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Differenzierte Integration: Übergangserscheinung oder Strukturmerkmal der künftigen Europäischen Union? | EU-Erweiterungspolitik | bpb.de

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Differenzierte Integration: Übergangserscheinung oder Strukturmerkmal der künftigen Europäischen Union?

Christian Deubner

/ 22 Minuten zu lesen

Differenzierte Integration begleitet die Europäische Gemeinschaft (EG) seit ihrer Gründung. Bestimmte Gruppen von Mitgliedstaaten verwirklichen bestimmte Politiken, während andere Mitgliedstaaten fernbleiben.

Einleitung

Differenzierte Integration begleitet die Europäische Gemeinschaft (EG) seit ihrer Gründung. Bestimmte Gruppen von Mitgliedstaaten verwirklichen bestimmte Politiken, während andere Mitgliedstaaten fernbleiben. Auf diese Weise entstanden zum Beispiel das Schengen-System oder der Europäische Wechselkursmechanismus. Mit Blick auf die Europäische Union (EU) der Zukunft ist diese Differenzierung besonderer Untersuchung wert. Dazu vier Thesen:

- Erstens ist differenzierte Integration seit Ende der siebziger Jahre von einer Ausnahmeregelung für einzelne Politikbereiche zu einem dauerhaften Strukturelement ganzer Politikfelder geworden. Seit 1992 nimmt sie auch innerhalb des Vertragssystems stark zu. Damit vergrößert sich auch ihre Bedeutung für die weitere Entwicklung der gesamten Integration.

- Wegen der Unterschiede in ihrer Integrationsbereitschaft angesichts immer weiter ausgreifender Gemeinschaftskompetenzen werden die Mitgliedstaaten, zweitens, stärker motiviert, differenzierte Integration anzuwenden. Mit der wachsenden Zahl der Mitgliedstaaten im Zuge der Erweiterungen vergrößern sich diese Unterschiede noch.

- Drittens verändern sich die Absichten der Mitgliedstaaten beim Einsatz differenzierter Integration. Im vergangenen Jahrzehnt haben sie diese immer stärker bewusst als strategisches Instrument zur Durchsetzung, Einführung und Umsetzung von Integrationszielen innerhalb der bestehenden EG/EU genutzt.

- Viertens kann differenzierte Integration Ausgleichsmöglichkeiten schaffen, wenn die Erweiterung die EU-Institutionen vergrößert und ihre Handlungsfähigkeit schwächt.

Einerseits modifiziert dies die Strukturentwicklung der Integration mit ihrer empfindlichen Balance zwischen Einheit und Unterschiedlichkeit. Andererseits beeinflusst es die integrationspolitischen Intentionen der Mitgliedstaaten und ihre Erfolgsaussichten. Beides hängt miteinander zusammen.

An diese Entwicklung knüpfen sich Erwartungen und Befürchtungen: Die Tatsache, dass alle Mitgliedstaaten sich gemeinsam und ohne Ausnahme auf die Gemeinschaftsverträge und deren Anpassungen verpflichteten, hat über die Jahrzehnte eine integrationspolitisch grundlegende Gleichheit von Mitentscheidung und Betroffenheit, Rechtseinheit und -sicherheit für alle Mitgliedstaaten der EU geschaffen, geschützt und gefördert durch unparteiische supranationale Institutionen. Auf dieser Grundlage konnten die beteiligten Staaten einem breit angelegten Kompetenzzuwachs der Gemeinschaft zustimmen. Und ihre Bereitschaft, für sie mehr oder weniger günstige Entscheidungen zu akzeptieren, wurde dadurch gefördert.

Diesen Zusammenhang zerbricht die differenzierte Integration, indem sie die Einheit der Verfahren und Institutionen spaltet. Sie vertieft und verewigt bestimmte Koalitionen im Rat; sie trägt Spaltungsrisiken in die supranationalen Organe wie Kommission und Europäisches Parlament; sie macht diese noch undurchschaubarer, als sie es heute schon sind. Außerdem erwächst der EU durch diese Praxis auf ihren eigenen Aktionsfeldern eine potenziell gefährliche Konkurrenz. Insofern gilt differenzierte Integration für die EU auch als Gefährdung ihres dauerhaften Zusammenhalts und ihrer künftigen Integrationsfähigkeit.

Viele Sachkenner sehen aber auch, dass in der Vergangenheit nur die differenzierte Integration wichtige Fortschritte bei der Vergemeinschaftung möglich gemacht hat. Sie unterstellen, dass Integrationsfortschritte in der ganzen Union nach der Erweiterung noch dringender auf den Zwischenschritt der Differenzierung angewiesen sind. Der Kampf zwischen vorwärts drängenden und beharrenden Mitgliedstaaten kann Institutionen und Verfahren ebenfalls lähmen, wenn keine Lösung gegeben ist. Nach dieser Lesart sind also die Vorteile der Differenzierung so groß, dass sie die Nachteile aufwiegen oder sogar übertreffen. Die Bewertung dieser Argumente in der Spannung zwischen Einheitlichkeit und Dynamik richtet sich - das wird noch gezeigt - stark nach dem jeweiligen Leitbild der künftigen Integration.

Im Folgenden wird versucht, diese Erwartungen und Befürchtungen zu bewerten. Die integrationspolitischen Strategen der Mitgliedsregierungen haben aus den bisherigen Erfahrungen mit differenzierter Integration bisher jedenfalls mehrheitlich den Schluss gezogen, dass jene letztlich den europäischen Gemeinschaftsbau fördert. Das hat sie zu weiteren Schritte in dieser Richtung bestärkt. Zur Terminologie: Differenzierte Integration findet durch Verstärkte Zusammenarbeit (VZ) von Mitgliedstaaten innerhalb oder außerhalb des Unionsvertrages statt. Dieser Begriff wird im Folgenden benutzt.

