I. Wie steht es um die deutsch-französischen Beziehungen?Eine Bestandsaufnahme
Vier Jahrzehnte lang ist die deutsch-französische Partnerschaft die Conditio sine qua non für Fortschritte im europäischen Integrationsprozess gewesen. Doch von dieser Dynamik war in den vergangenen Jahren nur noch wenig zu spüren. Sind Frankreich und Deutschland darauf vorbereitet, das erweiterte Europa zu gestalten und der Europäischen Union (EU) eine geopolitische Dimension zu geben? Diese Frage stellt sich nach dem Kopenhagener EU-Gipfel vom Dezember 2002, auf dem die Aufnahme der Türkei so gut wie beschlossen wurde, umso drängender.
Kein Zweifel, seit der Einrichtung des so genannten "Blaesheim-Prozesses" im Januar 2001 hat es zahlreiche deutsch-französische Treffen und gemeinsame Erklärungen gegeben.
1. Eine skeptische Sicht: Warum der Motor stottert(e)
Noch zu Beginn der neunziger Jahre hatte beide Partner das Ziel geeint, Deutschland unwiderruflich in ein integriertes Gesamteuropa einzubinden. Dies war das Paradigma deutscher Außenpolitik seit Konrad Adenauer gewesen. Mit Nachdruck betonte gerade Bundeskanzler Helmut Kohl immer wieder, dass die europäische Integration mit dem Euro irreversibel werde. Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) und Politische Union sollten Hand in Hand gehen. Der Vertrag von Maastricht war daher auch der Versuch, die "deutsche Frage" abschließend zu beantworten.
Nach der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte und der Vollendung des Binnenmarktes, die den Integrationsprozess in den achtziger Jahren beflügelt hatten, stellte der Euro jedoch zugleich das letzte gemeinsame Großprojekt beider Länder dar. Sowohl die Franzosen als auch die Deutschen hatten mit ihm ein übergeordnetes Interesse verfolgt: Frankreich wollte endlich die strukturelle Asymmetrie des Europäischen Währungssystems und die Dominanz der D-Mark überwinden. Deutschland versuchte, die bisherige Rolle als Leit- oder Ankerwährung innerhalb der WWU abzuschütteln und zugleich die Politische Union zu forcieren, auf die es wegen seiner Mittellage in Europa mehr als andere Länder angewiesen ist.
Mit der Verwirklichung der WWU kam Deutschland und Frankreich das gemeinsame Projekt abhanden. Die Folge war ein Leerlauf in den deutsch-französischen Beziehungen. Für die Politische Union, die in Maastricht nur am Rande behandelt worden war, gab und gibt es kein überzeugendes bilaterales Konzept - weder in Amsterdam 1997 noch in Nizza 2000 oder im Verfassungskonvent.
2. Systemische Brüche
Unmittelbar vor der anstehenden EU-Osterweiterung sind die besonderen deutsch-französischen Beziehungen in doppelter Hinsicht gefährdet. Es fehlt nicht nur eine gemeinsame Vision, die Partnerschaft hat auch ihre traditionelle "Hebelwirkung" verloren: Das deutsch-französische Engagement ist nicht mehr hinreichende Bedingung für die erfolgreiche Umsetzung europäischer Initiativen. Gerade das erweiterte Europa eröffnet eine Vielzahl von Ad-hoc-Allianzen jenseits der "strategischen Partnerschaften". Zudem zeigten Deutschland wie Frankreich bereits in den späten neunziger Jahren die Tendenz, den Partner durch Avancen gegenüber Großbritannien zu provozieren: Hier ist das "Schröder-Blair-Papier" zum "Dritten Weg"
Auffallend ist, dass die Zusammenarbeit zwischen Berlin und Paris in den vergangenen Jahren oft einzig darin bestand, dem Partner bei der Durchsetzung nationaler Interessen in der EU zu assistieren. So gab Bundeskanzler Gerhard Schröder dem französischen Premierminister Lionel Jospin auf dem Göteborger Gipfel im Juni 2001 Rückendeckung im Kampf gegen die von der EU-Kommission forcierte Liberalisierung des französischen Energiemarktes. Jospin wiederum unterstützte das deutsche Ansinnen, den EU-Beitrittskandidaten erst nach einer Übergangsphase volle Freizügigkeit im Personenverkehr zu gewähren.
II. Frankreich, Deutschland und das "Große Europa": Ein Blick zurück
Nach dem Umbruch 1989 tat sich Frankreich schwer, die neue Rolle Deutschlands in Europa zu akzeptieren.
