I. Europäische Verfassung und europäische Identität
Seit dem 28. Februar 2002 tagt in Brüssel der Europäische Konvent. Sein Ziel ist die Formulierung eines europäischen Verfassungsvertrages. Ob dieser eine Stärkung von Effizienz, Transparenz und demokratischer Legitimation der EU bewirken kann, hängt von der Bereitschaft der politischen Eliten und Bevölkerungen in den Mitgliedstaaten ab, den Weg einer europäischen Verfassungsentwicklung mitzugehen. Der Willen wird umso größer sein, je stärker nationale politische Identitäten einen Prozess der Europäisierung durchlaufen haben. Eine sich schrittweise herausbildende Kongruenz zwischen verfassungsrechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Ordnungsstrukturen einerseits und einer europäischen politischen Kultur andererseits - beruhend auf gemeinsamen politischen Werten und einem Mindestmaß an Identifikation der Eliten und Bürger mit der EU - kann als Überlebensbedingung der neuartigen europäischen Verfassungsordnung betrachtet werden. Gleichzeitig wird eine erfolgreiche Verfassungsentwicklung ihrerseits zu einer europäischen Identitätsstiftung beitragen und die Herausbildung eines "europäischen Verfassungspatriotismus" befördern können. Dabei handelt es sich aber um einen langfristigen Prozess. Ein kritischer Testfall für die Reichweite und politische Belastbarkeit der Europäisierung nationaler Identitäten wird jedoch sehr viel schneller eintreten - dann nämlich, wenn das Ergebnis der Konventsarbeit und der nachfolgenden Regierungskonferenz zur Reform der Verträge in den Mitgliedstaaten ratifiziert werden muss. In Frankreich kann eine Ratifizierung in Form eines Referendums nach dem Vorbild des Maastricht-Referendums vom September 1992 als wahrscheinlich gelten.
Den Vertretern aus Frankreich und Deutschland wird eine zentrale Rolle im Konvent zukommen.
II. Interne und externe Dimensionen nationaler Identität
Bei der Untersuchung des Verhältnisses zwischen nationaler und europäischer Identität kann zwischen internen und externen Aspekten von Identität unterschieden werden. Peter J. Katzenstein hat vorgeschlagen, "Staatsidentitäten" von "nationalen Identitäten" abzugrenzen: "State identities are primarily external; they describe the actions of governments in a society of states. National identities are internal; they describe the processes by which mass publics acquire, modify and forget their collective identities."
Nur wenn diese nationalen Identitäten einen Prozess der Europäisierung durchlaufen, können wachsende Spannungen zwischen europäischen Realitäten und nationalen Befindlichkeiten vermieden werden. Wie lässt sich ein EU-System gegenüber den Bevölkerungen der Mitgliedstaaten legitimieren, in dem die eigene Nation in wichtigen politischen Fragen überstimmt werden kann, das europäische gegenüber dem nationalen Recht Vorrang besitzt, eine Einheitswährung mit zentraler Geldpolitik existiert und erhebliche finanzielle Ressourcen in der Struktur- und Agrarpolitik zwischen den Mitgliedsländern umverteilt werden, wenn nicht an europäische Identifikationen angeknüpft werden kann, die neben die nationalen treten? Eine Legitimierung des europäischen Systems allein über seinen "Output" und seine Leistungsfähigkeit bleibt fragil und wenig belastbar. So erscheint eine Kombination aus nationalen und europäischen, internen und externen Identitäten dem Entwicklungsstand und auch der wahrscheinlichen Entwicklungsdynamik der EU am ehesten angemessen: Einer "hybriden" Form des Regierens im Rahmen eines Mehrebenenverfassungsverbundes
III. Historische Voraussetzungen für eine Europäisierung nationaler Identitäten
1. Die externe Dimension
Die historischen Voraussetzungen für die Europäisierung nationaler Identität
Eine "reflexartige" Präferenz für multilaterale Politikmuster
In Frankreich hingegen behielt des Paradigma der nationalen Souveränität einen ungleich höheren Stellenwert. Die frühe Nationalstaatsbildung, die enge Verbindung zwischen Nationalstaats- und Demokratieentwicklung, das Fehlen eines mit Deutschland vergleichbaren historischen Bruches, die jakobinisch-zentralistische Tradition und die historische Rolle Charles de Gaulles und des Gaullismus begünstigten ein wesentlich stärkeres Festhalten an der Selbstdefinition als souveräner Nationalstaat im Verhältnis zur internationalen Umwelt und zu den europäischen Integrationsstrukturen. Das nationale Rollenverständnis in der Außen- und Sicherheitspolitik wurde als dasjenige einer "residual world power" beschrieben, charakterisiert durch das Selbstbild einer aktiven regionalen Führungsmacht mit weltpolitischen Ambitionen und weltweiter Präsenz.
