Einleitung
"Der Bundesrat ist das Langweiligste gewesen, was man hat erfinden können, wo einen immer gleich Müdigkeit überfiel, weil alles schon vorher ,ausgekocht` war."
Am 22. März 2002 konnte von Langeweile keine Rede sein. Fünf Stunden lang wurde unter dem Vorsitz des damaligen Bundesratspräsidenten Klaus Wowereit (SPD) lebhaft über die Vor- und Nachteile des Einwanderungsgesetzes der rot-grünen Koalition debattiert. Wegen der parteipolitischen Pattsituation im Bundesrat kam es auf die Stimmen des von einer Großen Koalition aus SPD und CDU regierten Landes Brandenburg an. Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) hatte angekündigt, das Gesetz abzulehnen. Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) wollte dagegen für den Entwurf stimmen. Im Saal konnte man buchstäblich eine Stecknadel fallen hören, als Wowereit das Land Brandenburg zur Stimmabgabe aufrief: "Ja" - "Nein". Wowereit fragte nach, wertete dann das "Ja" des brandenburgischen Ministerpräsidenten als Zustimmung. Nun brach ein Tumult los. "Das ist unmöglich!", "Verfassungsbruch!"
In der Geschichte des Bundesrats war dieser Vorfall ein einzigartiges Spektakel. Neu war freilich nicht die parteipolitische Konfrontation - im Gegenteil: Die parteipolitische Durchdringung des Bundesrats ist seit langem üblich. Vor 1998 klagte Helmut Kohl (CDU), dass die SPD seine Reformen im Bundesrat verhindere. Jetzt - der Bundeskanzler heißt mittlerweile Gerhard Schröder (SPD) und die Union hat die Mehrheit im Bundesrat - sieht die rot-grüne Koalition die "Länderkammer" als Ursache von Politikblockaden. Ob Zuwanderung, Renten-, Steuer- oder Gesundheitsreform - wer nach Gründen für den allseits beklagten "Reformstau" in Deutschland sucht, landet früher oder später auch beim Bundesrat. Die Politik reagiert auf diese Gemengelage derzeit in zweierlei Hinsicht: Zum einen sucht die Regierung das Gespräch mit der Opposition, um im Wege einer informellen "Großen Koalition" die Zustimmung der Bundesratsmehrheit für notwendige Reformprojekte zu sichern. Zum anderen wird immer öfter über eine Verringerung der Kompetenzen oder sogar über eine strukturelle Reform des "Veto-Organs"
Im Folgenden soll untersucht werden, warum der Bundesrat immer stärker parteipolitisch funktionalisiert wird und welche Folgen dies für den politischen Prozess hat.
Die besondere Architektur des Bundesrats
Der Bundesrat ist eine weltweit einzigartige Institution und insofern ein besonderes Strukturmerkmal des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Zwar haben alle föderalistisch verfassten Staaten ein Zwei-Kammer-Parlament, aber nirgendwo sonst sind die zweiten Kammern nach jenem Prinzip konstruiert, für das sich der Parlamentarische Rat im Jahr 1949 entschieden hat: nach dem so genannten "Bundesratsprinzip". Danach besteht der Bundesrat aus Mitgliedern der Regierungen der Länder, die sie bestellen und abberufen (Art. 51 I GG). Im Gegensatz etwa zum Senat der USA, der sich aus direkt gewählten Abgeordneten mit freiem Mandat zusammensetzt, sind die 69 Mitglieder des Bundesrats weisungsgebunden. Und im Unterschied zum österreichischen Modell wird der deutsche Bundesrat eben nicht von den Länderparlamenten beschickt, sondern von den Regierungen der Länder.
