Einleitung
Es tut sich etwas in Brüssel. Kaum beachtet von den nationalen Öffentlichkeiten sind die Beratungen des Europäischen Konvents in ihre entscheidende Phase getreten. Dabei geht es um nichts Geringeres als die institutionelle Gestalt Europas, also die Festlegung, für welche Politikbereiche eine erweiterte Union künftig in welcher Form zuständig sein soll. Selbst wenn die Letztentscheidung über den Verfassungsvertrag am Ende den Staats- und Regierungschefs vorbehalten bleibt, besteht doch kein Zweifel, dass sich das Geschacher von Nizza diesmal nicht wiederholen wird. Auf ihrem Gipfeltreffen vor zwei Jahren hatten die Herren der europäischen Verträge noch geglaubt, die im Zuge der Osterweiterung notwendig werdenden institutionellen Strukturanpassungen selbst aushandeln zu müssen. Mit der Einsetzung des Konvents haben sie sich jetzt verpflichtet, dessen Beratungsergebnisse als verbindliche Entscheidungsgrundlage zu akzeptieren. Allein darin liegt im Vergleich zum früheren Verfahren ein beachtlicher Fortschritt.
Ob das auch von dem bald vorliegenden Text des Verfassungsvertrags gesagt werden kann, ist eine andere Frage. Das Präsidium des Konvents ist im Oktober mit einem "Vorentwurf" an die Öffentlichkeit getreten, der noch keine inhaltlichen Bestimmungen enthält, wohl aber die Architektur des auf 46 Artikel ausgelegten Vertragsgebildes vorgibt und damit für die weiteren Beratungen wichtige Weichenstellungen vornimmt.
Mit der Entsendung von Joschka Fischer in den Konvent hat die Bundesregierung unterstrichen, dass sie den dortigen Beratungen von jetzt an größtmögliche Priorität einräumt. Damit wird sich ihr Gewicht im Konvent zweifellos verstärken. Mit der Person Joschka Fischer wird ja nicht nur der für die Europapolitik hauptzuständige Bundesminister am Verfassungsgebungsprozess unmittelbar beteiligt sein, sondern auch ein ausgesprochener Befürworter supranationaler Integrationsideen, der in seiner inzwischen berühmten Berliner Humboldt-Rede vor zwei Jahren sogar soweit gegangen war, die Abschaffung des Ministerrates als Reformmaßnahme zu erwägen.
I. Das semi-präsidentielle System als falsche Alternative
Im Zentrum der Diskussion um das künftige Institutionensystem steht der von Giscard ventilierte Vorschlag eines von den nationalen Regierungen zu ernennenden europäischen Präsidenten, der an die Stelle der bisherigen halbjährlich rotierenden Ratspräsidentschaft treten soll. Auch wenn der Vorentwurf sich über dessen Bestellungsmodus, Amtszeit und Kompetenzen ausschweigt, werden die Beratungen damit in eine Richtung gelenkt, die den Befürworten des intergouvernementalen Ansatzes besser gefallen dürfte als den Supranationalisten. Die Idee war ja schon vorher von den Regierungschefs Großbritanniens und Spaniens ins Spiel gebracht worden, zwei Ländern also, die das zwischenstaatliche Modell der Integration von jeher favorisiert haben.
Die Schaffung eines Präsidentenamtes im Europäischen Rat würde die dualistische Struktur der Exekutive im Institutionensystem der EU nicht nur perpetuieren, sondern weiter zuspitzen. Sucht man unter den demokratischen Verfassungsstaaten nach Vergleichsbeispielen für eine solche Struktur, kommt einem am ehesten der "Semi-Präsidentialismus" der V. Französischen Republik in den Sinn.
Die Analogie zur europäischen Politik liegt auf der Hand. Die Schaffung eines aus dem Kreis der Staats- und Regierungschefs zu besetzenden Präsidentenamts ergibt nur dann Sinn, wenn dieses Amt mit einem Teil der Kompetenzen ausgestattet wird, über die der Europäische Rat als kollektives Organ bereits verfügt. Zu denken ist dabei insbesondere an die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), für die vor einigen Jahren die Position eines Hohen Beauftragten geschaffen und auf der Ratsebene angesiedelt wurde (derzeit von Javier Solana bekleidet).