Dieses divergierende Rollenverständnis wiederum beeinflusste die Definition "nationaler" Interessen im Verhältnis zur internationalen und europäischen Umwelt: Während Frankreich nie Probleme damit hatte, nationale gegen europäische Interessen zu stellen, haben sich die Bundesregierungen in der Vergangenheit stets bemüht, "nationale Interessen" in einer Art und Weise zu definieren, dass sie kaum je in Konflikt zu "europäischen Interessen" geraten konnten.
2. Die interne Dimension
Hinsichtlich der Voraussetzungen für eine europäische Transformation nationaler kollektiver Identität, d.h. der internen Dimension nationaler Identität, bietet sich ein weniger eindeutiges Bild. Gewiss haben die historischen Brüche in der deutschen Geschichte, die späte Einigung im 19. Jahrhundert und die 40-jährige staatliche Teilung im 20. Jahrhundert dazu beigetragen, dass eine "nationale" Identität in Deutschland sehr viel schwieriger zu definieren war als in Frankreich. Nach der NS-Zeit war diese in wichtigen Inhalten zutiefst diskreditiert. Die europäische Öffnung nach dem Krieg nahm häufig die Form einer bewussten Abgrenzung von der historisch schwer belasteten nationalen Identität an.
In Frankreich hingegen war es nicht nur aufgrund der kontinuierlicheren (Fort-)Entwicklung nationaler Identität - Fernand Braudel benutzt das Bild von Sedimentationsprozessen
Dieser Weg war den Deutschen durch den Geschichts- und Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus versperrt: Für viele Franzosen war Europa die Verlängerung der eigenen Geschichte, für zahlreiche Deutsche dagegen die Lehre aus der eigenen Geschichte.
IV. Reichweite der Europäisierung nationaler Identitäten
1. Die externe Dimension
"Staatsidentitäten" bzw. die externe Dimension nationaler Identitäten werden einerseits durch das konkrete Handeln der Regierungen, andererseits durch Diskurse und programmatische Äußerungen der politischen Eliten und Parteien geprägt, fortgeschrieben und gegebenenfalls verändert.
In Deutschland hat sich an der Bereitschaft, auf die Herausforderungen in zentralen Politikbereichen mit dem Streben nach Integrationsvertiefung statt mit nationalen Alleingängen zu reagieren, von den Maastrichter Vertragsverhandlungen bis zur aktuellen Arbeit des Verfassungskonvents im Grundsatz wenig geändert.
Programmatische Äußerungen deutscher Parteien zur Europapolitik, speziell zu Kernfragen europäischer Verfassungsentwicklung, vermitteln seit Jahrzehnten und bis auf den heutigen Tag das Bild, dass "in Deutschland ein breiter und stabiler Konsens zwischen Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen existiert"
Eine internationale Expertenbefragung zur europapolitischen Positionierung von Parteien, durchgeführt in 17 europäischen Ländern im Zeitraum zwischen 1984 und 1996, bestätigt diesen Befund. Für Deutschland ergibt sich im Expertenurteil alles in allem ein Bild stabiler integrationsfreundlicher Positionen von Christ-, Frei- und Sozialdemokraten. Während für die CSU eine Abschwächung der proeuropäischen Orientierung seit 1988 - allerdings ausgehend von einem hohen Niveau - diagnostiziert wurde, gilt umgekehrt für die Grünen, dass ihre ursprüngliche integrationskritische Grundhaltung in den neunziger Jahren einer immer stärkeren Zustimmung Platz gemacht hat,
Selbst die Debatte um den Maastrichter Vertrag und die Aufgabe der D-Mark zugunsten des Euro konnte keine tief reichende und anhaltende europapolitische Spaltungslinie innerhalb der deutschen politisch-gesellschaftlichen Eliten hervorrufen. Hier zeigte sich exemplarisch, wie fest gefügt der bundesdeutsche Europakonsens und die europäische Identität der Eliten ist, wenn selbst die Aufgabe des nationalen Identitätssymbols D-Mark und die schwer vorhersehbare Verteilung von wirtschaftlichen Kosten und Nutzen kaum Anlass zu einer Grundsatzdebatte über die europäische Integration boten. Nicht einmal an dieser entscheidenden Wegmarke deutscher Europapolitik eröffnete sich europakritischen Parteien und Kandidaten ein nennenswerter politischer Betätigungsraum. Auch blieben die etablierten Parteien von polarisierenden europapolitischen Richtungsdebatten in ihren Reihen weitgehend verschont.