Die Atmosphäre konnte bereinigt werden, da Deutschland sich konsequent für den Fortgang des europäischen Integrationsprozesses einsetzte und beim Europäischen Rat in Straßburg im Dezember 1989 der Einberufung von zwei Regierungskonferenzen über die Schaffung einer Politischen Union und einer Wirtschafts- und Währungsunion zustimmte. Entsprechend der außenpolitischen Philosophie, dass die deutsche und die europäische Wiedervereinigung zwei Seiten derselben Medaille sind, konnte es damit sein ungebrochenes europäisches Engagement unter Beweis stellen und so den französischen Ängsten entgegenwirken.
Die Pariser Diplomatie hatte hingegen Schwierigkeiten, sich auf die veränderte politische Lage einzustellen. Föderalen Konzepten für ein Gesamteuropa stand Frankreich ablehnend gegenüber, wie Mitterrands Vorschlag einer "Europäischen Konföderation" zeigte: Die mittel- und osteuropäischen Staaten sollten aus französischer Sicht in einer Art "special-relationship" mit der Europäischen Union verbunden, nicht aber integriert werden. Dagegen verfolgte Deutschland aus Gründen der Selbsteinbindung weiter einen föderalen Ansatz. Damit fehlte Frankreich jedoch die Energie, die Politische Union innerhalb der bestehenden EU voranzutreiben. Mit seiner ablehnenden Reaktion auf das 1994 vorgelegte "Schäuble-Lamers-Papier" zu "Kerneuropa"
Kurz vor der Unterzeichnung des Amsterdamer Vertrags kam es auf dem Deutsch-Französischen Gipfel von Poitiers im Juni 1997 zu heftigen Auseinandersetzungen über die makroökonomische und monetäre Ausrichtung der Währungsunion. Das Einzige, worauf sich Deutschland und Frankreich einigen konnten, war eine Initiative zum Subsidiaritätsprinzip.
Der Grabenkampf um die Stimmenverteilung im Rat, den sich beide Länder auf dem Gipfel von Nizza lieferten, zeigte, dass der deutsch-französische Motor von der Parität in den EU-Institutionen abhängt. Um seinem spezifischen Gewicht - insbesondere in der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik - mehr Ausdruck zu verleihen, verfolgte Frankreich seit Ende der neunziger Jahre zunehmend einen intergouvernementalen Ansatz. Während es fortan verstärkt inhaltliche Fragen in den Vordergrund stellte,
III. Die Agenda der Zukunft: Raum für deutsch-französische Initiativen?
1. Die Währungsunion und der Stabilitäts- und Wachstumspakt
Die Schaffung der Währungsunion hat vor allem in den Jahren 1992 bis 1998 zu großen Verwerfungen zwischen Deutschland und Frankreich geführt.
Frankreich hatte von Anfang an das Gefühl, in dieser Frage unter einem "deutschen Diktat" zu stehen. Die im Maastrichter Vertrag festgelegten Statuten der Europäischen Zentralbank (EZB) entsprachen der Verfassung der Bundesbank, die EZB sollte ihren Sitz in Frankfurt nehmen, der Name "Ecu" wurde - auf deutschen Wunsch - in "Euro" umgewandelt. Der auf dem Europäischen Rat in Dublin 1996 beschlossene "Stabilitätspakt" folgte einem deutschen Plan und, nach französischer Lesart, einer Art deutscher "Zusatzforderung". Die fiskalischen Konvergenzkriterien bezüglich des Defizits und der Staatsverschuldung sollten auf einmal nicht mehr - wie im Maastrichter Vertrag eigentlich vorgesehen - "dynamisch" erfüllt werden, sondern "punktgenau" (3,0 Prozent). Was den Deutschen als Mittel geldpolitischer Stabilität erschien ("Der Euro: Stark wie die Mark"), bedeutete für die Franzosen geldpolitische Rigidität, die angesichts der ohnehin angespannten Konjunkturlage nur zusätzliche Arbeitsplätze koste ("Maastricht tue l'emploi").
Deutschland tat recht daran, die geldpolitische Stabilität des Euro zu verteidigen und auf einen ausgeglichenen Haushalt der EU-Mitglieder zu drängen. Aber auch das französische Argument, geldpolitische Rigorosität allein führe nicht zu einer volkswirtschaftlichen Gesundung, hatte seine Berechtigung. Umso heftiger war der Schlagabtausch zwischen beiden Ländern. Der Streit konnte nur dadurch beendet werden, dass Deutschland einem "Beschäftigungskapitel" im Amsterdamer Vertrag und einem "Europäischen Sondergipfel zur Beschäftigung" im November 1997 in Luxemburg zustimmte.