Aus gutem Grund ist diese besondere Struktur des Bundesrats immer wieder gelobt worden. Durch die Landesregierungen findet die Verwaltungserfahrung der Länder Eingang in den Gesetzgebungsprozess des Bundes. Außerdem verkörpert der Bundesrat, anders als der Deutsche Bundestag, der innerhalb der Ausschüsse und besonders innerhalb der Fraktionen stark hierarchisiert ist, eine relativ abgeschlossene, kollegial arbeitende "Oligarchie"
Das Bundesratssystem hat aber auch potenziell problematische Folgen für den politischen Prozess. Denn auf den Bundesrat wirkt sich unmittelbar ein weiteres Strukturmerkmal der Bundesrepublik aus: die Kombination des Bundesstaats mit der über Art. 21 Grundgesetz gesicherten Mitwirkung der Parteien an der politischen Willensbildung.
Die Häufung von Wahlen hat einige Folgen, die sich nicht unbedingt positiv auf das Gemeinwesen auswirken. So ruft der Dauerwahlkampf "den für Wahlkampfzeiten typischen Zustand fieberhafter Erregung hervor und bekräftigt die Neigung zu relativ kurzfristiger Politik, vor allem die Neigung zu einer am nächsten Wahltermin ausgerichteten Politik. Das aber erschwert die Planung und Durchführung langfristiger Vorhaben."
Eine weitere Folge ergibt sich aus der Tatsache, dass das Grundgesetz die politische Partizipation im Bund auf die nur alle vier Jahre stattfindenden Bundestagswahlen beschränkt hat. Während dieser vier Jahre sind deshalb die Landtagswahlen, neben der Europawahl, die einzige Möglichkeit, Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit der Bundesregierung zu artikulieren. Landtagswahlen haben aus diesem Grunde immer mehr den Charakter von "Testwahlen" angenommen und fungieren als Stimmungsbarometer für die Bundespolitik. Sie begünstigen insofern ein Sanktionsverhalten des Wählers. In der Regel kommt es bei Landtagswahlen zu Stimmenverlusten für die im Bund regierenden Parteien. Seit dem Amtsantritt von Bundeskanzler Gerhard Schröder im Jahr 1998 musste sich seine rot-grüne Regierung bis Ende 2004 insgesamt 24 Mal dem Test in den Ländern stellen. Dabei hatten SPD und Bündnis 90/Die Grünen - von wenigen Ausnahmen abgesehen - zum Teil drastische Stimmeneinbußen hinzunehmen.
Nach der Bundestagswahl von 2002, welche die rot-grüne Koalition knapp gewann, setzte sich dieser Trend noch dramatischer fort. Vor allem die SPD musste im Zuge einschneidender Reformprojekte (Stichwort: "Hartz IV") deutliche Stimmenverluste in den Ländern verkraften. Alles in allem hat sie seit 1998 in fünf Ländern (Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Saarland, Sachsen-Anhalt) die Regierung an die CDU verloren. Dem stand lediglich der Wechsel in Berlin von einer CDU/SPD-Koalition zu einem Bündnis aus SPD und PDS gegenüber. Dadurch büßte das rot-grüne Lager insgesamt 21 Stimmen im Bundesrat ein. CDU/CSU und FDP erging es übrigens nach dem Amtsantritt Helmut Kohls im Jahr 1982 nicht anders. Auch sie erlitten im Verlauf ihrer Regierungszeit Stimmeneinbußen in den Ländern. Allerdings verlief dieser Prozess damals längerfristiger und weniger dramatisch als später bei Rot-Grün.
Die Folgen der Sanktionswahl können beträchtlich sein. "Indem sie nämlich Gelegenheit bieten, die jeweilige Bundesregierung schon während der Legislaturperiode abzumahnen, vermindern die Landtagswahlen anscheinend den Sanktionsanreiz bei der nachfolgenden Bundestagswahl. Mit Blick auf den rechtsextremen Protest hatte das bislang den erfreulichen Effekt, dass dessen Vertreter aus dem Bundestag herausgehalten werden konnten."
Ein zweiter Effekt der Sanktionswahl ist, dass es in den vergangenen Jahren immer öfter zum Phänomen unterschiedlicher parteipolitischer Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat gekommen ist. Denn der Ausgang von Landtagswahlen entscheidet ja nicht nur über die Zusammensetzung der betreffenden Landesregierung, sondern auch über die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat.