Solche tief reichenden europapolitischen Spaltungslinien waren hingegen innerhalb der politischen Eliten und Parteien Frankreichs seit den heftigen Auseinandersetzungen um die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) von 1954 immer wieder zu beobachten. Als Schlüsselmoment für die Entwicklung französischer Europapolitik und die Europäisierung nationaler Identität ist sicherlich das Scheitern der zwischen 1981 und 1983 verfolgten Beschäftigungspolitik im nationalen Rahmen zu werten. Der Fehlschlag dieses keynesianischen wirtschaftspolitischen Experiments war der entscheidende Katalysator für eine radikale Infragestellung eingespielter nationalstaatlicher Politikmuster - staatliche Konjunktursteuerung und Kreditpolitik, expansive Geldpolitik und eine aktive nationale Industriepolitik der "grands projets". Alle Regierungen seit 1984 unterstützten nach dieser schmerzlichen Erfahrung konstant das liberale Binnenmarktprojekt, das Ziel einer europäischen Währungsunion und die dafür unerlässliche Politik des "harten" Franc. Die Einsicht in die Grenzen nationaler Wirtschaftspolitik beförderte einen Prozess der europäischen Neudefinition der Staatsidentität. Es handelte sich um nichts weniger als um einen Paradigmenwechsel in Teilen der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Eliten Frankreichs, die sich einem "euroliberalen Konsens" verbunden fühlten.
Dieser "euroliberale Konsens", der innerhalb der gemäßigten Links- und Rechtsparteien seit Mitte der achtziger Jahre mehrheitsfähig war, fand seine Entsprechung auch in der Entwicklung der grundlegenden europäischen Verfassungsideen der Mitte-links- und Mitte-rechts-Parteien. Die Unterschiede zwischen den traditionell konföderalen Positionen der (Neo-)Gaullisten und den stärker föderalistischen Positionen der Sozialisten haben sich seither tendenziell verringert.
In wenigen Jahren - von 1983 bis 1990 - sind mit dem Scheitern einer für den Rahmen des Nationalstaats konzipierten voluntaristischen Wirtschaftspolitik und dem dramatischen Wandel des internationalen Umfeldes durch das Ende des Ost-West-Konflikts zentrale Pfeiler weggebrochen, die bis dahin die interne kollektive Identität und die externe Staatsidentität Frankreichs stabilisiert hatten.
Dieser in der Maastricht-Debatte überdeutlich sichtbar gewordene Riss zwischen den dominanten Strömungen der "Herzens-" und "Verstandeseuropäer"
Allerdings berührte die europapolitische Spaltungslinie die Struktur des Parteiensystems bei nationalen Parlamentswahlen in Frankreich ebenso wenig wie in Deutschland, da sie durch alle Parteien geht und damit gewissermaßen "quer" zur Bipolarisierungslogik französischer Parlamentswahlen - also der Verfestigung eines linken und eines rechten politischen Blocks - steht. Dennoch wird diese Konfliktlinie bei jeder wichtigen französischen Wahl stets aufs Neue sichtbar: zuletzt in besonders dramatischer Form, als Le Pen als Kandidat in der zweiten und entscheidenden Runde der Präsidentschaftswahlen den Austritt Frankreichs aus der Europäischen Union forderte. Die Souveränisten setzen somit die etablierten Regierungsparteien beständig unter Druck und begrenzen deren "Europäisierung" - und somit potentiell auch die Reichweite des europapolitischen Engagements der französischen Regierungen. Auf Eliten- und Parteienebene produziert demnach die Einfügung der Bundesrepublik in das europäische Mehrebenensystem mit seinen zahlreichen föderalen Charakteristika weniger "Anpassungsstress" als im unitarisch-zentralistischen Frankreich, für dessen Staatsdenken und politische Legitimationsvorstellungen der Begriff der Staatsnation weiterhin zentral bleibt.
