Einleitung
Im Januar 2002 hielt die damalige Hohe Kommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Mary Robinson, eine Rede vor Studenten und Studentinnen in Dublin. Sie sprach von der Notwendigkeit der Entwicklung einer ethischen und nachhaltigen Form der Globalisierung als Antwort auf die allgemeine Globalisierungskritik. Eine ethische Form der Globalisierung basiere auf einer gemeinsamen Verantwortung für einen universalen Menschenrechtsschutz. Diese Verantwortung obliege allen Beteiligten: der Wirtschaft ebenso wie den staatlichen Regierungen, den Individuen ebenso wie dem Finanzsektor oder den Vereinten Nationen. Ihren Traum von einer ethischen Globalisierung durch effektive Menschenrechtspolitik versuchte Mary Robinson während ihrer Amtszeit unermüdlich zu verwirklichen. Dazu gehörte für sie auch, die Lücken im Völkerrecht zu schließen. Als eine ihrer letzten Amtshandlungen setzte sie sich für die Schaffung einer UN-Menschenrechtskonvention für behinderte Menschen ein. Damit leistete sie Pionierarbeit, denn selbst innerhalb der Vereinten Nationen wird Behinderung selten in den Zusammenhang internationaler Menschenrechte gestellt.
I. Behinderung (k)ein Menschenrechtsthema?
Im Dezember 2001 entschied die Generalversammlung der Vereinten Nationen jedoch, dass die Zeit für eine Behindertenrechtskonvention gekommen sein könnte, um die Menschenrechte der etwa 600 Millionen behinderten Menschen auf dieser Welt zu schützen. Auf Initiative von Mexiko verabschiedete sie Resolution 56/168, mit der ein Ad-hoc-Ausschuss ins Leben gerufen wurde, der erste Vorschläge für eine solche Konvention sammeln soll.
Präsident Vicente Fox begründete den mexikanischen Vorstoß im Dritten Ausschuss der UN-Generalversammlung mit den Worten: "It will be impossible to make this world more just if we allow the exclusion of the most vulnerable groups." Behinderte Menschen gehören zu den am meisten gefährdeten Gruppen, wenn es um Menschenrechtsverletzungen geht. Zu dieser Feststellung gelangten bereits zwei Menschenrechtsberichte, die für die UN-Menschenrechtskommission in den achtziger Jahren erstellt wurden. Die Sonderberichterstatterin Erica-Irene A. Daes untersuchte die Situation von Psychiatriepatienten. Ihr Abschlussbericht wurde 1986 veröffentlicht.
Ohne dass es dazu geschriebener Regeln bedürfte, wird Behinderten die Versammlungsfreiheit genommen, wenn es keine öffentlichen Plätze oder Räume gibt, in denen sie sich treffen können. Das Recht auf Freizügigkeit wird verletzt, wenn behinderten Menschen jede Mobilität verwehrt wird, weil der Personennahverkehr nicht zugänglich ist, sie sich kein Auto leisten können, Fahrdienste unzureichend ausgestattet sind und Behinderte aufgrund sozialpolitischer Fehlplanungen nicht zu Hause leben können, sondern ins Heim gezwungen werden. Faktische Diskriminierungen gibt es vor allem auch im Bildungs- und Arbeitsbereich, wo Behinderten durch bauliche oder strukturelle Barrieren der Zugang zur Bildungs- oder Arbeitsstätte verwehrt ist.
1. Eine alte Idee scheint wahr zu werden
Die Idee einer UN-Behindertenkonvention ist nicht neu. Seit mindestens zwanzig Jahren fordern internationale Behindertenorganisationen Menschenrechtsschutz für die geschätzten 600 Millionen behinderten Menschen auf dieser Welt. Innerhalb der Gremien der Vereinten Nationen wurde ein entsprechender Vorschlag erstmals 1987 während der UN-Behindertendekade diskutiert. Der italienische Entwurf einer Behindertenkonvention blieb jedoch erfolglos. Einige Mitgliedsstaaten befürchteten, eine Sonderkonvention für Behinderte würde die bestehende Marginalisierung verschärfen. Die Rechte Behinderter seien durch die allgemeinen Menschenrechtskonventionen ausreichend geschützt. 1989 versuchte Schweden einen erneuten Vorstoß, der ebenfalls scheiterte. Eine entsprechende Mehrheit unter den Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen kam - im Gegensatz zur Frauenrechtskonvention (1979) und zur Kinderrechtskonvention (1989) - nicht zustande. Stattdessen erließen die Vereinten Nationen zum Abschluss der Behindertendekade die Rahmenbestimmungen für die Herstellung der Chancengleichheit für Behinderte (Rahmenbestimmungen, 1993), an die die Mitgliedsstaaten rechtlich nicht gebunden sind, weil sie zum so genannten soft law im Völkerrecht gehören.
