Einleitung*
Den Landesparlamenten in Deutschland wird gemeinhin ein geringer, nicht selten sogar vernachlässigbarer Stellenwert im politischen System der Bundesrepublik Deutschland zugewiesen.
Zurückgeführt wird diese eingeschränkte Bedeutung von Landesparlamenten im Wesentlichen auf vier Faktoren: auf die Funktionsweise parlamentarischer Regierungssysteme; auf die Mechanismen des kooperativen Föderalismus und der Politikverflechtung, welche die Landesregierungen privilegieren und den Landesparlamenten eine gestaltungsorientierte Gesetzgebung verschließen; auf Unitarisierungstendenzen und den Aufbau europäischer Institutionen;
Nun lässt sich nicht bestreiten, dass Landesparlamente über beschränkte Funktionen verfügen. Dennoch fällt auf, dass der Bewertungsmaßstab der Kritik selten offen gelegt wird. Zumeist wird lediglich behauptet, dass ein kontinuierlicher Kompetenz- und Einflussverlust stattgefunden habe, ohne zu prüfen, ob und inwieweit denn Landesparlamente in den fünfziger Jahren so viel mehr Einfluss und Gestaltungsmacht hatten. Ebenso häufig ist der Kritik ein emphatischer Parlamentarismusbegriff unterlegt, nach dem Landesparlamente Bundestage "en miniature" sein sollten,
Ähnliches gilt für den Umstand, dass Landesparlamente im Bundesstaat über ein spezifisches Funktionsprofil verfügen müssen. Zumeist wird ihre Performanz an "normalen" nationalen Parlamenten, d.h. in diesem Fall dem Bundestag, gemessen. Die aus dem Föderalismus resultierenden Beschränkungen für Landesparlamente werden unter diesen Voraussetzungen nicht als Folgen verfassungsrechtlicher Vorgaben verstanden, die einen eigenständigen Parlamentarismustypus begründen (könnten), sondern stellen sich als der "Idee" des Parlamentarismus widersprechende Funktionsdefizite dar. Zwei Konsequenzen werden dabei in einschlägigen Untersuchungen besonders betont: Zum einen schränke der kooperative Föderalismus deutscher Prägung die landesparlamentarischen Legislativfunktionen ein. Der Bund habe in diesem Bereich alle relevanten Kompetenzen an sich gezogen und so weit ausgeschöpft, dass Landesparlamente als Legislativen keine Rolle mehr spielten. Das muss eine am "alten Dualismus" orientierte Vorstellung, die in der Gesetzgebung ein "Wesensmerkmal" jedes Parlaments sieht, besonders verstören. Zweitens ist die Kontrollfunktion betroffen. Politikverflechtung und Exekutivföderalismus privilegieren die Landesregierungen, die sich damit der Kontrolle der Parlamente entziehen könnten. Manfred Friedrich sieht im Auseinandertreten der Kompetenzspektren von Landesexekutiven und -legislativen sogar die Ursache für einen "Ausfall des responsible government", weil Landesregierungen "zu den 'großen' politischen Fragen Stellung nehmen ... müssen, während sich das Landesparlament in provinzieller Enge festgehalten" sieht.
* Ich danke Peter Rütters sowie Dieter Dubowik für Hinweise und Kritik.
Strukturen von Landesparlamenten
Landtage, Bürgerschaften und das Berliner Abgeordnetenhaus sind Teil landesparlamentarischer Regierungssysteme, wobei sie nach Abschaffung des Bayerischen Senats alle eine unikamerale Struktur aufweisen. Daran ändern auch Unterschiede zwischen den Landesparlamenten nichts, deren gesetzliche Größe zwischen 51 (Saarland) und 201 Abgeordnete (NRW) variiert, wobei die Vertretungsrelationen mit der Größe des Landes korrespondieren: In den einwohnerstarken (Flächen-)Ländern müssen sich die Wahlberechtigten mit weniger Repräsentanten zufrieden geben, wobei die Tendenz im Zeitablauf fallend ist. Einige Länder haben die Zahl der Mandate reduziert (z.B. Berlin) und/oder die Wahlperiode auf fünf Jahre verlängert.