2. Die interne Dimension: Bevölkerungs- identitäten zwischen Nation und Europa
Der Grad der Europäisierung der Eliten- und Staatsidentitäten und deren Entwicklung über die Zeit findet keine einfache Entsprechung auf der Ebene der Bevölkerung beider Länder. Das markanteste Phänomen, das sich seit Beginn der achtziger Jahre anhand der Eurobarometer-Umfragen der EU-Kommission beobachten lässt, ist eine in der Bundesrepublik ungleich stärkere "Nationalisierung" politisch-territorialer Identitäten.
Die in Frankreich ungleich heftiger geführten europapolitischen Auseinandersetzungen seit der Unterzeichnung des Maastrichter Vertrages, das Auftauchen von souveränistischen Parteien und Präsidentschaftskandidaten, die Renaissance eines in der Publizistik breit verankerten neorepublikanischen Diskurses in den neunziger Jahren
Schon eher den Erwartungen entsprechen die Antworten auf eine Frage, die auf den Grad der Verbundenheit mit unterschiedlichen territorialen Einheiten - von der Gemeinde bis Europa - zielt. Hier zeigt sich, dass sich mit 44 Prozent deutlich mehr Franzosen als Deutsche (33 Prozent) der eigenen Nation "sehr verbunden" fühlen. Im Hinblick auf Europa zeigen die Antworten jedoch keine ausgeprägteren Verbundenheitsgefühle auf deutscher Seite (16 Prozent fühlen sich jeweils "sehr verbunden").
Wie lässt sich erklären, dass eine im Vergleich zu Frankreich stärker europäisierte Staatsidentität in Deutschland zumindest seit Mitte der achtziger Jahre keineswegs mit einer "europäischeren" Bevölkerungsidentität einhergeht? Man kann sich angesichts der Befunde zu den Eliten- und Bevölkerungsidentitäten in beiden Ländern fragen, ob eine offen und kontrovers geführte Europadebatte nicht eine wichtige Voraussetzung für die solide Verankerung europäischer Identifikationsmuster im Bewusstsein der Bürger ist. Der fest gefügte europäische Elitekonsens in Deutschland hat verhindert, dass die weit verbreitete und in zahllosen Umfragen belegte Euro-Skepsis der deutschen Bevölkerung einen politischen Ausdruck fand. Gerade der Umstand, dass eine breitere politische Artikulation der Bindung vieler Deutscher an das nationale Identitätssymbol D-Mark fehlte, hat möglicherweise zu einer unterschwelligen "Nationalisierung" kollektiver Identität und zur Wahrnehmung eines Gegensatzes zwischen europäischer und nationaler Identität in Deutschland beigetragen.
Eine Erklärung für die deutsch-französischen Unterschiede auf der Bevölkerungsebene könnte die stärker politische Definition nationaler Identität in der französischen Bürgernation sein. Sie kontrastiert mit der tradierten ethnischen Definition von Nation in Deutschland, die erst durch die Staatsbürgerschaftsreform der rot-grünen Koalition nach dem Regierungswechsel 1998 aufgebrochen wurde. Da auch eine europäische Identität sich in Ermangelung eines europäischen Ethnos nur politisch - über gemeinsame Ziele und Projekte - und über geteilte Werte definieren lässt, dürfte für Franzosen eine nationale politische Identität eher mit einer europäischen politischen Identität kompatibel erscheinen als für Deutsche. Kurz: Je politischer die Definition nationaler Identität ausfällt, desto größer ist die Chance für eine Herausbildung multipler territorialer Identitäten unter Einschluss einer europäischen politischen Identitätskomponente.
Eine weitere Erklärung der deutsch-französischen Kontraste sind die unterschiedlichen Europadiskurse in beiden Ländern. Stärker als in Deutschland wird die EU in Frankreich als erweiterter Rahmen für die Verfolgung politischer Ziele und Programme gedeutet, die auf nationaler Ebene kaum noch verwirklicht werden können - von einer aktiven Industriepolitik und Konjunktursteuerung bis zur Stärkung der europäischen weltpolitischen Rolle als Ergänzung oder auch Ersatz für die eigene. Traditionelle Elemente nationaler Identitätskonstruktion werden damit auf die europäische Ebene ausgedehnt.
