Einleitung*
Der Streit um die "Parteipolitisierung" des Bundesrates ist, auch wenn die gegenwärtigen Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat ihn wieder einmal auf die politische Agenda bringen, nicht neu. Bereits zu Zeiten der sozial-liberalen Regierung Schmidt/Genscher Mitte der siebziger Jahre haben es die von den Oppositionsparteien im Bund regierten Länder mit ihrer Stimmenmehrheit im Bundesrat erfolgreich verstanden, eine Reihe von hochpolitischen Gesetzen im Sinne ihrer (Bundes-)Parteien zu verändern. Dabei stand zunächst die Frage im Mittelpunkt der Diskussion, ob die Landesregierungen ihr Stimmverhalten im Bundesrat überhaupt parteipolitisch begründen dürften und sich nicht vielmehr auf "Landesinteressen" zu beschränken hätten.
Angesichts dessen, dass sich in den Landesverfassungen naturgemäß keinerlei Aussagen über die jeweiligen Interessen eines Landes finden lassen, verbleibt die Definitionshoheit über diese bei den Landesregierungen. Damit stellt sich die Frage, ob sich aus der Perspektive der ihrerseits aus Parteien zusammengesetzten Landesregierungen nicht auch solche Entscheidungen als dem Landesinteresse gemäß definieren lassen, die dem ersten Augenschein nach (bundes)parteipolitischer Natur sind. Diese Frage steht im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen.
* Professor Stefan Immerfall und Dr. Gudrun Heinrich sei herzlich für hilfreiche Anmerkungen und Anregungen gedankt.
Die Beteiligung des Bundesrates an der Gesetzgebung
Über den Bundesrat "wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes (...) mit"
Der Bundesrat verfügt über ein Initiativrecht und ist zu allen Gesetzesinitiativen der Bundesregierung zu hören (Art. 76 GG). Hat der Bundestag einen Gesetzesbeschluss gefasst, so ist dieser dem Bundesrat vorzulegen, der - je nach Charakter des Gesetzes - entweder Einspruch einlegen oder die Zustimmung verweigern kann. In letzterem Fall ist ein solches Gesetz endgültig gescheitert (Art. 77 GG).
Die Entscheidung, ob eine Initiative in den Bundesrat eingebracht, Einspruch gegen einen Gesetzesbeschluss eingelegt oder einem Beschluss die Zustimmung verweigert werden soll, wird - wie alle Beschlüsse des Bundesrates - mit der Mehrheit seiner Stimmen gefällt, wobei die Stimmen eines Landes einheitlich abgegeben werden müssen (Art. 52 III GG).
Das Grundgesetz selbst schweigt sich über die Motive, die die Landesregierungen zu ihren jeweiligen Entscheidungen bewegen können, wohlweislich aus. Einmal abgesehen davon, dass eine solche Festlegung verfassungsstrukturell nicht üblich wäre, würde sich darüber hinaus die Frage stellen, ob und inwieweit diese Motive abstrakt zu definieren wären.
Der Bundesrat als Hüter der Länderinteressen
Dass ein Staatsorgan, das sich aus Vertretern der Landesregierungen zusammensetzt, primär die Interessen dieser Länder in die Bundesgesetzgebung einbringen soll, war und ist unbestritten. Gleichwohl ist der Bundesrat kein "Gemeinschaftsorgan der Länder zur Vertretung ihrer Länderinteressen"; er soll vielmehr "Bundes- und Länderinteressen in möglichste Übereinstimmung" bringen.
Verfolgt man die Diskussion der letzten 30 Jahre, so kann man den Eindruck gewinnen, es gäbe tatsächlich quasi "objektive" Landesinteressen. Danach lassen sich zwei Arten von Landesinteressen unterscheiden:
- landesspezifische Interessen: Diese werden zum einen im Wesentlichen an den wirtschaftsgeographischen Bedingungen eines Landes festgemacht. Handelt es sich um ein Küstenland, so wird es Interesse an der Förderung des Schiffbaues durch den Bund haben. Ist der Weinbau ein besonderer Wirtschaftsfaktor, so sind beispielsweise umweltpolitische Maßnahmen, die diesen möglicherweise einschränken, nicht im Sinne des Landes, und so weiter.