Der Sonderberichterstatter Despouy konstatierte in seinem Abschlussbericht, dass behinderte Menschen im Vergleich zu anderen verletzbaren Gruppen rechtlich benachteiligt seien. Denn im Gegensatz zu Frauen, Kindern oder Flüchtlingen könnten sich behinderte Menschen nicht auf eine spezielle Konvention berufen, wenn sie Menschenrechtsverletzungen geltend machen wollten. Ihnen stehe daher auch kein eigener Überwachungssausschuss zur Verfügung.
Zu Beginn des neuen Jahrtausends nahmen fünf der großen internationalen NROs der Behindertenbewegung
2. Der Ad-hoc-Ausschuss hat seine Arbeit aufgenommen
Der mit Resolution 56/168 eingesetzte Ad-hoc-Ausschuss trägt den langen Namen "Ad Hoc Committee on a Comprehensive and Integral International Convention on Protection and Promotion of the Rights and Dignity of Persons with Disabilities". Dieser Ausschuss soll Vorschläge für eine umfassende und integrale internationale Konvention zum Schutz und zur Förderung der Rechte und Würde von Menschen mit Behinderung sammeln. Ein erstes Treffen dieses Ausschusses fand vom 29. Juli bis zum 9. August 2001 im UN-Hauptquartier in New York statt.
Nicht alle teilnehmenden Regierungsvertreter kamen mit einer ausgearbeiteten Strategie nach New York. Viele Staaten hatten sich noch überhaupt keine Meinung zur Frage einer Behindertenkonvention gebildet. Der fehlende Diskurs führte zunächst einmal zu unerwarteten Meinungsbildern. Staaten, von denen man keine Ablehnung einer Behindertenkonvention erwartet hätte, wie etwa Australien, Kanada oder Südafrika, gehörten nicht zu den ausdrücklichen Befürwortern der ersten Runde. Staaten, die sich traditionell nur schwer in internationale Verträge einbinden lassen, wie etwa die USA, Japan oder China, waren jedenfalls nicht völlig abgeneigt. Ausdrücklich für eine Behindertenkonvention sprachen sich neben Mexiko auch die EU-Länder aus.
Besser vorbereitet zeigte sich dagegen die Gemeinde der NRO. Wie so oft bei Regierungstreffen war ihre Teilnahme umstritten. In der Gründungsresolution des Ad-hoc-Ausschusses sind NRO nicht erwähnt, wenngleich mittlerweile alle UN-Mitgliedsstaaten um die wichtige Rolle der NRO bei der Entwicklung von Menschenrechtskonventionen wissen. Der Disput, ob und welche NRO zum ersten Treffen des Ad-hoc-Ausschusses zugelassen werden sollten, zog sich bis zum 23. Juli, also sechs Tage vor dem Sitzungsbeginn, hin. Die knapp dreißig teilnehmenden NRO waren gleichwohl vorbereitet und strategisch handlungsfähig. Als besonders wirksam erwies sich, dass sich die großen internationalen Behindertenorganisationen bereits 1999 zu einem Bündnis "International Disability Alliance" (IDA) zusammengeschlossen hatten. Aus den Fehlern der Vergangenheit hatte man gelernt: Das Bündnis ist um eine pluralistische und umfassende Interessenvertretung bemüht. Zu den Mitgliedern zählen Disabled Peoples International, Inclusion International, Rehabilitation International, World Blind Union, World Federation of the Deaf, World Federation of the Deafblind sowie World Network of Users and Survivors of Psychiatry. Gerade letztere Gruppe von behinderten Menschen hatte lange Zeit keine Stimme in der internationalen Behindertenpolitik. Auf Initiative von IDA trafen sich alle teilnehmenden NRO zweimal täglich zu Strategiebesprechungen und Nachbereitungen der Ausschusssitzungen. Einige NRO wie die Landmine Survivors' Network war durch exzellente Menschenrechtsexperten vertreten. Ein gute Organisation, aber auch die Tatsache, dass sich der Vorsitzende des Ad-hoc-Ausschusses, der Ecuadorianer Luis Gallegos Chiriboga, der NRO-Gemeinde gegenüber aufgeschlossen zeigte, ermöglichte es den Betroffenen einer zukünftigen Konvention, sich auf der ersten Sitzung des Ad-hoc-Ausschusses Gehör zu verschaffen. Zum Abschluss der ersten Sitzung des Ad-hoc-Ausschusses unterstrich Luis Gallegos Chiriboga die Notwendigkeit einer Behindertenkonvention, die zur Veränderung der Verhaltensweisen, aber auch wirtschaftlichen und ökologischen Bedingungen, mit denen behinderte Menschen immer wieder diskriminiert werden, beitragen soll.