I. Differenzierung in der Strukturbildung der EU

Verstärkte Zusammenarbeit begann in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) mit der ausdrücklich zugelassenen besonderen Zusammenarbeit der Benelux-Länder. Ähnliche und bedeutsame Fälle dieser Art sind das ursprüngliche Europäische Währungssystem (EWS) von 1979 oder das Schengener Abkommen von 1985/90. Eine sehr spezifische Ausprägung war und ist auch die bilaterale deutsch-französische Zusammenarbeit. Weniger schwer gewichtig waren die Abkommen zu gemeinsamen Forschungsvorhaben wie Airbus, ESA, Ariane und die Zusammenarbeit im sicherheits- und verteidigungspolitischen Bereich wie etwa im Rahmen von WEU, Eurokorps oder Eurogroup.

Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts sind mit der Sozialcharta des Maastrichter Vertrages, der gemeinsamen Währung oder dem gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (RdFSR), aber auch mit der EU-Politik für Sicherheit und Verteidigung weitere bedeutsame Fälle von VZ hinzugekommen. Schließlich gab es bei jedem neuen Beitritt zur EG Fälle verschiedener Geschwindigkeiten, da neue Mitglieder für bestimmte Übergangsfristen zunächst Ausnahmeregeln genossen.

Für eine Klassifizierung dieser Fälle bieten sich drei Kriterien an. Dies ist zunächst der Grad, in dem diese Gruppen den gemeinschaftlichen Regeln unterworfen sind. Die VZ kann sich aber auch außerhalb des EG/EU-Vertrags und anderer vertraglicher Bindungen vollziehen. Dann gelten für die teilnehmenden Regierungen auch nicht der Vertrag und seine Verfahren, sondern die Regeln intergouvernementaler Zusammenarbeit. Dies betrifft die Gründung der Kooperation, den Beitritt weiterer oder den eventuellen Austritt bisheriger Mitglieder, dies gilt für die Verfahren der Beschlussfassung und -umsetzung und damit für die Rolle, die jeder teilnehmende Staat dabei spielen kann.

Ein zweites Kriterium, das mit dem ersten zusammenhängt, betrifft den Gegenstand der differenzierten Integration. Findet sie in einem Politikfeld statt, in dem der Union durch den Vertrag Kompetenzen zugeordnet sind, sie solche bereits erhalten hat oder gar ausübt (wie etwa im ersten Pfeiler), oder handelt es sich um Felder, die der mitgliedstaatlichen Kompetenz zugeordnet sind bzw. ihr noch unterliegen (wie in der Rechtspolitik, aber auch der Wirtschafts- und Sozialpolitik)? Je nachdem, ob die differenzierte Integration nur innerhalb oder nur außerhalb der EU stattfinden darf, hat sie eine größere oder kleinere Wirkung auf die zentralen Regeln und Institutionen der Union, bedarf sie einer (mehr oder weniger großen) vertraglichen Einhegung.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Breitenwirkung der Politik und das Niveau, auf dem die VZ ansetzt: Hat sie großflächige Wirkungen bis in verschiedenste Felder wie etwa die Freizügigkeit für Waren und Personen? Erfasst sie ein ganzes Politikfeld wie zum Beispiel die Wirtschaftspolitik oder nur sehr spezielle Ausschnitte? Wirkt VZ in einem Feld dadurch weit in andere Politikfelder hinein? Kann kleinteilige VZ den Zusammenhang der Politikfelder zerreißen, in denen sie eingeführt wird?

Ein drittes Kriterium betrifft die Umstände, welche die Teilnahme oder Nichtteilnahme von Mitgliedstaaten an solcher Gruppenzusammenarbeit begründen. Hängt das eher von dem integrationspolitischen Willen bzw. Unwillen der Mitgliedstaaten ab, oder spielen Fähigkeit bzw. Unfähigkeit eine Rolle? Und wer beurteilt sie?

Für das erste Kriterium bildet die Vertragsrevision von Amsterdam 1997 (mit den Änderungen von Nizza im Jahr 2000) eine Art Epochenübergang. Zuvor galt, dass innerhalb des Vertrags alle Partner fast alles gemeinsam machen. Schon das Opt-Out für Engländer und Dänen beim Euro hatte 1992 allerdings massiv dagegen verstoßen. Aber erst auf dem Gipfel von Amsterdam entschlossen sich die Mitgliedstaaten, für die VZ im Rahmen kleinerer Gruppen allgemeingültige vertragliche Vorgaben zu schaffen. Initiatoren waren Deutschland und Frankreich. Seither existieren die entsprechenden neuen Vertragsartikel: EUV Art. 23 (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik), Art. 40 (Zusammenarbeit bei Polizei und Justiz), Art. 43 - 45 (Allgemein), EGV Art. 11 (Europäische Gemeinschaft), um diese VZ nach Bedingungen, Verfahren und beteiligten Institutionen genauer festzulegen.

Damit war nun eine vertragliche Voraussetzung für VZ in unterschiedlichen Staatenkoalitionen auch innerhalb der EU geschaffen. Wesentliche, auch nach Amsterdam noch mögliche Behinderungen solcher Initiativen durch ein begründetes Veto oder die Vergrößerung der Mindestzahl der Mitglieder wurden in Nizza im Dezember 2000 ausgeräumt. Das zur Genehmigung erforderliche Quorum der qualifizierten Mehrheit wurde dagegen aufrechterhalten. Außerdem wurde dieses Verfahren auf das Feld der Außen- und Sicherheitspolitik ausgedehnt, das in Amsterdam noch ausdrücklich ausgespart worden war.