Zwischen 1949 und 1969 waren die parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse in Bundesrat und Bundestag noch weitgehend identisch. Die Bundeskanzler Adenauer, Erhard und Kiesinger mussten sich zu keiner Zeit mit opponierenden Mehrheiten im Bundesrat auseinander setzen. Unterschiedliche Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat gab es dann erstmals während der Regierungszeit der sozialliberalen Koalition 1969 bis 1982.
Nach dem Regierungswechsel von 1998 konnte Bundeskanzler Schröder anfangs mit einer eigenen SPD-Mehrheit im Bundesrat rechnen. Diese Phase dauerte allerdings nur knappe drei Jahre. Seit den Regierungswechseln in Hessen, Hamburg, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen verfügen die CDU/CSU-geführten Landesregierungen wieder über eine absolute Stimmenmehrheit.
Es bleibt somit zweierlei festzuhalten: Das Bundesratssystem, also die über den Bundesrat gesicherte Mitwirkung der Länderregierungen an der Gesetzgebung des Bundes, hat zum einen dazu geführt, dass jede Landtagswahl auch beträchtliches bundespolitisches Gewicht hat. Zum anderen ist das Auseinanderfallen von Bundestag- und Bundesratsmehrheit seit 1969 fast schon zu einem Regelfall geworden. Eine solche Analyse kann für den politischen Prozess komplizierte Konstellationen ergeben, insbesondere dann, wenn die Bundesregierung bei ihren Politikvorhaben auf die Zustimmung der Länderkammer angewiesen ist.
Das Gewicht der Zustimmungsgesetze
Nicht alle Gesetze sind von der Vetomacht der Länderkammer gleichermaßen betroffen. Bei einfachen Gesetzen kann der Bundesrat das Zustandekommen zwar verzögern, aber nicht endgültig verhindern. Der Bundestag ist hier in der Lage, das Veto der Länderkammer zu überstimmen. Das politische Gewicht des Bundesrates ergibt sich hauptsächlich aus dem Mitwirkungsrecht bei einer zweiten Gruppe von Gesetzen, den so genannten Zustimmungsgesetzen. Gesetze, durch welche die Interessen der Länder in besonderer Weise berührt werden, können nämlich nur in Kraft treten, wenn ihnen der Bundesrat ausdrücklich zustimmt. Bei einem endgültigen Nein des Bundesrates sind solche Gesetze gescheitert. Die Ablehnung durch den Bundesrat kann vom Bundestag nicht überstimmt werden. Bundestag und Bundesregierung können lediglich durch Anrufung des Vermittlungsausschusses einen Einigungsversuch unternehmen.
Wann ein Gesetz die Zustimmung des Bundesrates benötigt, ist zu einem großen Teil im Grundgesetz geregelt. Nach Art. 79 II GG gehören dazu zunächst die Änderungen des Grundgesetzes selbst. Die meisten Zustimmungsgesetze ergeben sich jedoch aus Art. 84 I GG. Denn jedes Bundesgesetz, das in die Verwaltungshoheit der Länder eingreift - und sei es nur durch eine einzige Regelung dieser Art -, bedarf danach insgesamt der Zustimmung des Bundesrats. Das gilt z.B. schon dann, wenn den Länderbehörden bestimmte Zuständigkeitsregelungen, Vordrucke, Fristen oder Verwaltungsgebühren vorgeschrieben werden. Wegen solcher Einzelbestimmungen können dann auch Gesetze zustimmungsbedürftig sein, die in ihrem Kernbereich keine Länderinteressen berühren. Eine dritte größere Gruppe von Zustimmungsgesetzen bilden die Gesetze, die das Finanzaufkommen der Länder berühren, z.B. zur Lohn- und Einkommensteuer. Und viertens schließlich sind auch die so genanntenGemeinschaftsaufgaben Zustimmungsgesetze. Diese wurden erst 1969 eingeführt und ermöglichten eine Mitwirkung des Bundes in bestimmten Länderangelegenheiten, wenn diese Aufgaben von den Ländern nicht alleine erfüllt werden konnten. Dazu gehört der Neubau und Ausbau von Hochschulen, die Verbesserung der regionalen Agrar- oder Wirtschaftsstruktur sowie der Küstenschutz.