Ein auf der Ratsebene angesiedelter Präsident würde nicht nur Blockadetendenzen heraufbeschwören und damit die Funktionsfähigkeit des gesamten Institutionensystems gefährden; er wäre auch unter demokratischen Aspekten ein Rückschritt. Nach den Vorstellungen von Aznar, Blair und Chirac soll das neu zu schaffende Amt so bestellt werden wie heute schon der Kommissionspräsident: durch die souveräne Entscheidung der Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat. Hier liegt zugleich der Hauptunterschied zum "normalen" Semi-Präsidentialismus. Dessen demokratische Qualität beruht ja gerade darauf, dass er die beiden Teile der Exekutive mit einer vergleichbaren Legitimationsbasis ausstattet, indem diese von der Wählerschaft mittelbar oder unmittelbar eingesetzt werden. Im semi-präsidentiellen System der EU würde die Legitimationskette zum Volk demgegenüber nochmals verlängert, weil die Bestellung allein den Ratsmitgliedern vorbehalten bleibt. Die Folge wäre eine Vergrößerung des Demokratiedefizits, an der auch die bessere legitimatorische Anbindung des Kommissionspräsidenten an das Europäische Parlament nicht viel ändern könnte, im Gegenteil: Wenn sich die politischen Gewichte von der Kommission auf den Rat weiter verlagern, wie es von den Anhängern des neuen Präsidentenamtes zweifelsohne beabsichtigt ist, dann ergibt es keinen Sinn, die Demokratisierungsbemühungen ausgerechnet bei der Kommission anzusetzen. Schon jetzt ist es ja so, dass das Organ mit der stärksten Legitimation in der EU - das Europäische Parlament - am wenigsten zu sagen hat. Warum sollte man diese Asymmetrie noch weiter verstärken?
Als Zwischenbilanz können wir also festhalten: Ein semi-präsidentielles Regierungssystem wäre zwar ein logischer Schritt auf dem bisherigen institutionellen Entwicklungspfad der Gemeinschaft, der durch eine dialektische Wechselbeziehung von supranationaler Institutionenbildung einerseits und der Stärkung intergouvernementaler Kooperationsformen andererseits gekennzeichnet ist; es würde aber sowohl hinsichtlich seiner Funktionsfähigkeit als auch unter Demokratiegesichtspunkten gravierende Probleme aufwerfen. Doch gibt es überhaupt realistische Alternativen? Betrachtet man die unterschiedlichen Integrationsvorstellungen und -leitbilder der einzelnen Mitgliedsstaaten, die sich natürlich auch in der Zusammensetzung des Konvents widerspiegeln, muss die Antwort wohl nein lauten. Für eine echte Bundesstaatslösung ist die Europäische Union zur Zeit noch nicht reif.
II. Die parlamentarische Demokratisierungstrategie
Die Supranationalisten favorisieren anstelle des semi-präsidentiellen mehrheitlich ein (rein) parlamentarisches Regierungssystem, so wie es in den meisten EU-Mitgliedsstaaten vorherrscht. Eine Minderheit tritt für die Einführung eines präsidentiellen Systems nach amerikanischem Vorbild ein. Beiden Vorschlägen ist gemeinsam, dass sie bei der Demokratisierung auf die Kommission abzielen, die das Herzstück der Exekutive bildet und mithin das eigentliche Regierungsorgan der Union darstellt. Die legislative Funktion soll nach den Vorstellungen der Supranationalisten von Parlament und Rat gemeinsam ausgeübt werden, wobei der Europäische Rat seine Rolle als "Übergesetzgeber" weitgehend einbüßen würde. Abweichend von einem normalen föderalistischen System wären lediglich die Abstimmungsregeln im Rat, wo die Entscheidungen in der Regel mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden. (Zur Zeit liegt das Zustimmungsquorum bei 72 Prozent.)
In ihrer heutigen institutionellen Struktur bildet die EU eine Gemengelage zwischen dem parlamentarischen und präsidentiellen Modell.