Damit wurde der Prozess einer Konventionsentwicklung in solide Bahnen gelenkt. Viele der teilnehmenden NRO-Vertreter und -Vertreterinnen hatten sich zwar von dem ersten Treffen des Ad-hoc-Ausschusses einen fertigen Konventionsentwurf erhofft. Die mexikanischen Delegierten hatten auch einen Konventionsentwurf mit nach New York gebracht. Zur Durchsetzung des mexikanischen Entwurfs gab es eigens ein viertägiges Expertentreffen in Mexiko sechs Wochen vor der Ad-hoc-Ausschuss-Sitzung.
II. Warum eine Behinderten- konvention notwendig ist
In UN- und Regierungskreisen wurden drei Argumente gegen eine Behindertenkonvention vorgetragen: Erstens wird befürchtet, eine besondere Konvention für Behinderte käme einer Sonderbehandlung gleich und führe letztendlich zu einer weiteren Marginalisierung der Behinderten. Zweitens wird keine Notwendigkeit für eine weitere Menschenrechtskonvention gesehen. Die vorhandenen sechs zentralen UN-Menschenrechtskonventionen
Die Sonderbehandlung behinderter Menschen, die nicht selten zur Aussonderung aus der Mitte der Gesellschaft führt, ist vielen, die sich für Integration und Gleichberechtigung einsetzen, ein Dorn im Auge. Dass eine rechtliche Sonderbehandlung behinderter Menschen gesellschaftliche Aussonderung mit konstruiert, wird augenscheinlich am deutschen Schulrecht, das in den meisten Bundesländern die Sonderbeschulung behinderter Kinder vorschreibt und keinen Rechtsanspruch auf integrative Bildung kennt. Die skandinavischen Länder lehnen u.a. deshalb besondere Behindertengesetze ab. Die Kehrseite dieses universalistischen Vorgehens ist, dass Rechtsverletzungen oder Rechtsverweigerungen mitunter unsichtbar bleiben. Wenn etwa ein Diskriminierungsverbot behinderte Menschen nicht ausdrücklich erfasst, können Sonderbehandlungen behinderter Menschen außerhalb des Diskriminierungskontexts gestellt werden. Das Diskriminierungsverbot wird dann selektiv nur auf nicht behinderte Menschen angewandt. Behindertendiskriminierung wird nicht als solche gesehen. Man könnte diese Folge als Marginalisierung durch Unsichtbarmachung oder durch Ignoranz bezeichnen. Eine solche selektive Anwendung der Menschenrechtsnormen kritisieren auch Frauenorganisationen, wenn sie Frauenrechte als Menschenrechte einfordern.
Es stellt sich zweitens die Frage, ob Behinderte nicht bereits ausreichend durch die allgemeinen Menschenrechtskonventionen geschützt sind. Diese Frage war Gegenstand der Studie, die wir im Auftrag der Menschenrechtskommissarin Mary Robinson durchführten.
In dieser Studie haben wir u.a. die Anwendung der sechs zentralen Menschenrechtskonventionen - also die Bürgerrechts-, die Sozial-, die Rassismus-, die Frauen-, die Kinder- und die Folterkonvention - im Kontext von Behinderung untersucht. Bis auf die Kinderkonvention, die einen eigenen Artikel zu behinderten Kindern enthält, werden behinderte Menschen in diesen Rechtsquellen nicht besonders erwähnt. Die Durchsetzung der Konventionen wird von eigenen Ausschüssen überwacht. Staaten, die den Konventionen beigetreten sind, müssen diesen Ausschüssen periodisch Berichte zur Umsetzung der Konvention in ihrem Land vorlegen. Einige der Konventionen kennen auch Individualbeschwerdeverfahren, mit denen individuelle Menschenrechtsverletzungen von Individuen oder Gruppen angeklagt werden können. Knapp 150 der periodischen Staatenberichte und die Individualbeschwerden der letzten acht Jahre wurden von uns - neben weiteren Dokumenten der Ausschüsse - gesichtet und analysiert. Im Ergebnis lässt sich sagen, dass die Ausschüsse bemüht sind, behinderte Menschen bei der Umsetzung dieser Menschenrechtsquellen zu berücksichtigen. Mangels Ressourcen und in einigen Fällen auch Know-how bleibt es jedoch häufig bei einzelnen und sporadischen Maßnahmen. Den Mitgliedsstaaten fehlt ganz überwiegend das Bewusstsein dafür, dass Behinderte Menschenrechtssubjekte sind. Für die überwiegende Zahl der Staatenberichte gilt: Behinderte Bürger und Bürgerinnen werden bei der Umsetzung der Menschenrechtsverträge entweder vollkommen ignoriert, oder sie werden lediglich im Kontext von gesundheits- und sozialpolitischen Maßnahmen berücksichtigt. Obgleich sich insbesondere der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und der Kinderrechtsausschuss bemühen, ihre Menschenrechtsquellen für behinderte Menschen auszulegen, ist die Mehrzahl der Ausschüsse trotz UN-Behindertendekade und der UN-Rahmenbestimmungen von 1993 nicht hinreichend sensibilisiert. Die UN-Rahmenbestimmungen etwa werden bei der Arbeit der Ausschüsse kaum berücksichtigt. Obwohl diese damals als Ersatz für eine Behindertenkonvention erlassen wurden, haben sie im UN-Recht keinen entsprechenden Effekt gehabt. Ganz im Gegensatz dazu stehen die Frauen- und die Kinderkonvention, deren Existenz bei allen anderen Konventionsausschüssen dazu geführt haben, dass Frauen und Kinder auch bei der Durchsetzung der anderen Konventionen mehr berücksichtigt wurden.