- Die Amsterdamer Regelungen gaben einerseits einen Rahmen der Ermächtigung für künftige neue Projekte gruppierter VZ, der die Bedingungen und die Art ihrer Genehmigung durch die EU und den Beitritt anderer Mitgliedstaaten betrifft.

- Sie setzten andererseits Regeln für die Arbeit solcher Gruppen. Damit schufen sie auch eine rechtliche Grundlage, auf der man schon bestehende Projekte außervertraglicher VZ in den Vertrag einbeziehen konnte. Schon in der Amsterdamer Vertragsrevision wurde diese Regelung für die Einbeziehung der Schengen-Kooperation in die Union genutzt. VZ wird in diesem Fall also nicht ad hoc und allein durch die Teilnehmer dieser Kooperation selbst begründet, sondern "vordefiniert" - durch alle Gemeinschaftsstaaten in einem Vertragsakt.

- Die freie außervertragliche VZ, die zuvor die differenzierte Integration ausgemacht hatte, bleibt nach dem Wortlaut der neuen Regelungen weiterhin möglich. Für alle Kompetenzen, die der Union nicht durch den Vertrag und das Sekundärrecht zugewiesen sind, dürfen die Mitgliedstaaten auch weiterhin nur diese freie VZ benutzen. Für alle anderen Kompetenzbereiche räumen die Verträge nunmehr aber der institutionellen VZ nach den Regeln von Amsterdam eindeutig den Vorrang ein und delegitimieren das ältere Verfahren.

Man erkennt rasch, dass das Modell von 1997 schon in der Maastrichter Vertragsrevision 1992 zu finden war: in ihren Vorgaben für die Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU). Dort ging es darum, das System der Wechselkursstabilisierung im EWS als eine Gemeinschaftspolitik unter das Dach des EU-Vertrags zu ziehen und in eine regelrechte Währungsunion zu verwandeln, die auf eine breitere und solidere rechtliche Basis zu stellen war.

Mit dieser Ausnahme fanden sich bedeutsame Kooperationsgruppen bis 1997 jedoch nur außerhalb der vertraglichen Integration und in der Regel ohne ausdrückliche Genehmigung und Konditionierung durch die Verträge. Nur die Wirtschaftsunion der Niederlande, Belgiens und Luxemburgs (Benelux) hat der EWG-Vertrag in seiner ersten Fassung von 1957 ausdrücklich erlaubt - in einem Artikel, der immer noch existiert (EGV Art. 306, ex Art. 233). Davon abgesehen folgte Benelux aber der Regel außervertraglicher Kooperation, nach der vor 1992 auch das EWS und insbesondere sein Wechselkursmechanismus, das Schengen-Abkommen (dieses allerdings nach dem gemeinsamen Verständnis der EG-Mitgliedstaaten als "Pilotprojekt" für die Integration der Innen- und Justizpolitik) und andere, weiter oben genannte Vorhaben entstanden. Auf Dauer angelegte Gruppen-Kooperation innerhalb der Verträge gab es dagegen nur bei den integrationspolitisch unbedeutenden "zusätzlichen Forschungsprogrammen", wie sie seit 1970 praktiziert und in der Einheitlichen Europäischen Akte von 1987 (in EGV Art. 130) konsolidiert wurden.

Damit etablierte sich bis 1997 ein wachsender Bereich von VZ außerhalb der Vertragsregeln und des Kompetenzbereiches der Institutionen. Dieser umfasste seit Ende der siebziger Jahre große und zunehmend wichtige Kooperationsfelder der Mitgliedstaaten. Die wichtigsten, EWS und Schengen, besetzten zudem ein Terrain, das durch die allgemeinen Vertragsziele der EU abgedeckt wurde und damit entweder schon ein potenzieller Gegenstand der Vergemeinschaftung war oder aber ein Bereich, in dem die EU bereits Kompetenzen ausübte - zum Beispiel in der Freizügigkeit von Personen und den kompensierenden Maßnahmen (Schengen) oder in der wirtschaftspolitischen Kooperation (EWS).

Auf Zugang zu Kooperationsinitiativen dieser Art gab und gibt es für die jeweils nichtbetei-ligten EU-Mitgliedstaaten keinen vertraglichen Anspruch. Die Initiatoren konnten darüber bestimmen. Dabei berücksichtigten sie nicht nur den politischen Willen der Kandidaten, sondern konnten auch Kriterien der Fähigkeit aufstellen (vor allem bei der Aufnahme in den Durchführungsbereich von Schengen, aber auch beim Wechselkursmechanismus des EWS sehr markant). Damit wurde auch die Möglichkeit vergrößert, zutrittswillige Mitgliedstaaten draußen zu halten. Italien ist hier ein - aber nicht das einzige - Beispiel: Es musste mehrfach aus dem Wechselkursmechanismus des EWS austreten und versuchte jahrelang vergeblich, in die Anwendungsgruppe des Schengen-Abkommens aufgenommen zu werden, scheiterte aber an den strikten Aufnahmeregelungen.

Diese Autonomie gegenüber den Gemeinschaftsregeln erleichterte die rasche Einführung neuer Integrationspolitiken in bedeutsamen Politikfeldern. Solange gewisse Mitgliedstaaten die Aufnahme solcher Politiken in das Gemeinschaftssystem blockieren, wiegt dieser Vorteil weit schwerer als die Nachteile der außergemeinschaftlichen Politik. So hätten etwa das EWS (die WWU) und das Schengener Abkommen Ende der siebziger bzw. Mitte der achtziger Jahre mit allen Mitgliedstaaten noch nicht verwirklicht werden können; sie wären auch zu Beginn des neuen Jahrhunderts noch nicht möglich.