Indem es die Kommission auch als Ganzes bestätigen muss, hat das Europäische Parlament dem amerikanischen Senat freilich ein wichtiges Recht voraus. Einige Autoren haben darin bereits den Vorboten eines echten (positiven) Bestellungsrechts erblickt,
Mit ihrem Vorschlag greifen die europäischen Parteienvertreter eine alte Idee von Jacques Delors auf, der schon Anfang der neunziger Jahre gefordert hatte, die Wahlen zum Europäischen Parlament zu einer faktischen Vorentscheidung über den Kommissionspräsidenten zu machen. In Sachen Demokratie wäre das ein bedeutender Fortschritt, weil es die Parlamentswahlen endlich zu europäischen Wahlen machen würde. Die beiden großen (bürgerlichen und sozialdemokratischen) Parteienfamilien könnten sich EU-weit auf jeweils einen Spitzenkandidaten verständigen, der dann mit einer personellen und programmatischen Plattform in den Wahlkampf ziehen würde. Für die Wähler stünde damit in Bezug auf Europa tatsächlich etwas auf dem Spiel, sodass sie ihre Entscheidung nicht mehr wie bisher nur unter nationalen Gesichtspunkten treffen müssten. Die zuletzt (1999) auf ein Rekordtief gesunkene Wahlbeteiligung zeigt deutlich, dass eine wirkliche Legitimation des europäischen Institutionensystems von den Wahlen zum EP bislang nicht ausgehen konnte.
Ob die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament schon ein parlamentarisches Regierungssystem begründet, bleibt allerdings die Frage. Dagegen spricht zum einen das im parlamentarischen System unübliche Bestätigungsrecht der Zweiten Kammer, das - wie gesehen - eine Anleihe beim US-Präsidentialismus darstellt. Zum anderen dürfte es von der Ausgestaltung des Misstrauensvotums abhängen: Wenn der Kommissionspräsident mit Mehrheit gewählt wird, wäre es unlogisch, für seine Abwahl ein höheres Quorum vorzuschreiben (was heute der Fall ist). Eine vollständige Parlamentarisierung würde des weiteren voraussetzen, dass das Parlament in allen Bereichen der Gesetzgebung mitwirkt, das Initiativrecht erhält und als eigentliches legislatives Beschlussorgan auftritt - auch davon ist die Europäische Union gegenwärtig noch Meilen entfernt.
Handelt es sich dabei um minder schwere Punkte, die auf mittlere und lange Sicht durchaus korrigierbar sind, so gibt es auf der anderen Seite auch grundsätzliche Bedenken gegen die Parlamentarisierungsstrategie. Diese setzen bei der Funktionslogik des parlamentarischen Systems an, die auf der engen politischen Verbindung von Regierung und Parlamentsmehrheit beruht. Die Regierung wird von den Fraktionen bestellt und im Amt gehalten, die aus den Parlamentswahlen als Mehrheit hervorgegangen sind, während die parlamentarische Minderheit die Rolle der Opposition übernimmt. Damit dieses Spiel funktioniert, müssen die Parteien ein hohes Maß an ideologischem und organisatorischem Zusammenhalt aufweisen - eine Bedingung, die das heutige europäische Parteiensystem nur bruchstückhaft erfüllt. Von daher stellt sich die Frage, ob das parlamentarische System in seiner mehrheitsdemokratischen Logik die bestehenden Legitimationsstrukturen der europäischen Politik nicht zwangsläufig überfordern würde.
III. Die präsidentielle Demokratisierungsstrategie
An dieser Stelle gewinnt das von einer Minderheit favorisierte präsidentielle Demokratisierungsmodell an Interesse,
Das Beispiel des amerikanischen Kongresses zeigt, dass Parlamente gerade dort mächtig sind, wo sie auf die Funktion einer Legislative beschränkt bleiben. Hier liegt auch der Grund dafür, dass die Position des Europäischen Parlaments im Gesetzgebungsprozess schon heute stärker ist als landläufig vermutet. Das EP verfügt zwar nur in bestimmten Bereichen der Gesetzgebung über ein dem Rat gleichberechtigtes Beschlussrecht; wo es mitentscheiden kann, übt es jedoch häufig größeren Einfluss aus als die nationalen Parlamente, denen die Regierungen als Gesetzgeber weitgehend den Rang abzulaufen haben.