Die aktuelle Debatte um den Stabilitätspakt zeigt, dass die damaligen französischen Einwände berechtigt waren. Sowohl Deutschland als auch Frankreich werden im Jahr 2003 das Defizitkriterium von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts voraussichtlich verfehlen. Angesichts der derzeitigen wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion um die Maastricht-Kriterien sind Reformen und Modifikationen des Paktes zu erwarten;
2. Die Finanzierung und Gestaltung der EU-Osterweiterung
Bei der Frage der Finanzierbarkeit der Osterweiterung ging es im Kern stets um die klassische deutsch-französische Auseinandersetzung über den EU-Haushalt. Die Interessen von Deutschland als größter Nettozahler und Frankreich als eines der Länder, die finanziell massiv von der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) profitieren, könnten gegensätzlicher nicht sein.
Insofern ist es höchst beachtlich, dass die EU-Mitgliedstaaten auf den Gipfeltreffen in Brüssel am 24./25. Oktober 2002 und Kopenhagen am 12./13. Dezember 2002 in dieser Frage eine Übereinkunft erzielt haben - auf der Grundlage einer deutsch-französischen Initiative. Die Staats- und Regierungschefs vereinbarten, die Agrarausgaben (abgesehen von einem 1 -prozentigen Inflationsausgleich ab 2007) auf dem Niveau von 2006 einzufrieren;
Ohne Zweifel lässt sich diese Einigung als Erfolg für die EU und das deutsch-französische Tandem werten. Immerhin haben Deutschland und Frankreich die historisch und politisch wichtigste Herausforderung für die Union, die Osterweiterung, nicht an der Agrarfrage scheitern lassen. Am Ende verzeichneten beide Seiten einen Erfolg: Frankreichs Präsident Jacques Chirac konnte seine Bauern vertrösten, dass bis zur Neufassung des EU-Finanzrahmens im Jahre 2006 alles beim Alten bleibt. Bundeskanzler Schröder erreichte durch die Deckelung der Agrarreformen, dass die deutschen Nettoausgaben im Zuge der Osterweiterung zumindest nicht ins Uferlose steigen - auch wenn er die angestrebte Haushaltsneutralität nicht durchsetzen konnte.
Doch Reformpolitik und die Gestaltung der Integration in einer auf 27 Mitglieder angewachsenen EU sehen anders aus. Die positive Resonanz auf den deutsch-französischen Schulterschluss zeigt wohl vor allem, wie gering die Erwartungen inzwischen sind.
3. Die künftige Verfassung Europas ist mehr als ein Vertragstext
Fast alle Fragen der institutionellen Gestaltung Europas, die im vergangenen Jahrzehnt zu Kontroversen zwischen Deutschland und Frankreich geführt haben, liegen in den unterschiedlichen Verfassungstraditionen begründet: Auf der einen Seite steht das semi-präsidentiell regierte und zentralistisch organisierte Frankreich, auf der anderen Seite das parlamentarisch regierte und föderal organisierte Deutschland. Nur vordergründig streiten sich beide Länder um Begriffe - Föderation oder Subsidiarität. De facto geht es um Demokratiekonzepte und die Frage, wie die europäischen Institutionen sui generis zu gestalten sind.
Lange Zeit hatte Deutschland auch im EU-Rahmen föderale Strukturen befürwortet: die Ausdehnung von Mehrheitsentscheidungen, eine starke Kontrolle der Europäischen Kommission durch das Europäische Parlament (EP) und die zumindest tendenzielle Entwicklung der Kommission zu einer europäischen Regierung bei gleichzeitiger Respektierung des Subsidiaritätsprinzips. Dagegen bevorzugte Frankreich einen intergouvernementalen Ansatz und wollte den Europäischen Rat als Exekutive fördern.