Es ist allerdings deutlich erkennbar, dass sich Vor- und Nachteile der Methode einer VZ für einzelne Projekte über die Jahre verschoben haben. Zu der Benachteiligung der Nichtteilnehmer traten die Ineffizienz sowie Demokratiedefizite, die intergouvernementalen Methoden im Vergleich zu Gemeinschaftsverfahren eigen sind. Mit dem zunehmenden Erfolg solcher Politiken fielen die Nachteile immer stärker ins Gewicht, die Anwendung der Gemeinschaftsverfahren wurde attraktiver. In dem Maße, in dem verstärkte Kooperation die Union für jene Projekte öffnete, wuchs der Druck, von der außervertraglichen VZ in das EG/EU-Vertragssystem überzuwechseln.

II. Integrationspolitische und theoretische Deutung

Differenzierung der Integration im grundsätzlichen Sinne ist - wie oben gesehen - eine Entwicklung der achtziger und neunziger Jahre, mit zunehmender Bedeutung. Ihre Triebkräfte liegen in der Spannung zwischen dem fortdauernden Wunsch wichtiger Mitgliedstaaten der EG/EU nach weiterem Kompetenztransfers auf die Unionsebene und der Mitgliedschaft - oder dem Neubeitritt - von Staaten, die dieses Interesse nicht bzw. noch nicht teilen oder nicht die Fähigkeit zu seiner integrationspolitischen Umsetzung haben. Diese Spannung wird dadurch erhöht, dass unterschiedliche Herausforderungen und unvorhergesehene Entwicklungen die Mitgliedsregierungen immer wieder zu neuen Integrationsinitiativen veranlassen (v. a. weil der acquis communautaire betroffen ist).

Unter diesen Umständen kommt VZ durch den politischen Willen der Initiatoren zustande, ihre Vorhaben auch unter Zurücklassen anderer - desinteressierter oder zögernder - Mitgliedstaaten umzusetzen. Dieser Wille geht übrigens manchmal in widersprüchlicher Weise mit einer anderen Absicht einher: die anvisierten Felder neuer Integration nicht oder wenigstens noch nicht den klassischen Gemeinschaftsverfahren zu unterwerfen, sondern nationale Handlungskompetenz zu bewahren.

Die Chancen dafür wurden 1997 deutlich verbessert. Seit der Einführung der institutionellen VZ (und ihrer weiteren Erleichterung in Nizza) erlaubt der Vertrag den Initiatoren, ihre Kooperationspläne innerhalb der Gemeinschaft in vielen Fragen auch gegen das Veto anderer Mitgliedstaaten durchzusetzen: Ihre Zusammenarbeit kann sich auf Institutionen und Verfahren der Union stützen. Gleichzeitig sind die Möglichkeiten dieser Mitgliedstaaten zum Ausweichen auf außervertragliche Kooperation delegitimiert oder beschnitten worden. Der Rahmen, in dem sie ihre leichter durchsetzbare Sonderkooperation verwirklichen können, ist dadurch als solcher auch enger und konditionierter.

Die Möglichkeiten der desinteressierten oder zögernden Mitgliedstaaten, solche Pläne zu blockieren, wurden 1997 dagegen deutlich verschlechtert. Nach den neuen Regeln können sie die Vergemeinschaftungsabsichten anderer Mitgliedstaaten im Vertragsrahmen nur noch aufhalten, wenn sie dafür eine Mehrheit finden, was in einer erweiterten EU immer schwieriger werden wird. Zudem dürften Gegenleistungen für Zustimmung und eigene Kooperation schwerer erreichbar sein. Auch diejenigen, denen es nur um Kontrolle und Mitmachen geht, finden ihre Druckmittel beeinträchtigt, vor allem durch die Vertragsrevision von Nizza.

Gleichwohl sind ihre Bedenken durch die Öffnung des Vertragssystems für Kooperationen und die strengen Offenheitsgebote für diese Zusammenarbeit berücksichtigt, ebenso wie durch den damit verbundenen ausdrücklichen Schutz des acquis communautaire. Die Initiatoren können zudem weniger fähigen Mitgliedstaaten die Kooperation nicht so einfach verweigern, wie dies außerhalb des institutionellen Rahmens ging und geht. Entsprechend liegt es auch im Interesse der Initiatoren, jenen Hilfestellung zu geben. Dagegen lassen sich Sanktionen als Druckmittel immer weniger rechtfertigen. Der Charakter der Union als Solidargemeinschaft verstärkt diesen Druck auf die Fähigen. Der Mitzieh-Effekt der Differenzierung wird erhöht.

Insgesamt stärkt die Reform von 1997 also bei der Entstehung, Ausweitung und Fortführung differenzierter Integration die Bedeutung der Gemeinschaftsziele und des politischen Willens. Die Bedeutung der Fähigkeit als Teilnahme- und Sanktionskriterium tritt deutlich zurück. Das bestätigt auch ein Blick auf die Entwicklung bis 2001: In der WWU trat das bei der Gründung als am wenigsten fähig angesehene Mitgliedsland Griechenland der gemeinsamen Währung bei; dagegen konnten Großbritannien, Dänemark und Schweden, die der Währungsunion weiter fernblieben, die Bedingungen für den Euro schon ab Anfang 1999 erfüllen, sie wollten aber nicht teilnehmen. Auch für den RdFSR gilt: Das wegen mangelnder Fähigkeit lange fern gehaltene Griechenland gehört im Jahr 2001 zum Kreis der vollen Anwender der Schengen-Regelungen, während längst befähigte Länder wie Großbritannien und Irland diesem Kreis weiterhin fernbleiben und Dänemark zwar mitmacht, sich aber die Möglichkeit des einseitigen Fernbleibens von weiteren Projekten in diesem Politikfeld reserviert.

