der kulturellen Zusammenarbeit in Europa" mangelt, so gilt das bedauerlicherweise explizit für den vorgelegten Entwurf der Kommission. Es ist kein Europa-Weiter-Denken in Sicht: Es entsteht der Eindruck, dass es für die Kommission den Text der Verfassung für Europa noch nicht gibt - dass dieser seinen Weg durch die Parlamente der Mitgliedsstaaten noch nicht absolviert hat, kann keine Entschuldigung sein. Das nenne ich nicht nur schlechtweg Denkfaulheit, sondern das ist politische Fahrlässigkeit: Europäische Kulturpolitik auf derart niedrigem Niveau betreiben zu wollen ist fataler als der so niedrig angesetzte Haushaltsansatz von 59 Millionen Euro jährlich für mehr als 450 Millionen EU-Bürger. Kulturschaffende und ihre Verbände können nicht hoffen, dass das EP durch seinen Kulturausschuss eine politische und materielle Totalrevision dieses Kommissionsvorschlags durchsetzt.