- föderale Interessen: Damit sind diejenigen Interessen gemeint, die allen Ländern im Verhältnis zum Bund gemein sind. Da ist zunächst das Interesse aller Länder, Bundesgesetze mit finanziellen Auswirkungen - sprich: Ausgabenerhöhungen - für ihre Landeskassen oder die ihrer Kommunen zu vermeiden. Hier stehen sie zumeist geschlossen dem Bund gegenüber. Sodann sind alle Konflikte über die Auslegung der jeweiligen Kompetenzen von Bund und Ländern zu nennen, die, werden sie nicht politisch entschieden, letztlich als klassische Bund-Länder-Konflikte vor dem Bundesverfassungsgericht enden. Auch Konflikte über die Ausdehnung von Bundeskompetenzen zu Lasten der Länder wären denkbar, sind in der Praxis allerdings überraschend selten - bekanntlich hat ja nicht zuletzt die bereitwillige Überantwortung legislativer Kompetenzen der Länder an den Bund zur Ausdehnung der Zustimmungsgesetze geführt.
Gleichwohl bleiben diese Kriterien zum einen notwendigerweise abstrakt, sie bedürfen der steten Konkretisierung dessen, was im jeweiligen Einzelfall als Landesinteresse zu verstehen ist. Hinzu kommt, dass nicht selten Kollisionen zwischen einzelnen Landesinteressen denkbar sind, die gelöst werden müssen. Insofern muss es zwangsläufig der jeweiligen Landesregierung und den sie stützenden Fraktionen überlassen bleiben, die "abstrakten Hülsen" der Landesinteressen auszufüllen und einen Ausgleich im jeweils aktuellen Fall ihrer Stellungnahme zu einem Bundesgesetz herzustellen.
Parteipolitik im Bundesrat
Ungeachtet dessen, dass letztendlich die Landesregierungen allein darüber entscheiden, was das Landesinteresse im konkreten Fall ist, wird dieses in der Diskussion doch stets klar von so genannten "parteipolitischen Interessen" unterschieden. Was aber sind "parteipolitische Interessen"?
Angesichts dessen, dass sich der Vorwurf, im Bundesrat Parteipolitik zu betreiben, naturgemäß an die Landesregierungen richten muss, können damit nur die Interessen der jeweiligen Landesparteien gemeint sein, die diese Regierungen stellen. Aufgrund des auf Bundes- und Landesebene weitgehend kongruenten Parteiensystems in Deutschland
Gleichwohl scheint mit dieser Kritik, obgleich stets allgemein formuliert, keineswegs die gesamte "Parteipolitik" gemeint zu sein, wie man bei genauer Betrachtung der Debatten der siebziger und neunziger Jahren feststellen kann. Verwerflich, so gewinnt man den Eindruck, ist nur der Versuch der jeweiligen Bundestagsopposition, bei divergierenden Mehrheiten
Auf der anderen Seite scheint auch die Orientierung der O-Länder (also jener Länder, in denen die Regierung ausschließlich von Parteien gestellt wird, die sich in der Bundestagsopposition befinden) dann nicht problematisch zu sein, wenn sie sich aus eben diesen Gründen für eine Gesetzesvorlage der Bundesregierung aussprechen. Dies mag auf den ersten Blick unwahrscheinlich sein, geht man von einem konfrontativen Oppositionsstil aus. Entsprechende Untersuchungen haben allerdings gezeigt, dass in der Bundesrepublik ein kooperativer Politikstil der Opposition - und damit häufig auch der O-Länder - überwiegt, bei dem eine Unterstützung der Bundesregierung, zumal in weitgehend unstrittigen und wenig öffentlichkeitswirksamen Fällen, nicht selten ist.
Das Verhältnis von Parteipolitik und Länderinteressen
Wie bereits ausgeführt, wurde den Ländern im Verlauf der Diskussion zumindest in der staatsrechtlichen Literatur und ebenso in Teilen der Politikwissenschaft durchaus zugestanden, ihre Entscheidungen auch parteipolitisch begründen zu dürfen. Hieß es zu Beginn der Debatte noch, Grundlage der Entscheidungen im Bundesrat müssten "die besonderen Erfahrungen, Einsichten, Bedürfnisse der Verwaltung" sowie "das besondere Verhältnis zwischen Bund und Ländern" sein
Parteipolitik im Landesinteresse
Obwohl also das Verhältnis zwischen Landesinteressen und Parteipolitik etwas "entspannter" wurde, hielten Forschung, Politik und öffentliche Meinung weiter an der grundsätzlichen Unterscheidung von beidem fest - und das, obwohl es nicht an Stimmen gefehlt hatte, die schon früh auf das Problem dieser Differenzierung hingewiesen hatten.