Vor allem durch die Einführung dieser Gemeinschaftsaufgaben wurde die Zahl der Zustimmungsgesetze erheblich erweitert. Denn durch sie erhielt der Bund ein Mitspracherecht in ursprünglichen Länderangelegenheiten, und die Eigenständigkeit der Länder wurde erheblich eingeschränkt. Die Länder haben auf derartige Kompetenzverschiebungen zugunsten des Bundes immer mit der gleichen defensiven Strategie geantwortet: Ist die Notwendigkeit von Kompetenzverlagerungen nach oben nicht abzuweisen - etwa aus Geldmangel bei den Ländern -, dann drängen die Länder darauf, dass wenigstens ihre Mitwirkung an der Bundesgesetzgebung gewährleistet bleibt.
Mit den Kompetenzverlagerungen von den Ländern auf den Bund nahm also fast automatisch auch die Zahl der zustimmungsbedürftigen Gesetze zu. Zählt man die Gesetzesbeschlüsse seit 1949, dann ergibt sich ein Gesamtanteil von Zustimmungsgesetzen von genau 53,2 Prozent.
Alles in allem reicht daher die potenzielle Vetomacht des Bundesrats so weit, dass gegen ihn das Land kaum regierbar scheint. Bei den Zustimmungsgesetzen ist der Bundesregierung als dem politischen Machtzentrum im parlamentarischen System ein starkes Machtkorrektiv zur Seite gestellt. Die klassische horizontale Gewaltenteilung wird um ein zusätzliches Moment erweitert.
Dessen sind sich natürlich auch die politischen Akteure bewusst. Spätestens seit dem Machtwechsel von 1969, als in Bundesrat und Bundestag erstmals unterschiedliche parteipolitische Mehrheiten existierten, wirkte sich die Machtposition des Bundesrates auf die Gestaltungsmöglichkeiten der Bundesregierung aus. Denn von nun an konnte der Bundesrat nicht mehr nur zur Durchsetzung von Länderinteressen gegenüber dem Bund, sondern auch in einer parteipolitischen Dimension als"institutioneller Vetospieler"
Schon 1969 hatte der ehemalige Kanzler Kiesinger gedroht, der Bundesrat werde "ein wichtiges Instrument für die Opposition"
Noch konsequenter hat später die SPD die Vetomacht des Bundesrats genutzt. Zwischen 1996 und 1998 war die Regierung Kohl zur wirtschaftspolitischen Handlungsunfähigkeit verurteilt, weil ihr die oppositionelle SPD mit Blick auf die Bundestagswahl von 1998 zu keinen politischen Erfolgen mehr verhelfen wollte. Der damalige sozialdemokratische Parteivorsitzende Oskar Lafontaine schwor die Ministerpräsidenten der SPD-regierten Länder darauf ein, mit ihrer Bundesratsmehrheit gegen die Steuerreform der Regierung Kohl zu stimmen. Die christlich-liberale Koalition sollte den Wählern in Ohnmacht und Schwäche vorgeführt werden. Dieses Kalkül ging bekanntlich auf.
Auch gegenüber der rot-grünen Koalition unter Bundeskanzler Schröder zeigt die CDU/CSU-Opposition mittlerweile mit ihrer Bundesratsmehrheit die Krallen. Die oben beschriebene Abstimmung um das Zuwanderungsgesetz bildete gewissermaßen den Auftakt. Wenig später gewann die CDU die Wahlen in Sachsen-Anhalt und erhielt endgültig die Stimmenmehrheit im Bundesrat. Allein am 31. Mai 2002 stoppten die unionsgeführten Länder 14 Gesetze der rot-grünen Koalition.