Die Haltung der Mitgliedstaaten zu den verschiedenen Arten von VZ wird aus einer Kombination dieser und anderer Motive geprägt. Eine sehr schematische Lesart sieht folgendermaßen aus:

- Auf der einen Seite stehen die meist hoch entwickelten Mitgliedstaaten, die - wie Großbritannien und Dänemark oder in gewissem Umfang auch Schweden - einem weiteren Kompetenztransfer auf die Gemeinschaftsebene prinzipiell ablehnend gegenüberstehen. Diesen Transfer wollen sie durch ihren Widerstand von Fall zu Fall bremsen. Einer umfangreichen VZ innerhalb der EU stehen sie reserviert gegenüber; lieber ist sie ihnen im Zweifelsfall außerhalb des Vertragssystems.

- Auf der anderen Seite stehen jene meist kleineren oder schwächer entwickelten Mitgliedstaaten, welche den Kompetenzzuwachs der EU zwar wollen, bei der Möglichkeit externer Zusammenarbeit aber fürchten, dort weder nach eigenem Willen teilnehmen, noch Einfluss ausüben zu können. Die meisten von ihnen wollten diese Initiativen der Zusammenarbeit unter das Dach des Vertrags ziehen.

In einer nochmals erweiterten Union nach 2004 dürften die Mechanismen der VZ noch stärker wirken. Voraussichtlich werden die Fähigkeiten der neuen Mitglieder zur Übernahme aller vertraglichen Pflichten in bestimmten Feldern noch nicht ausreichen, sodass die EU ihnen Übergangsfristen zugestehen wird. Dies gilt auch für die beiden größten Felder vordefinierter VZ, also der gemeinsamen Währung und dem RdFSR, wo auch im Jahr 2002 die Kontrolle der Außengrenzen noch nicht dem geforderten Niveau zu entsprechen schien. Für eine Übergangsfrist werden übrigens auch die bisherigen EU-Mitglieder ihrerseits Freistellungen von der vollen Anwendung bestimmter EU-Regeln verlangen. Das gilt etwa für die Freizügigkeit von Arbeitnehmern.

Wenn die Beitrittsstaaten wollen und keine unvorhersehbaren Entwicklungen eintreten, können viele von ihnen wohl noch innerhalb dieses Jahrzehnts beiden Kooperationsgruppen beitreten. Dabei können sie die Unterstützung der jetzigen Mitglieder einfordern. Nur der integrationspolitisch bedingte Wille zum Fernbleiben, wie ihn etwa der frühere tschechische Ministerpräsident Vaclav Klaus vertritt, wird eine längerfristige wirksame VZ bewirken können. Dieser Zusammenhang verstärkt bei den starken und fähigen Mitgliedstaaten die Zweifel am Nutzen von VZ für die Effektivitätssteigerung von Gemeinschaftspolitiken innerhalb einer nach Osten erweiterten Union.

III. Der Beitrag differenzierter Integration zur Unionsbildung

Oben wurde mit Blick auf die neuen Mechanismen integrationspolitischer Differenzierung danach gefragt, ob die Vorteile die absehbaren Nachteile kompensieren oder übertreffen würden. Außerdem wurde betont, wie sehr diese Bewertung von dem Leitbild europäischer Integration abhängt. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Textes gibt es noch kein Beispiel einer VZ nach dem Muster der Ermächtigungsregeln von Amsterdam. Insofern können die Schlussfolgerungen über den Beitrag verstärkter Zusammenarbeit zur Unionsbildung nur aus Fällen freier VZ außerhalb des Vertragsrahmens und der daraus hervorgegangenen vordefinierten VZ gezogen werden.

Auch mit dieser Einschränkung fällt eine eindeutige Antwort zu Beginn des Jahres 2003 noch schwer. Halten wir uns zunächst einmal an das traditionelle Leitbild der Union mit funktionierendem, weiter wachsendem acquis communautaire für alle Mitgliedstaaten. Zunächst könnte man den Beitrag der Differenzierung als im Großen und Ganzen positiv bewerten, vor allem mit Blick auf die "Karrieren" der monetären Vergemeinschaftung und der polizeilichen und innenpolitischen Kooperation in Maastricht und Amsterdam. WWU und RdFSR sind heute Fälle "vordefinierter" VZ innerhalb des Vertrags. Das gilt auch für die Weiterentwicklung der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Bei allen Unterschieden im Einzelnen hat hier die Einsicht den Ausschlag gegeben, dass der beschränkte Integrationsgrad außerhalb der EU die weitere Entwicklung der betreffenden Politik bremsen würde und immer mehr Mitgliedstaaten - und Beitrittskandidaten - in diesen Politikbereichen mitarbeiten wollten.

Dadurch ist aber die Integration der Fünfzehn insgesamt noch nicht gestärkt und vertieft worden. Nur weil wichtige Mitgliedstaaten weiter fernbleiben konnten, gelang die Übernahme dieser Politikbereiche durch die Union! Die Spaltung von Gemeinschaftsverfahren und Institutionen ist hier inzwischen Wirklichkeit. Und ganz allgemein ist damit auch das Gemeinschaftsverfahren geschwächt. Alle drei oben genannten Politikbereiche haben also auch bei ihrer Übernahme nicht den Charakter differenzierter Integration verloren. Ihre Übernahme hat vielmehr die Differenzierung - in einer bis 1992 unbekannten Weise - in die Institutionen und Verfahren der Union selbst eingebracht.

Wie man das Ergebnis beurteilt, hängt von zwei weiteren Erwägungen ab:

- Man geht davon aus, dass die Differenzierung der Integration nach dem neuen (und dem alten) Muster letztlich eine bezüglich der Themen und der nichtteilnehmenden Mitgliedstaaten weniger bedeutende Randerscheinung der Integration bleiben wird, oder man vermutet eine strukturell wirksame Anwendung der Differenzierung in zentralen Politiken.