Doch insgesamt haben die Funktionsimperative der parlamentarischen Regierungssysteme eine Homogenisierung der Binnenstrukturen von Landesparlamenten verursacht.
- die für die Binnenorganisation und den Ablauf betrauten Organe (Präsidenten, Präsidium, Ältestenrat);
- die Fraktionen bzw. Gruppen und ihre Arbeitskreise;
- die ständigen oder speziellen Ausschüsse sowie
- das Plenum.
Die jeweilige Gestaltung der Beziehungen zwischen sachorientierter Arbeit in den Ausschüssen, den politischen Abstimmungsprozessen in den Fraktionen und den öffentlichen Debatten im Plenum gibt dabei den Landesparlamenten ihre spezifische Prägung und Kontur.
Folgerichtig variieren auch die Sitzungsfrequenzen. So tagte das Plenum des saarländischen Landtages zwischen 1965 und 1999 durchschnittlich 15-mal pro Jahr, während der Bayerische Landtag zwischen 1970 und 1990 jährlich über 30-mal einberufen wurde. Auch das Verhältnis von Plenar- zu Ausschusssitzungen zeigt landesspezifische Ausprägungen: Die Ausschüsse in Rheinland-Pfalz wurden 7-mal häufiger als das Plenum einberufen, in Berlin war dies sogar fast 15-mal häufiger der Fall. Hinzu kommt, dass sich im Zeitablauf ebenfalls Veränderungen zeigen. Denn die Zahl der Sitzungen (von Plenum und Ausschüssen) hat sich in den Landesparlamenten keineswegs verringert. Im Gegenteil: In Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Hessen folgten den vergleichsweise hohen Sitzungsfrequenzen der ersten beiden Wahlperioden ein Rückgang bis Mitte bzw. Ende der sechziger und ein leichter Aufschwung Anfang/Mitte der siebziger Jahre, der sich in den neunziger Jahren wiederholte. Diese Entwicklungen bestätigen, dass die Landesparlamente - wie der Bundestag - im Wesentlichen als Arbeitsparlamente fungieren und widersprechen der immer wieder vorgebrachten These eines kontinuierlichen Kompetenz- und Bedeutungsverlustes.
Funktionen von Landesparlamenten
Welche Funktionen Parlamente in welcher Form und in welchem Ausmaß erbringen sollen, lässt sich zwar allgemein benennen, doch nicht objektiv bestimmen, weil divergierende verfassungsrechtliche und politische Rahmenbedingungen berücksichtigt werden müssen. Der Verweis auf gängige Funktionskataloge, die im Übrigen unterschiedlich ausfallen, kann insoweit nur heuristischen Charakter besitzen. Die folgende Analyse beschränkt sich daher auf ausgewählte Aufgabenbereiche.
Wahlfunktionen
Sieht man von den in allen Ländern bestehenden direktdemokratischen Möglichkeiten ab, die allerdings keine Personalplebiszite umfassen, sind Landesparlamente die Institutionen, die Trägern öffentlicher Herrschaft durch Wahl oder Bestellung Legitimität verleihen. Dazu gehört die Wahl von Datenschutzbeauftragen ebenso wie von Landesverfassungsrichter/innen oder von Mitgliedern der Landesrundfunkräte etc.
Die nach Walter Bagehot wichtigste Funktion eines Parlaments besteht dabei darin, eine Regierung einzusetzen und im Amt zu halten.
Diese verfassungsrechtlichen Unterschiede haben die Gewaltenbalancierung und die Fähigkeit der Parlamente zur Regierungsbestellung und -stabilisierung nicht wesentlich beeinflusst. Im Einzelfall entfalteten sie sicherlich Wirkung (bspw. konnte der Hamburger Senat 1986 als Minderheitsregierung im Amt bleiben
Ebenso gibt es eine beachtliche Bandbreite betreffend die Zahl und die Amtsdauer von Regierungen. Die Stabilität von Landesregierungen ist dabei, wie erwähnt, nicht vorwiegend oder gar alleine durch die Landesparlamente bestimmt. Auch sind fehlende Bestätigungen von Regierungen oder Misstrauensvoten - seien sie konstruktiv oder negativ - seltene Ausnahmen.