Die Direktwahl des Kommissionspräsidenten würde demgegenüber auf der parlamentarischen Seite alles beim Alten lassen: Das Europäische Parlament könnte sich als Volksvertretung weiter demokratisieren (durch ein einheitliches und gleiches Wahlrecht), seine Gesetzgebungsbefugnisse im Verhältnis zum Ministerrat ausbauen und auch seine bisherigen Kontrollrechte gegenüber der Kommission behalten (einschließlich des Rechts, die Kommissionsmitglieder vor ihrer Ernennung zu bestätigen). Die gewaltentrennende Logik des Präsidentialismus, die darin zum Ausdruck kommt, entspricht der Heterogenität der europäischen Politik eher als das auf Gewaltenverschränkung ausgelegte parlamentarische System. Im Unterschied zu den USA, wo sich die fragmentierten Entscheidungsprozesse im Rahmen eines mehrheitsdemokratischen Systems abspielen, würde die EU ihren Charakter als Konsensdemokratie ja nicht verlieren, wenn man die Direktwahl einführte. Der Gefahr, dass einzelne Länder bei einer solchen Abstimmung majorisiert werden, ließe sich durch entsprechende Nominierungsregeln begegnen. Und selbst dann blieben immer noch genügend Vetomöglichkeiten, die Ministerrat und Parlament gegen die Kommission wahrnehmen könnten, wobei insbesondere das Parlament von seiner unabhängigen Position profitieren würde.
Angesichts dieser Vorteile ist es schade, dass der Direktwahlvorschlag in der aktuellen Verfassungsdiskussion als alternativer Demokratisierungspfad kaum Beachtung findet. Die Gründe dafür dürften zum einen in den parlamentarischen Traditionen der Mitgliedsstaaten liegen, die das präsidentielle Modell als institutionellen Fremdkörper erscheinen lassen; zum anderen hängen sie mit dem Verdacht zusammen, dass eine Volkswahl des Kommissionspräsidenten die konsensuellen Strukturen der EU noch stärker belasten würde als eine Wahl durch das Parlament. Obwohl beide Einwände einer genaueren Überprüfung nicht standhalten,
IV. Institutionenreform und differenzierte Integration
Es spricht also vieles dafür, dass die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament als Konventsbeschluss kommt; die Intergouvernementalisten werden sie als Preis entrichten müssen, um die Zustimmung der Supranationalisten für das neu zu schaffende Präsidentenamt auf der Ratsebene zu erlangen. Das Problem dieser Konstruktion liegt freilich darin, dass sie institutionell kaum tragfähig wäre; die Union würde sich damit - wie oben gezeigt - in funktioneller wie demokratischer Hinsicht einen Bärendienst erweisen. Einen solchen Kompromiss, der hinter den erreichten Status quo zurückfällt, kann im Ernst niemand wollen. Von daher stellt sich die Frage nach den Alternativen: Lassen sich die unterschiedlichen Vorstellungen und Interessen der beiden Seiten so miteinander verbinden, dass am Ende dennoch ein funktionsfähiges und demokratisch ansprechendes Institutionensystem geschaffen wird? Und wäre eine solche Kompromisslinie im Rahmen des jetzt vorliegenden Verfassungsentwurfs überhaupt möglich?
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, muss man sich zunächst in Erinnerung rufen, dass der Konflikt zwischen Intergouvernementalisten und Supranationalisten schon eine lange Geschichte hat. Im Grunde kennzeichnet er die EU seit der ersten Erweiterungsrunde 1973, als sich mit Großbritannien und Dänemark die heute führenden Euroskeptiker zur damaligen Sechser-Gemeinschaft hinzugesellten. Virulent wurde der Konflikt insbesondere bei der Frage nach der Priorität von Vertiefung oder Erweiterung der Gemeinschaft. Beides miteinander zu vereinbaren wäre in den achtziger und neunziger Jahren schwierig geworden, wenn die Union nicht als Antwort auf das Dilemma eine bis heute gültige Lösung gefunden hätte, nämlich das Prinzip der differenzierten Integration. So konnten sich einerseits unwillige Staaten aus der Verfolgung bestimmter Integrationsziele innerhalb des bestehenden Institutionensystems ausklinken (Beispiel: Währungsunion). Andererseits haben Gruppen von Staaten außerhalb des Systems neue Institutionen gebildet, um weiter gehende Integrationsziele zu verfolgen (Beispiel: Schengen-Abkommen).