Zwar vertritt die Bundesregierung offiziell nach wie vor die Position, dass der Präsident der Kommission durch das Europäische Parlament gewählt werden soll. Aber Frankreich zeigte wenig Offenheit für das, was die Deutschen "Demokratisierung durch Politisierung" nennen. Das deutsche Modell würde die Kommission und das Europäische Parlament dadurch aufwerten, dass die Bürger bei Europawahlen ihre "europäische Regierung" wählen könnten. Doch Frankreich hat damit gleich zwei Probleme, ein prinzipielles und ein praktisches. Zum einen fehlt ihm ein starkes Parlament. Zum anderen werden durch die Beschlüsse von Nizza künftig weniger französische als deutsche Abgeordnete im EP sitzen; schon deshalb lehnt Frankreich einen Machtzuwachs für das Gremium ab.
Die Diskussion verläuft jedoch längst nicht mehr entlang nationaler Grenzen. Der im Februar 2002 eingesetzte Verfassungskonvent unter der Leitung des früheren französischen Präsidenten Valéry Giscard d'Estaing muss einer Vielzahl von Akteuren gerecht werden; diese gruppieren sich zunehmend entlang der Trennungslinie "föderal" versus "intergouvernemental". Zudem hat der deutsch-französische Disput über den Begriff der "Föderation"
Deutschland nimmt hier eine zögerliche und uneinheitliche Position ein. Während Bundeskanzler Schröder sich bereits positiv zu diesem Vorschlag geäußert hat,
Das deutsche Problem ist, dass es wenig überzeugende Vorschläge für eine Stärkung von Kommission und Parlament gibt. Denn eine "Politisierung" der Kommission könnte mittelfristig auch ihre Schwächung bedeuten. Wichtige Bereiche der heutigen Kommissionsarbeit, z.B. das Wettbewerbsrecht, müssten in unabhängige europäische Agenturen überführt werden. Eine politische Kommission könnte ihrer Rolle als "Hüterin der Verträge" nicht mehr nachkommen. Am problematischsten aber ist, dass Deutschland für ebendiese Pläne der strategische Verbündete Frankreich fehlt. Es ist zum derzeitigen Zeitpunkt zweifelhaft, ob sich beide Länder in der zum 40. Jahrestag des Elysée-Vertrages geplanten Gemeinsamen Erklärung zur Europäischen Verfassung aufeinander zu bewegen werden. Zwar hat der französische Außenminister Dominique de Villepin vor kurzem deutliche Zugeständnisse hinsichtlich der Stärkung von Europäischem Parlament und Kommission gemacht.
IV. Fazit: Vom "Muddling through" zum "Agenda Setting"?
Nach einer langen Phase der schleichenden Entfremdung haben sich die deutsch-französischen Beziehungen in den vergangenen Wochen wieder verbessert. Deutschland und Frankreich versuchen zumindest, ihr europapolitisches Engagement in allen Politikbereichen aufeinander abzustimmen. Das ist begrüßenswert. Denn noch immer ist ihr Schulterschluss eine notwendige Bedingung für Fortschritte in Europa - auch angesichts der Tatsache, dass beide Länder eine große Blockademacht besitzen.
Nun müssen der Rhetorik konkrete Schritte folgen. Den EU-Haushalt gilt es grundlegend zu modernisieren und für Zukunftsaufgaben zu rüsten. Frankreich und Deutschland haben es in der Hand, diese Reform vorzubereiten. Voraussetzung ist jedoch die Bereitschaft, die Besitzstände in der überkommenen Struktur der Gemeinsamen Agrarpolitik anzutasten. In der Justiz- und Innenpolitik wäre es ein wirklicher Fortschritt, wenn der so genannte "Dritte Pfeiler" in die integrierten EU-Strukturen überführt würde.
Hauptaufgabe ist indes die Konzeption eines effizienten, transparenten und demokratischen politischen Systems auf europäischer Ebene. In der nunmehr erweiterten Union ist die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips eine Kernforderung, um die Handlungsfähigkeit auch in Zukunft sicherzustellen. Zudem müssen Frankreich und Deutschland eine geopolitische Vision für Europa entwickeln. Dazu gehören die künftigen Grenzen der Union ebenso wie die Ausgestaltung einer nachhaltigen Nachbarschaftspolitik, etwa gegenüber den EU-Anrainerstaaten im südlichen Mittelmeerraum. Die Gestaltung einer Politischen Union, die als globaler Akteur Stimme und Macht hat, ist die Zukunftsaufgabe, die beide Partner angehen müssen. Das Nachdenken über die "Weltmacht Europa" und ihre politische Verfasstheit hat gerade erst begonnen. Frankreich und Deutschland werden die Skizze einer EU des Jahres 2010 nicht alleine anfertigen können. Aber ein gemeinsamer Entwurf hätte nach wie vor Gewicht.