V. Folgen für die europäische Verfassungspolitik
Inwieweit sind nun die Unterschiede zwischen den externen oder "Staatsidentitäten" und den Bevölkerungsidentitäten folgenreich für die europäische Verfassungspolitik im Konvent? Im bisherigen Verlauf der Arbeiten des Verfassungskonvents sind - wie schon während der Regierungskonferenzen von Maastricht, Amsterdam und Nizza - ausgeprägte deutsch-französische Unterschiede sichtbar geworden.
Die Staatsidentitäten finden auf der Bevölkerungsebene jedoch allenfalls in Ansätzen eine Entsprechung. Die weite Verbreitung multipler - nationaler und europäischer - Identifikationsmuster in den Bevölkerungen beider Länder lässt den Regierungen und Konventsvertretern hinreichend Spielraum bei der Suche nach einer geeigneten Verfassungsordnung für eine effiziente, transparente und legitime EU. Trotz der im Vergleich zu Frankreich geringeren Verbreitung multipler Identitäten sind doch auch in Deutschland mit Ausnahme der Jahre 1996 bis 1999 diejenigen stets in der Minderheit, die sich ausschließlich als Deutsche und nicht auch als Europäer sehen. Dass die Vorbehalte gegenüber einer europäischen Verfassung hierzulande nicht größer sind als in Frankreich, wird auch aus Antworten auf Eurobarometer-Fragen deutlich, die sich unmittelbar auf den Prozess der Verfassungsgebung und einige seiner Kernfragen beziehen. 65 Prozent der Deutschen und 59 Prozent der Franzosen bekundeten im Frühjahr 2002, dass die EU eine Verfassung haben sollte.
Was die Aufgabenverteilung zwischen nationaler Regierung und Europäischer Union anbelangt, so lässt sich bei den Bevölkerungen beider Länder in zwei Kernfeldern - der Außen- sowie der Verteidigungspolitik - eine Nachfrage nach "mehr Europa" ausmachen: 75 Prozent der Deutschen und immerhin 60 Prozent der Franzosen befürworten eine europäische Außenpolitik gegenüber Drittländern, und sogar 79 Prozent der Deutschen gegenüber 71 Prozent der Franzosen plädieren für eine gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik.
Eine Kernfrage, der sich der Verfassungskonvent stellen muss, ist die Ausweitung der Anwendungsbereiche für Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit. In diesem Punkt gibt es in Deutschland wie in Frankreich erhebliche Vorbehalte. Nur eine relative Mehrheit der Deutschen (43 Prozent) und Franzosen (38 Prozent) kann sich damit anfreunden, dass in einer erweiterten EU Entscheidungen "von einer Mehrheit der Mitgliedstaaten" getroffen werden sollen; immerhin 35 Prozent der Deutschen und 32 Prozent der Franzosen sprechen sich für einstimmige Entscheidungen aller Mitgliedstaaten aus.
Wiewohl auf Bevölkerungsebene offenbar keine vorbehaltlose Unterstützung für einen Ausbau supranationaler Strukturen und Entscheidungsverfahren zu finden ist, stellt die öffentliche Meinung in Deutschland und Frankreich keine empfindliche Schranke für das Agieren der deutschen und französischen Vertreter im Konvent dar. Im Gegensatz zu anderen aktuellen europapolitischen Themen - wie der bevorstehenden EU-Osterweiterung
Insgesamt betrachtet findet sich ein auffälliger Kontrast zwischen den deutlichen deutsch-französischen Unterschieden im Hinblick auf die externen "Staatsidentitäten", die auch die Positionsbestimmung beider Regierungen im Konvent stark beeinflussen, und den sehr viel geringeren Differenzen in den nationalen bzw. europäischen Identifikationsmustern auf Bevölkerungsebene sowie generell in den Bevölkerungseinstellungen zur EU und zur Integrationsentwicklung. Angesichts der stärkeren Verbreitung exklusiv nationaler Identitäten in der deutschen Bevölkerung kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, dass die deutschen politischen Eliten und die Bundesregierungen ihrer Bevölkerung - nicht nur im Falle der Euro-Einführung - zeitweise deutlich vorauseilen. Die französischen Regierungen sowie die europapolitisch zerrissenen und von internationalen Statusängsten geplagten französischen Eliten scheinen der Entwicklung der öffentlichen Meinung und dem Europäisierungsprozess nationaler Identität in der französischen Gesellschaft dagegen eher hinterherzuhinken.