Die Blockadebilanz
Parteipolitisch motivierte Blockadesituationen gibt es im Bundesrat also seit langem. Glaubt man den Schlagzeilen der Zeitungen, so gewinnt man den Eindruck, als ob eine solche Blockadepolitik zum politischen Alltag gehöre, sobald die Opposition über eine Mehrheit im Bundesrat verfügt. Wie aber sieht die tatsächliche Blockadebilanz des Bundesrats seit 1949 aus? Kann man wirklich von einer dauernden Vetohaltung des Bundesrats sprechen oder blieben die Blockaden begrenzt?
Als Ergebnis der statistischen Bestandsaufnahme ist zunächst festzuhalten, dass der Deutsche Bundestag von 1949 bis September 2003 insgesamt 6 107 Gesetzesbeschlüsse an den Bundesrat weitergeleitet hat. Davon gehörten 3 184 (53,2 Prozent) zur Gruppe der Zustimmungsgesetze, bei denen der Bundesrat ein absolutes Vetorecht hat. Zählt man nun die Gesetzesbeschlüsse des Bundestags, die aufgrund eines Vetos des Bundesrats endgültig gescheitert sind, so kommt man auf 66. Mit anderen Worten: Der Bundesrat hat in den 54 Jahren seines Bestehens gerade einmal 1,08 Prozent der Gesetzesbeschlüsse endgültig blockiert. Fast 99 Prozent aller bisher ergangenen Gesetze hat der Bundesrat im Sinne der Bundestagsmehrheit passieren lassen. Selbst wenn man nur die Zustimmungsgesetze berücksichtigt, bleibt es bei einem niedrigen Anteil der Vetoaktionen im Umfang von nur 2,1 Prozent. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den dem Bundesrat zugeleiteten Rechtsverordnungen.
Geht man der Frage nach, ob es in Zeiten divergierender Mehrheiten in Bundesrat und Bundestag zu höheren Blockadequoten gekommen ist, ergibt sich kein so eindeutiges Bild, wie man vielleicht erwartet hätte. Tatsächlich hat es in einigen Legislaturperioden mehr Vetosituationen gegeben als in anderen. So wurde die sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Schmidt in der achten Legislaturperiode von dem CDU/CSU-dominierten Bundesrat etwas öfter blockiert. Die Vetoquote blieb mit 2,5 Prozent aber dennoch relativ niedrig. Die Regierung Kohl wurde nach 1990 ebenfalls etwas häufiger von einer SPD-dominierten Länderkammer gestoppt. Aber auch hier betrug der höchste Vetoanteil in der 12. Legislaturperiode lediglich 1,8 Prozent. Selbst in Zeiten unterschiedlicher parteipolitischer Mehrheiten stieg die Ablehnungsquote nie über 2,5 Prozent. Von einer andauernden Blockadehaltung der Länderkammer kann somit keine Rede sein, ebenso wenig von einer tendenziellen Zunahme der Blockaden.
Wie aber erklärt sich eine solche Bilanz? Alles in allem haben wohl fünf Gründe dazu geführt, dass die Zahl der am Bundesrat gescheiterten Gesetze so niedrig geblieben ist. Erstens war in der Vergangenheit häufig ein Einlenken der Regierungsmehrheit gegenüber der Bundesratsmehrheit zu registrieren, entweder schon im Vorfeld des Gesetzgebungsprozesses oder später im Vermittlungsverfahren. Jede Bundesregierung, die unbedingt ein wichtiges Gesetz durchsetzen will, wird auf akzeptable Änderungsvorschläge der Ländermehrheit eingehen. Dies war bisher bei den meisten Verfassungsänderungen der Fall.