- Im zweiten Fall geht man davon aus, dass diese Differenzierung sich jeweils nur als eine vorübergehende erweist und die betreffende Politik so attraktiv ist, dass sie letztlich sämtliche Mitgliedstaaten einbeziehen wird - man erwartet also nicht, dass die Differenzierung sich dauerhaft in bedeutenden Politikfeldern etablieren und ein langfristiges Strukturmerkmal der Union werden wird.

Für die erste Annahme einer nach Zahl und Art der betroffenen Mitgliedstaaten unbedeutenden Anwendung der neuen VZ innerhalb des Vertrags spricht im Jahr 2001 nur der bisherige Verzicht auf die Anwendung des Amsterdamer Ermächtigungsverfahrens. Andererseits ist eine vertragsinterne VZ in bedeutenden Politikfeldern wie der WWU und dem RdSFR auf dem Wege der "vordefinierten" VZ geschaffen worden.

Nehmen wir trotzdem einmal an, dass VZ hier nur eine Durchgangsstufe zur Vergemeinschaftung sein wird, also die zweite oben aufgeführte Erwägung zutrifft. Dann sind die Kosten dieser Entwicklung im Vergleich zum Gewinn bisher akzeptabel. Denn da die Vertiefungs- und Erweiterungsdynamik in der Union in jedem Fall weiter wirken, entsteht jedenfalls auch Druck zur Differenzierung. Denn die Unterschiede der Mitgliedstaaten im politischen Willen und in der Fähigkeit zu weiterer Integration bestehen fort oder vergrößern sich mit der Zunahme der Mitgliederzahl noch. Der Differenzierungsdruck braucht gleichsam Dekompressionskammern, in denen er über längere Fristen und bei möglichst geringer Belastung für die Union abgebaut werden kann. Solche Kammern innerhalb des Vertragssystems bietet aus dieser Sicht die verstärkte Kooperation nach Amsterdam.

Der Beitrag der VZ zur Stärkung der Gemeinschaftsverfahren dürfte bei alledem gering sein, denn der Vertrag verbietet eine gruppeninterne Vertiefung der Kooperation. Außerdem bleibt den Partnern, da sie im Vertrag an Offenheit und Solidarität gebunden sind, nur noch wenig Möglichkeit, den Beitritt zu ihrer Gruppe zu kontrollieren und an den Nachweis der Bereitschaft und Fähigkeit zur vollen Mitwirkung zu knüpfen. Damit ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Teilnehmer ihren in einem Politikfeld gegebenen Kooperationswillen nicht voll ausschöpfen können.

Insgesamt könnte die Antwort positiver ausfallen, würde man nur die externe Gruppenkooperation und vor allem die schon genannten Erfolge von Schengen und EWS/WWU berücksichtigen. Außerhalb der Union kommt es auch nicht zu den manchmal befürchteten Dominanzeffekten einer VZ-Gruppe innerhalb des Unions-Rahmens. Allerdings gerät die Gesamt-EU durch gruppierte Kooperation sehr wohl immer wieder unter Druck, und zwar auch ungewollt. So sieht sie sich in der Weiterentwicklung ihrer eigenen Integration beschränkt oder gar herausgefordert und delegitimiert. Das kann sie auch dazu zwingen, rascher als gewollt eine gemeinsame Position zum Stand und zu weiteren Optionen der Integration in einem gegebenen Politikfeld zu beziehen.

Hinsichtlich der Form künftiger VZ darf man nach den Erfahrungen mit der Eurogruppe in der WWU vermuten, dass sie nicht "rein" den Vorgaben des Vertrags folgt, sondern sich neben der offiziellen Verfahrensform gruppierter Abstimmung auch informelle, "frei kooperierende" Gruppen zur Vorbereitung dieser Abstimmungen bilden werden. Verbreitete VZ wird, institutionell gesehen, also nicht zu klareren Verhältnissen führen; vielmehr werden weitere Felder unsauberer und intransparenter Zwischenlösungen eingeführt.

Was fügen die neuen Ermächtigungsregeln für die Kooperation innerhalb des Vertragssystems dem Effekt institutioneller VZ noch hinzu, wenn man sie mit der Variante der vordefinierten VZ vergleicht? Der wesentliche zusätzliche Effekt dürfte in der Verhandlungssituation bei Einführung oder Veränderung größerer Gemeinschaftspolitiken entstehen. Dort verändert die Ermächtigungsregel die Balance zwischen Blockademöglichkeiten und Kompromisszwang. Dies wird möglicherweise den Kompromisswillen und das Vertrauen wichtiger Vertragspartner in die Unparteilichkeit der Institutionen und die Chancengleichheit aller Mitgliedstaaten stark verringern; der angestrebte Erleichterungseffekt für die Entscheidungsfindung könnte dann nicht erreicht, würde vielleicht sogar konterkariert werden. Das sind Bedenken, die sich nicht von der Hand weisen lassen, und sie ziehen den positiven Beitrag der vertragsinternen VZ zur Integrationsstruktur weiter in Zweifel.

Tatsächlich hängt bei der Bewertung viel davon ab, wie dauerhaft die entstehenden Strukturen differenzierter Integration letztlich sein werden. Vieles spricht dafür, dass mit der fortgesetzten Erweiterung der Union die Absichten und Möglichkeiten der Mitgliedstaaten zum Einstieg in neue Vergemeinschaftung oder zur Vertiefung bestehender Gemeinschaftspolitiken noch weiter auseinander klaffen werden als bisher. Strukturelle Differenzierung mit ihren negativen Wirkungen würde dann ein dauerhafter - und unausweichlicher - Bestandteil der EU werden.