Zum einen muss man sich vor Augen führen, dass in vielen Fällen, in denen den Ländern parteipolitische Positionierungen vorgeworfen werden, zumindest auch originäre Landesinteressen im oben definierten Sinn vorliegen. So gibt es kaum ein Gesetz, dass nicht direkt oder indirekt Kosten für die Länder erzeugt. Dies wird zum Beispiel beim jüngst verabschiedeten und zuvor parteipolitisch umstrittenen Zuwanderungsgesetz deutlich. Zwar wurde die ablehnende Haltung der CDU- bzw. CSU-geführten Länder gegenüber dem Gesetzentwurf tatsächlich überwiegend mit grundsätzlichen programmatischen Positionen ihrer Parteien begründet. Gleichwohl lassen sich bei genauer Betrachtung auch bei diesem scheinbar eindeutig bundespolitischen Thema originäre Landesinteressen erkennen, die auch deutlich gemacht wurden: So wies der saarländische Ministerpräsident Müller (CDU) in seiner Rede im Bundestag anlässlich der Verabschiedung des Gesetzes darauf hin, dass auch die Frage, in welchem Maße sich Bund und Länder die Kosten der Integration teilen, eine Rolle bei den Verhandlungen gespielt habe.
Aber selbst wenn man diesem Punkt im Rahmen der gesamten Debatte einen eher marginalen Stellenwert zumisst, bildet der Aspekt der finanziellen Betroffenheit der Länder doch eine Brücke zur generellen Legitimierung parteipolitischer Begründungen von Länderpositionen. Die Beachtung der finanziellen Interessen des Landes resultiert schließlich aus der Verpflichtung jeder Landesregierung, die Bedürfnisse seiner Bevölkerung in ihrer Gesamtheit zu berücksichtigen. Dies weist auf die Verantwortlichkeit der Landesregierung zunächst gegenüber den sie stützenden Fraktionen bzw. Parteien im Landtag und dieser wiederum gegenüber ihren Wählern hin. Auch hier ist eine Argumentation im Rahmen der Zuwanderungsdebatte von Interesse: In der Begründung seines Stimmverhaltens im Bundesrat am 22. März 2002 wies der Innenminister des Landes Brandenburg, Jörg Schönbohm (CDU), darauf hin, das Land sei auch insofern von den Regelungen des Zuwanderungsgesetzes betroffen, als dieses Auswirkungen auf "die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Ausländerextremismus"
Woran kann, woran muss sich die Landesregierung bei der Bewertung der positiven oder negativen Folgen eines Gesetzes auf ihre Bürger orientieren? Im Sinne einer konsistenten Regierungspolitik kann dies hier sinnvollerweise nur ihre generelle Programmatik sein, niedergelegt in ihrer Regierungserklärung, basierend auf dem Programm bzw. den Programmen der sie bildenden Partei(en). Zwar trifft es zu, dass speziell die Regierungserklärungen der Landesregierungen sich im Wesentlichen auf die Bereiche beziehen, die in die Kompetenz der Länder fallen. Gleichwohl lassen sich daraus aber auch Konsequenzen für die Positionierung der Landesregierungen im Bundesrat ziehen: Eine Landesregierung, die ihre Wirtschaftspolitik an liberalen Grundsätzen orientiert, wird dirigistischen Maßnahmen in einem Bundesgesetz kaum zustimmen können. Eine Partei, die in ihrem Land durch entsprechende Maßnahmen beispielsweise der Integration der dort lebenden ausländischen Mitbürger den Vorzug vor der Aufnahme neuer Immigranten gibt, kann im Bundesrat schlechterdings einem weiteren Zuzug von Ausländern nicht zustimmen, ohne bei ihren Wählern unglaubwürdig zu werden. Hinzu kommt, dass aufgrund der proaktiv gestellten Frage bei Zustimmungsgesetzen die Enthaltung eines Landes bei vermeintlich die Länder nicht betreffenden Gesetzen faktisch die Zustimmung zu dem betreffenden Gesetz bedeuten würde.