Zweitens war in der Vergangenheit vielfach das Bemühen der Regierungsmehrheit zu beobachten, in Gesetzen möglichst auf Regelungen zu verzichten, die eine Zustimmungsbedürftigkeit begründen könnten. Eine derartige Strategie konnte man z.B. 1996 bei der Behandlung einer Reform des Bundessozialhilferechts einerseits und der Arbeitslosenhilfe andererseits feststellen. Die Regierung Kohl entschied sich damals für die Aufspaltung beider sozialpolitischen Materien in zwei Gesetzentwürfe. Auch die rot-grüne Bundesregierung konstruierte im Frühjahr 2001 ein recht kunstvolles Gesetzgebungspaket, um das "Lebenspartnerschaftsgesetz" ohne Konsens mit den unionsgeführten Ländern durch den Bundesrat zu bringen.
In einigen Fällen ist es der Bundesregierung drittens gelungen, durch bestimmte Zusagen an einzelne Länder die Phalanx der Oppositionsländer zu durchbrechen oder neutrale Stimmen für sich zu gewinnen. So stimmte Berlins Regierender Bürgermeister Diepgen (CDU) 1999 der rot-grünen Steuerreform zu, weil ihm im Gegenzug Finanzierungszusagen für den Berliner Landeshaushalt gemacht wurden.
Viertens sind Gesetzesvorhaben, die eine Bundesratsmehrheit eigentlich ablehnen möchte, nicht selten mit anderen, für sie akzeptablen, populären oder dringlichen Inhalten verkettet. Dies war z.B. das Problem der CDU/CSU-Bundesratsmehrheit in den siebziger Jahren, als sie ein strukturell unliebsames Steuerreformgesetz der sozialliberalen Koalition hinnehmen musste, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, sie blockiere damit verbundene populäre Steuersenkungen.
Fünftens schließlich kann eine opponierende Bundesratsmehrheit nicht immer blockieren, wenn sie dies eigentlich möchte. "Allzu peinlich", so Wolfgang Rudzio, würde bei einer permanenten Blockade das "demokratische Legitimationsdefizit"
Der Bundesrat hat sich also in den vergangenen 55 Jahren eher als Konkordanz- denn als Konfliktorgan erwiesen. Die Vetomacht des Bundesrats führte weniger zu Blockaden als vielmehr zu politischen Prozessen, die stark in eine konkordanzdemokratische Richtung tendierten. Wenn der Opposition die Möglichkeit gegeben ist, über den Bundesrat in der Bundespolitik mitzuregieren, werden zur Konfliktregelung regelmäßig Wege des Aushandelns beschritten, an deren Ende meist ein Kompromiss der maßgeblichen politischen Kräfte steht.
Probleme
Die statistische Bilanz verdeckt indessen eine Reihe von Problemen, die sich mit quantitativen Methoden allein nicht erfassen lassen. Das erste Problem hängt mit der konkordanzdemokratischen Seite des Bundesrates zusammen. Anhänger konkordanzdemokratischer Traditionen führen an, dass Verhandlung und Einigung in der Regel gemeinwohlförderliche Politikentscheidungen produzierten.
Selbst wenn die Konkordanzmechanismen funktionieren, führt ein Ausgleich zwischen zwei Akteuren nicht automatisch zu einem guten Ergebnis. Gerade dann, wenn die Regierungsmehrheit und eine opponierende Bundesratsmehrheit sich bei einem wichtigen Gesetz auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner einigen, bleibt von der Substanz eines möglicherweise sinnvollen Vorhabens manchmal nur noch wenig übrig. Solche Gesetze zeichnen sich dann durch ein kompliziertes Regelwerk und die Berücksichtigung vieler Ausnahmetatbestände aus. Konkordanzmechanismen führen also mitunter zu einer Verwässerung von Normen, was sich nicht unbedingt günstig auf notwendige Innovationen auswirkt.