Geht man vom Leitbild einer Union mit integrationserhaltender Struktur und integrationsstärkender Dynamik aus, wird eine strategische Analyse dieser Perspektive die Verfahren der VZ danach beurteilen müssen, ob und inwieweit sie auch auf diesem grundsätzlich veränderten Sockel weiterverfolgt werden kann. In dieser Perspektive sind drei Typen der künftigen VZ vorstellbar:

- Erstens eine verstärkte Zusammenarbeit, die als solche keine Struktur aufweist: Die Mitgliedstaaten engagieren sich in den Bereichen verstärkter Kooperation, die ihren jeweiligen Interessen am meisten entsprechen, ohne ein übergreifendes Muster erkennen zu lassen. Das Ergebnis ist eine VZ von unterschiedlichen Staatenkoalitionen, die sich über die verschiedenen Politikfelder der Union verteilt. Denkbar ist eine kleinteilige oder eine eher flächige Politikerfassung.

- Zweitens eine bestimmte Struktur, die sich nach Themen organisiert: Vorstellbar ist zum Beispiel, dass die Mitgliedstaaten bestimmte Kernpolitiken der Gemeinschaft weiterhin gemeinsam betreiben und sich nur bei Themen, die sie als nicht oder noch nicht zentral für die Union betrachten, zu differenzierter Integration bereit finden. Dies liefe in Richtung des alten Konzepts von Wallace und Wallace, wonach wenige Gemeinschaftsfelder wie der einheitliche Binnenmarkt und die Gemeinsame Außenwirtschaftspolitik den Nukleus der Union darstellen, neben dem eine gruppierte Zusammenarbeit unterschiedlicher Staatenkoalitionen in anderen Feldern toleriert werden kann.

- Drittens könnte auch die unterschiedliche Teilnahme der Mitgliedstaaten das strukturierende Merkmal bilden: Bestimmte Mitgliedstaaten nähmen nur an einigen Projekten verstärkter Kooperation teil, andere dagegen an allen. Es würde nicht oder nicht nur ein Kern gemeinsamer Politiken für alle Mitgliedstaaten entstehen, sondern auch ein Kern derjenigen, die an allen Politiken - einschließlich der verstärkten Kooperation - teilnähmen. Damit ist auch klar, dass man sich keine Struktur vorstellen darf, die nur eines der drei Merkmale aufweist. Es geht um die Dominanz eines Merkmals.

Im Sinne des oben genannten Leitbildes sind zwei dieser drei Typen nun großenteils negativ zu bewerten. Misst man sie aber nach den Leitbildern einer je anderen Art von Union, kommt man auch zu anderen Ergebnissen. Der erste Typ wäre am negativsten; er entspricht einer Integration à la carte und könnte zu einem Auseinanderfallen der bestehenden EU-Integrationsstruktur führen. Eine kleinteilige verstärkte Zusammenarbeit würde zusätzlich Politikfelder zerreißen. Für Anhänger einer großen Binnenmarktordnung mit funktionalen Untergruppen erscheint diese Lösung allerdings positiv.

Der zweite Typ einer variablen Geometrie mit einem gemeinsamen Kernbereich könnte diese Struktur am besten stabilisieren. Dies würde erlauben, die weiteren Integrationseffekte einzelner VZ-Projekte abzuwarten. Abhängig davon, wie nahe der gemeinsame Kernbereich dem Status quo der existierenden EU kommt, entspricht dieses Szenario am ehesten dem, was die Initiatioren der verstärkten Zusammenarbeit wollten - orientiert am Leitbild 1. Angesichts der Beharrungskraft des acquis communautaire ist dieses Szenario für die absehbare Zukunft auch das wahrscheinlichste. Diese Perspektive dürfte auch jenen gefallen, die in Richtung Autonomiewahrung und funktionale Handlungsfähigkeit gehen wollen, dabei aber einen Minimalrahmen verbindlicher Gemeinsamkeit ausdrücklich erhalten wollen. Es besteht allerdings die Möglichkeit, dass sich - quasi zwischen dem ersten und dem zweiten Typ - nicht nur ein gemeinsamer Kernbereich herausbildet, sondern mehrere, in denen sich unterschiedliche Koalitionen von Mitgliedstaaten engagieren. Keine positive Perspektive für die Integration der EU insgesamt!

Der dritte Typ, durchaus vereinbar mit dem zweiten, würde wohl mittelfristig das höchste Potenzial weiterer Integrationsstärkung enthalten. Diese lässt sich als stufenweiser Prozess denken: In einer ersten Stufe würde dieses Potenzial für die Kerngruppe wirksam, erst in einem zweiten - möglicherweise - für die gesamte Union. Es gibt also ein Spaltungsrisiko für die EU. Rückhaltlos zu begrüßen ist der dritte Typ daher nur für die Anhänger des Leitbild eines Kerneuropas.

Die Risiken für die fortdauernde Integration der EU nach dem Leitbild 1 wären beim ersten und beim dritten Typ am höchsten. Die zweite Variante stellt dagegen beim Entstehen eines für alle Teilnehmer gemeinsamen einzelnen Schwerpunktfeldes die am wenigsten risikante positive Perspektive einer differenzierten Integration dar.