Schließlich enthalten die Wahlprogramme der Parteien zu Landtagswahlen nicht selten dezidiert bundespolitische Forderungen, die - unabhängig davon, ob der Wähler diesen Unterschied nun erkennt oder nicht - durch die Landesregierung selbst bei einem Wahlerfolg nicht umsetzbar wären, weil sie in die Kompetenz des Bundes fallen. Ein Beispiel dafür sind die in allen Wahlprogrammen der niedersächsischen Grünen seit 1978 erhobenen atompolitischen Forderungen (Stopp der Wiederaufbereitungspläne, Kein Endlager in Schacht Konrad etc.). Die Landesparteien formulieren also schon in ihren Wahlprogrammen bundespolitische Positionen, nicht zuletzt, um ihren Wählern das Vorgehen einer von ihnen gebildeten Regierung im Bundesrat bereits vor der Wahl zu verdeutlichen. Auch an diesen Festlegungen wird eine Landespartei und die von ihr gegebenenfalls gebildete Regierung gemessen; hinter diese kann sie nicht zurück.
Dass die in diesen Landeswahlprogrammen erhobenen Forderungen und formulierten Positionen mit denen ihrer jeweiligen Bundesparteien, jedenfalls soweit sie sich auf bundespolitische Themen beziehen, weitgehend identisch sein werden, wird niemanden erstaunen. Daraus nun den Schluss zu ziehen, die Landesregierungen betrieben Bundespolitik, ist nach dem bisher Gesagten nicht überzeugend.
Fazit
Natürlich soll das bisher Dargestellte nicht verschleiern, dass es sehr wohl stets Versuche seitens der Bundesparteien von SPD und CDU gegeben hat, ihre jeweilige parteipolitische Mehrheit im Bundesrat zur Durchsetzung von Zielen einzusetzen, die sie als Bundestagsopposition nicht erreichen konnten. Dies war unter Helmut Kohl in den siebziger Jahren ebenso der Fall wie in den neunziger Jahren bei Oskar Lafontaine. Auch Angela Merkel bemüht sich immer wieder um einen "Schulterschluss" der CDU/CSU-geführten Länder zur Beeinflussung von Gesetzen der rot-grünen Bundesregierung. Dass dies freilich nur dann erfolgversprechend ist, wenn keine strukturellen oder föderalen Landesinteressen dagegen sprechen, zeigt zuletzt der gescheiterte Versuch, eine geschlossene Front der Oppositionsländer gegenüber der Steuerreform 2000 zu Stande zu bringen. Andererseits belegt das gemeinsame Vorgehen der O-Länder bei der Gesundheitsreform 2003 und den Arbeitsmarktreformen 2003/04 ebenso wie beim bereits genannten Zuwanderungsgesetz, dass es durchaus möglich ist, das Verhalten von Bundestagsopposition und O-Ländern zu koordinieren. Dass darf aber nicht zu dem Schluss verleiten, man habe es - auch in Fällen, in denen keine strukturellen oder föderalen Landesinteressen vorliegen - mit der systemwidrigen Übernahme bundespolitischer Forderungen durch die Landesparteien zu tun. Vielmehr ist hier von einer - wenig überraschenden - Übereinstimmung der Ziele von Bundes- und Landespartei auszugehen. Der immer noch vielfach postulierte Dualismus zwischen Landes- und Parteiinteressen beruht also in dieser Hinsicht auf einer im Grunde fiktiven Differenzierung, die sich bei genauerer Betrachtung aufgrund der Definitionshoheit der Landesregierungen über "ihr" Landesinteresse als nicht haltbar erweist. Es gibt keine "objektive" Unterscheidbarkeit von Landes- und Parteiinteressen - vielmehr sind es die Landesregierungen selbst, die in jedem Einzelfall abwägen müssen, was im Interesse ihres Landes liegt. Dies kann aus spezifischen oder föderalen Faktoren resultieren, aber ebenso auch aus der Programmatik der Landesparteien. Damit bleibt die Beachtung der Landesinteressen im bisherigen Verständnis gewahrt, wie auch die langjährige Praxis im Bundesrat gezeigt hat. Wissenschaft, Publizistik und Parteien sollten sich aber von dem lange gepflegten und - soweit es die Parteien betrifft - aus strategischen Überlegungen heraus von Zeit zu Zeit immer wieder gern gezeichneten Bild eines Interessendualismus zwischen Landes- und Parteiinteressen verabschieden. Dies würde vor allem der politischen Kultur unseres Landes zugute kommen: Es wäre ein Schritt dahin, die Bürger mit der Realität unseres politischen Systems wieder etwas zu versöhnen und könnte den von Werner Patzelt so anschaulich dargestellten "latenten Verfassungskonflikt"