Zum anderen kann natürlich auch die Blockade von Gesetzen zum Problem werden. Die Statistik sagt ja nichts darüber, welche Qualität die von einem Bundesratsveto verhinderten Gesetze hatten. Noch weniger sagt sie etwas darüber aus, ob Blockaden aus echtem Gemeinwohlinteresse oder aus parteitaktischen Motiven heraus erfolgen. Gerade über den letzten Punkt lässt sich trefflich streiten, denn keiner wird bei einer Bundesratsmehrheit zugeben, ein Gesetz lediglich aus Wahlkampfgründen abzulehnen.
Ein Blick in die Drucksachen des Bundesrates offenbart, dass es sich seit Anfang der siebziger Jahre bei vielen blockierten Gesetzen um zentrale Politikvorhaben der jeweiligen Regierung handelte. So waren unter den zehn Gesetzen, welche die SPD unter der Ägide Lafontaines in der letzten Amtsperiode Helmut Kohls blockierte, so wichtige Reformprojekte wie die Renten-, die Steuer- und die Gesundheitsreform. Ungeachtet der Tatsache, dass es sich in jedem Fall um notwendige und längst überfällige Reformvorhaben handelte, kam eine Einigung nicht zustande. Und dieselben zentralen Politikbereiche sind es - freilich unter umgekehrten parteipolitischen Vorzeichen -, in denen derzeit die Regierung Schröder auf die Zustimmung des Bundesrats angewiesen ist.
Nicht nur für den Gesetzgebungsprozess und damit für die Politikfähigkeit der Bundesrepublik, sondern auch für die beteiligten Akteure haben die Konsens- und Konfliktmechanismen des Bundesrates Folgen. Die Opposition scheint auf den ersten Blick zu den Nutznießern der Bundesratsmacht zu gehören. Schließlich gibt ihr die Verfassung damit ein effektives Kontrollinstrument in die Hand. Auf den zweiten Blick offenbaren sich jedoch auch einige Risiken. Denn die Einbindung via Bundesrat in das materielle Regierungsgeschehen verschafft den Oppositionsparteien zwar Einfluss und Entscheidungsteilhabe - dies aber um den Preis der politischen Mitverantwortung. Wenn die Opposition - gewissermaßen in einer informellen Großen Koalition - für Korrekturen sorgt, trägt sie dazu bei, dass die Regierung in den Augen der Wähler keine allzu großen Fehler macht. Damit gibt die Opposition jedoch ihre Alternativfunktion zum Teil auf und steht vor dem Problem, den Wählern zu vermitteln, wozu überhaupt ein Regierungswechsel notwendig sein sollte.
Nicht weniger problematisch sind die Folgen der Bundesratsmacht allerdings für die Regierungskoalition. Wie groß der Anteil der Opposition an einem Gesetzesvorhaben auch sein mag - es bleibt die Regierung, die für das Ergebnis in erster Linie geradestehen muss. Die Oppositionsmehrheit im Bundesrat hat demgegenüber den strategischen Vorteil, dass sie ihre faktische Mitwirkung - falls erforderlich - hinter dem breiten Rücken der Regierung verstecken kann.
Reform des Bundesrats?
Rechtfertigt diese Bilanz eine Reform des Bundesrats? Darüber, dass der deutsche Föderalismus insgesamt reformbedürftig ist, besteht in Wissenschaft und Politik Übereinstimmung. SPD und CDU/CSU befassen sich seit Herbst 2003 in einer "Gemeinsamen Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung" mit der Frage der Föderalismusreform. Ende 2004 will die Kommission ihre Vorschläge vorlegen. Welche Folgen die Reformdiskussion für den Bundesrat haben wird, ist derzeit noch offen.
Noch in den siebziger Jahren galt der Bundesrat als durchaus effizientes Element eines Bund-Länder-Verhandlungssystems. Dagegen wurden in den neunziger Jahren Stimmen laut, die das Blockadepotenzial des Bundesrats beklagten. Konkordanz und "Verhandeln" galten nunmehr als Gegenpol zu effizientem Regieren. Stattdessen wurde für die Wahrnehmung echter Regierungsverantwortung nach dem Vorbild etwa des angelsächsischen konkurrenzdemokratischen Regierungssystems plädiert.