Die Regeln des Vertrages und ihre 2003 anstehende Reform haben Einfluss darauf, in welche Richtung die Entwicklung längerfristig gehen kann. Am wichtigsten bleibt, wie viel Freiheit den Mitgliedstaaten zur VZ außerhalb des IR bleibt. Je mehr Freiraum sie haben, umso geringer werden die direkten Herausforderungen der VZ für die EU-Verfahren und -Institutionen ausfallen - umso stärker wird allerdings auch der indirekte Druck auf bestimmte Felder der EU-Integration durch außervertragliche VZ. Auf dieses Verhältnis zwischen außer- und innervertraglicher VZ wirken auch die Bedingungen, die kooperationswillige Mitgliedstaaten erfüllen müssen, damit ihr Vorhaben innerhalb des Vertragssystems zugelassen wird. Je größer die Mindestteilnehmerzahl und das Zustimmungsquorum und je stärker die Rücksichtnahme auf den acquis communautaire und die Interessen der Nichtteilnehmer ausfallen, umso unattraktiver wird die innervertragliche Kooperation und umso interessanter die außervertragliche Zusammenarbeit. Je großzügiger dagegen die Konditionen für innervertragliche VZ werden, umso zahlreicher könnten diese angewendet werden; dies würde auch die Herausforderungen für die Institutionen und Verfahren verstärken.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Christian Deubner, Flexibilität und Entwicklung der europäischen Integration, in: Claus Dieter Ehlermann (Hrsg.), Der rechtliche Rahmen eines Europas in mehreren Geschwindigkeiten und unterschiedlichen Gruppierungen (Schriftenreihe der Europäischen Rechtsakademie Trier, Bd. 26), Köln 1999, S. 117 - 132; Eric Philippart/Monika Sie Dhian Ho, The pros and cons of closer cooperation within the EU (Niederländischer Wissenschaftlicher Rat für Regierungsberatung), Den Haag 2000; Françoise de la Serre/Helen Wallace, Flexibility and Enhanced Cooperation in the European Union. Placebo rather than Panacea?, Paris 1997; Claus Giering, Vertiefung durch Differenzierung. Flexibilisierungskonzepte in der aktuellen Reformdebatte, in: Integration, 20 (1997).

  2. Vgl C. Deubner, ebd.; E. Philippart/M. Sie Dhian Ho, ebd.

  3. Vgl. Eckart Gaddum, Europäisches Währungssystem, in: Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels (Hrsg.), Europa von A-Z. Taschenbuch der Europäischen Integration, Bonn 1997, S. 111 - 114.

  4. Vgl. Reinhard Rupprecht, Justiz und Inneres, in: W. Weidenfeld / W. Wessels, ebd., S. 156 - 161; C. D. Ehlermann (Hrsg.) (Anm. 1); Klaus-Peter Nanz, Das Schengener Übereinkommen. Personenfreizügigkeit in integrationspolitischer Perspektive, in: Integration, 17 (1994) 2, S. 92 - 108.

  5. Vgl. W. Weidenfeld / W. Wessels (Anm. 1); C. Deubner (Anm. 1).

  6. Nach der Ablehnung der Nizza-Vertragsrevision durch das irische Referendum von Juni 2001 ist es allerdings noch nicht sicher, daß diese Änderungen in vollem Umfang aufrechterhalten werden können. Vgl. zum Veto den geänderten EGV Art. 11(2) und EUV Art. 40(2), zur Mindestzahl den geänderten EUV Art. 43 (1) d), zur Außen- und Sicherheitspolitik den geänderten Titel V des EUV.

  7. Zu den folgenden Kategorien vgl. Alexander Stubb, A Categorisation of Differentiated Integration, in: Journal of Common Market Studies, (1996) 2, S. 283 - 295.

  8. Vgl. Vlad Constantinesco, Les clauses de "coopération renforcée", in: RTD européen, 33 (1997) 4, S. 751 - 767, hier S. 755.

  9. Vgl. E. Gaddum (Anm. 3).

  10. Vgl. C. D. Ehlermann (Anm. 1), S. 17.

  11. Das so genannte Schengen II, vgl. dazu K.-P. Nanz (Anm. 4).

  12. Vgl. E. Gaddum (Anm. 3).

  13. Vgl. Christian Deubner, Harnessing Differentiation in the EU. Flexibility after Amsterdam (Working Paper, hrsg. durch EU-Commission Forward Studies Unit), Brüssel 2000.

  14. Vgl. V Constantinesco (Anm. 8), S. 755.

  15. Vgl. Christian Deubner, A Comparison of National Views, in: Antonio Missiroli (Hrsg.), Flexibility and Enhanced Cooperation in European security matters. Assets or Liabilities (Occasional Paper No.6 of the Institute for Security Studies, WEU), Paris 1999, S. 11 - 19, hier S. 14f.

  16. Vgl. E. Philippart/M. Sie Dhian Ho (Anm. 1).

  17. Vgl. Helen Wallace/William Wallace, Flying Together in a Larger and More Diverse European Union (W 87 Working Documents, The Netherlands Scientific Council for Government Policy), The Hague 1995.

  18. Vgl. Claus Dieter Ehlermann, Differenzierung, Flexibilität und engere Zusammenarbeit. Die neuen Vorschriften des Amsterdamer Vertrages, in: ders. (Anm. 1), S. 16.

  19. Eine neuere Formulierung dieser These bietet Jean-Louis Quermonne, Die Europäische Union auf der Suche nach legitimen und effizienten Institutionen, in: Integration, 23 (2000) 2, S. 81 - 88.

  20. Vgl. Alex Warleigh, Flexible Integration. Which Model for the European Union?, Sheffield 2002.

  21. Das ist auch mit der positiven Sicht Philipparts und Sie Dhian Hos am ehesten vereinbar. Vgl. E. Philippart/M. Sie Dhian Ho (Anm. 1), S. 21.

Dr. phil. habil., geb. 1942; 1978 - 2002 Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik; seit 2002 im staatlichen Plankommissariat in Paris.
Anschrift: CPG, 18 rue de Martignac, 75700 Paris 07 SP.
E-Mail: E-Mail Link: cdeubner@plan.gouv.fr

Veröffentlichungen u. a.: Harnessing Differentiation in EU. Flexibility after Amsterdam, hrsg. von der EU-Kommission, Brüssel 2000; Währungsunion ohne Politische Union?, SWP-Studie, Berlin 2001; zahlreiche Beiträge zu europapolitischen Fragen.