Eine sehr viel radikalere Vorstellung von differenzierter Integration hat Joschka Fischer in seiner Berliner Humboldt-Rede entwickelt. Die Radikalität besteht darin, dass Fischer seine Idee eines "Gravitationszentrums" nicht nur auf das materielle Zusammenwirken (in bestimmten Politikfeldern) beziehen möchte, sondern ausdrücklich auch auf die institutionelle Entwicklung der Gemeinschaft. Die voranschreitende Staatengruppe würde danach "einen neuen europäischen Grundvertrag schließen, den Nukleus einer Verfassung der Föderation. Und auf der Basis dieses Grundvertrages würde sie sich eigene Institutionen geben, eine Regierung, die innerhalb der EU in möglichst vielen Fragen für die Mitglieder der Gruppe mit einer Stimme sprechen sollte, ein starkes Parlament, einen direkt gewählten Präsidenten. Ein solches Gravitationszentrum müsste die Avantgarde, die Lokomotive für die Vollendung der politischen Integration sein und bereits alle Elemente der späteren Föderation umfassen."
Fischers Vorschlag würde die bisherige Logik des Einigungsprozesses umkehren, nach der die institutionellen Aspekte der materiellen (politikinhaltlichen) Integration untergeordnet bzw. auf das materielle Integrationsziel hin ausgerichtet werden. Wofür die neu geschaffenen Institutionen der Kerngruppe genau zuständig sein sollten, ist in dem Konzept aber kaum geklärt; ebenso das Verhältnis der neuen zu den bereits bestehenden Institutionen. Die von Fischer genannten Bereiche einer verstärkten Zusammenarbeit - Wirtschaftspolitik, Umweltschutz, Verbrechensbekämpfung, Einwanderung/Asyl sowie Außen- und Sicherheitspolitik - sind ja heute schon Gegenstand der europäischen Politik. Ob ihre Forcierung den Aufbau eines parallelen Institutionensystems rechtfertigt, ist insofern keineswegs ausgemacht. Die Folgen eines solchen Schritts wären allerdings beträchtlich: Ein Gravitationszentrum würde die bestehende institutionelle Klammer der Gemeinschaft beseitigen und sie damit praktisch in zwei Teile zerreißen. Dies wäre für die weitere Vertiefung der Integration gewiss ein zu hoher Preis.
Hält man hingegen am Ziel einer gemeinsamen institutionellen Klammer fest, dann muss sich die differenzierte Integration auch weiterhin zunächst an den materiellen Bereichen der Zusammenarbeit ausrichten. Schon heute lässt das Institutionensystem für ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten genügend Raum. So sind z.B. die abgestuften Beteiligungsrechte des Europaparlaments in den verschiedenen Bereichen der Gesetzgebung selbst für Experten kaum noch überschaubar.
Gerade Letzteres könnte einen Ansatzpunkt darstellen, um die unterschiedlichen Positionen von Intergouvernementalisten und Supranationalisten bei der Gestaltung des Institutionensystems zu überbrücken. Die Supranationalisten sollten den Intergouvernementalisten entgegenkommen, in-dem sie in bestimmten Politikbereichen von weiteren Integrationsforderungen Abstand nehmen - wie wünschenswert diese aus ihrer Sicht auch sein mögen.
Ziel einer solchen Verhandlungsstrategie müsste es sein, eine generelle Verschiebung der institutionellen Balance in Richtung Intergouvernementalismus zu verhindern, wie sie durch ein neu geschaffenes Präsidentenamt auf der Ratsebene zweifellos eintreten würde. Das dahinter stehende Kalkül ist einfach: Institutionen weisen erfahrungsgemäß ein hohes Beharrungsvermögen auf, lassen sich also, wenn sie einmal etabliert sind, nur schwer wieder verändern. Die Konkurrenz zweier Präsidenten innerhalb der Exekutive würde die institutionelle Entwicklung der EU auf lange Sicht vorprägen. Integrationspolitisch wäre das wahrscheinlich ein größerer Schaden als der Verzicht auf eine stärkere materielle Zusammenarbeit, der ja nur vorübergehend zu sein braucht. Auch die Außen- und Sicherheitspolitik könnte irgendwann einmal in den Bereich der vergemeinschafteten Politikfelder hinwachsen. Umso wichtiger ist es, dass funktionsfähige und demokratisch legitimierte Institutionen dafür schon vorab bereitgehalten werden. Die Verfassungsgeber im Europäischen Konvent tragen deshalb für den Fortgang des Integrationsprozesses hohe Verantwortung. Von ihrer Arbeit wird es mit abhängen, ob die Gleichzeitigkeit von Vertiefung und Erweiterung der Gemeinschaft auch in Zukunft gelingt.