Hans-Olaf Henkel, der frühere Präsident des BDI, forderte 1998 die Abschaffung der Zustimmungsgesetze.
Derartige Reformmaßnahmen hätten erhebliche Konsequenzen für die politische Stellung des Bundesrats. So würde ihn z.B. die völlige Abschaffung der Zustimmungsgesetze auf ein bloß suspensives Veto beschränken. Der Bundestag könnte alle Einsprüche der Länderkammer zurückweisen. Die Korrektivfunktion des Bundesrates wäre faktisch beseitigt, so dass man sich gerade unter Effizienzaspekten fragen müsste, wozu man dieses Staatsorgan dann überhaupt noch braucht. Man denke nur an das Schicksal des Bayerischen Senats, der 1999 als Ergebnis eines Volksentscheids abgeschafft wurde.
Ein Reformmodell, das eine indirekte Wahl und ein freies Mandat der Bundesratsmitglieder anstrebt, schafft den Bundesrat in seiner bisherigen Form ab und ersetzt ihn faktisch durch einen Senat nach amerikanischem Vorbild. Eine Senatslösung würde aber leicht dazu führen, dass die zweite Kammer ein bloß verkleinertes Abbild des Bundestages darstellt. Es käme zu genau denselben parteipolitischen Konflikten, die bereits primär die Arbeit des Bundestages kennzeichnen.
Bevor man daher über eine institutionelle Reform des Bundesrats nachdenkt, sollten zunächst diejenigen Entwicklungen gebremst werden, die überhaupt erst zu der derzeitigen Situation geführt haben. Dazu gehört zum einen die Vielzahl der Landtagswahltermine. Seit der Wiedervereinigung gibt es in Deutschland nicht mehr 11, sondern 16 Landtagswahlen, die faktisch einen Dauerwahlkampf verursachen. Eine Reduzierung der Zahl der Bundesländer durch die Fusion einiger kleinerer Länder ergibt also nicht nur aus ökonomischer Sicht Sinn. Da es in der Frage der Länderneugliederung allerdings kaum überwindbare Widerstände gibt, könnte man zumindest darüber nachdenken, die Wahltermine so zu koordinieren, dass sich Landtagswahlkämpfe auf ein paar Termine in der Legislaturperiode des Bundestags beschränken. Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle hat bereits den Vorschlag gemacht, nach US-amerikanischem Vorbild einen einzigen, für Bund, Länder und Kommunen gemeinsamen Wahltag im Jahr festzulegen. Die Parteien müssten dann nicht ständig Wahlkampf betreiben, und sie bräuchten auch nicht permanent den Wettbewerb mit dem politischen Gegner betonen. Dabei wäre freilich die Gefahr in Kauf zu nehmen, dass dann die Landtagswahlen verstärkt durch bundespolitische Faktoren bestimmt würden.
Zum anderen sollte die im Jahr 1969 begonnene Fehlentwicklung rückgängig gemacht werden, die den Ländern eigenständige Kompetenzen genommen und sie vordergründig durch Zustimmungsgesetze im Bundesrat kompensiert hat. Die Aushöhlung der Gesetzgebungskompetenzen der Länder ist eine der Hauptursachen für die Zunahme der Zustimmungsgesetze und damit zugleich für die Stärkung der Vetomacht des Bundesrats. Wünschenswert wäre daher nicht unbedingt eine Abmagerungskur für den Bundesrat, sondern eine Stärkung der Länderparlamente. Die Gesetzgebungskompetenzen der Länder könnten auf vielen Gebieten verbessert werden, z.B. imBereich der konkurrierenden Gesetzgebung. Die fraktionsübergreifende Enquete-Kommission "Föderalismus" des Bayerischen Landtags hat hierzu bereits im Jahr 2002 eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet.
Der Grundwiderspruch zwischen parlamentarischem Mehrheitsentscheid und föderativer Konsensfindung, den Gerhard Lehmbruch im Bundesrat diagnostizierte,