Gesetzgebung
Gesetzgebung gilt als "klassische" Funktion von Parlamenten.
Dennoch sind Landesparlamente natürlich weiterhin gesetzgeberisch aktiv (vgl. Tabelle 3: PDF-Version). So mussten die ostdeutschen Länder Anfang der neunziger Jahre die Grundlagen für die Landesstaatlichkeit schaffen,
Kontrolle von Regierung und Exekutive
Parlamentarische Kontrolle von Regierung und Verwaltung umfasst ein ganzes Bündel von Maßnahmen und Möglichkeiten, die mit unterschiedlichen Wirkungen und Zielen ausgestattet sind.
Eine rein formale Betrachtung weist den Landesparlamenten in diesem Bereich überraschenderweise eher einen Kompetenzgewinn zu,
Insgesamt bestätigt sich damit, dass die Kontrolle der Exekutive zu den wichtigsten Aufgaben von Landesparlamenten zählt. Doch sind diesem Kontrollpotenzial gleichzeitig Grenzen gesetzt, die typisch für professionalisierte parlamentarische Regierungssysteme sind: Eine politische Richtungskontrolle der Regierungsarbeit ist nur eingeschränkt und informell möglich, und das Verhalten von Mitgliedern der Landesregierung im Bundesrat ist ebenso wenig effektiv durch Länderparlamente zu beeinflussen wie durch die im Rahmen der Bund-Länder-Kooperation erfolgten Absprachen und Vereinbarungen.
Bilanz und Ausblick
Diese Analyse relativiert einige der landläufigen Auffassungen über den Länderparlamentarismus in Deutschland. Zuerst: Landesparlamente verfügen immer noch über relevante Kompetenzen und sind für die Konstituierung eigenständiger Landesstaatlichkeit unerlässlich. Diese zweifellos nicht sonderlich aufregende Feststellung spricht die landesparlamentarische Praxis von Kritik keineswegs frei. Doch verweist sie immerhin darauf, dass ein Bewertungsmaßtab verfehlt ist, der den landesparlamentarischen Alltag an idealisierten Vorstellungen eines "alten Dualismus" bemisst. Auf einer solchen Grundlage transformiert sich das verfassungsrechtlich ordnungsgemäße Funktionieren zu einem Strukturproblem. Auch ist die Klage über einen Einflussverlust von Regionalparlamenten weder neu noch auf Deutschland beschränkt, wie etwa die Debatte in den USA über "declining state legislatures" zeigt. Es scheint daher treffender, die Landesparlamente als einen eigenständigen Parlamentarismustyp zu verstehen, der durch die Funktionsprinzipien des kooperativen Föderalismus und des party government doppelt beschränkt wird. Auch haben die Landesparlamente keineswegs einen kontinuierlichen Macht- und Einflussverlust erfahren, sondern unterliegen vielmehr einem Funktionswandel. Die zweifellos beschränkten legislativen Kompetenzen wurden teilweise ergänzt und kompensiert durch Kompetenzgewinne in anderen Bereichen.
Schließlich ist vor Hoffnungen zu warnen, eine Übertragung von Kompetenzen auf die Länder - wie etwa in der Lübecker Erklärung vom 31. März 2003 gefordert und gegenwärtig in der Bundesstaatskommission diskutiert - zöge zwangsläufig eine Stärkung der Landesparlamente nach sich. Das muss - unter den Bedingungen von Politikverflechtung und Exekutivföderalismus - keineswegs der Fall sein. Hinzu kommt: Eine damit angestrebte stärkere "Parlamentarisierung" wäre wohl nur auf Kosten einer weiteren Fragmentierung des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland zu realisieren.