Das Argument, die bereits existierenden Menschenrechtskonventionen böten einen hinreichenden Schutz für behinderte Menschen, lässt sich daher nicht aufrechterhalten. Behinderte Menschen werden bei ihrer Umsetzung ungenügend berücksichtigt, und sie haben als individuelle Opfer faktisch keinen Zugang zu den Beschwerdeverfahren. Die Rahmenbestimmungen von 1993 haben eine wichtige Funktion als politische Richtlinie
Bleibt als Letztes das Gegenargument der Folgekosten. Diese seien insbesondere für Entwicklungsländer, aber auch angesichts leerer öffentlicher Kassen in den Industrieländern, zu hoch. In der Tat sind Folgekosten heute mehr denn je zu bedenken. Jedoch - das haben insbesondere die Kriege der letzten Dekaden gelehrt -: Friedliche Entwicklung lässt sich ohne Menschenrechtsgerüst nicht realisieren. Zu einer friedlichen und demokratischen Entwicklung gehört die Achtung der Menschenrechte. 600 Millionen Menschen mit Behinderungen zählt die WHO derzeit, die Tendenz ist wegen zunehmender kriegerischer Auseinandersetzungen und aufgrund der demographischen Entwicklung steigend. Das sind etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Zwei Drittel davon leben in den Entwicklungsländern. Menschenrechtspolitik dort muss daher gerade auch behinderte Menschen erfassen. In den reicheren Ländern gibt es derzeit tatsächlich enorme Finanztöpfe für die Behindertenpolitik. Es geht darum, mit diesen Geldern die richtigen Entscheidungen in der Behindertenpolitik umzusetzen, und dazu gehört vor allem eine Menschenrechtspolitik für behinderte Menschen. Eine UN-Konvention lässt sich nicht in jedem Mitgliedsstaat gleich schnell umsetzen. Dazu sind die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen zu groß. Um dieser Situation gerecht zu werden, wurde im Völkerrecht das Konzept der schrittweisen Umsetzung von Menschenrechtsverträgen entwickelt, das den unterschiedlichen Entwicklungen eines Landes gerecht wird. Ein Menschenrechtsvertrag soll nicht ein einheitliches Ergebnis in allen Mitgliedsstaaten bewirken, sondern, unter Berücksichtigung nationaler Unterschiede, einen dynamischen Veränderungsprozess hin zu mehr Menschenrechten in Gang setzen. Eine Behindertenkonvention wäre daher mit Folgekosten verbunden, die je nach wirtschaftlicher Situation eines Landes unterschiedlich aufgefangen werden könnten.
Skeptikerinnen und Skeptiker gibt es jedoch nicht nur in Regierungsreihen, sondern auch die Behindertenorganisationen sind nicht alle entschlossen, sich für ein internationales Vertragswerk einzusetzen. Das gilt besonders dann, wenn sie in Staaten operieren, die bereits nationale Reformgesetze zur Stärkung der Rechte behinderter Menschen erlassen haben. Dann liegt es näher, sich auf die Umsetzung des nationalen Rechts zu konzentrieren, statt sich mit den Wirrungen internationalen Rechts zu beschäftigen. Dass mit internationalen Normen Standards für zukünftige Entwicklungen auch in der Behindertenpolitik gesetzt werden, wurde in Deutschland zuletzt durch die Debatte um die europäische Biomedizin-Konvention deutlich.
1. Der Streit um Art und Inhalt
Der von Mexiko vorgelegte Entwurf einer Behindertenkonvention fand weder auf dem mexikanischen Expertentreffen noch im Ad-hoc-Ausschuss ausreichende Zustimmung. Soweit nicht mangelnde Überzeugung hinsichtlich der Notwendigkeit einer Behindertenkonvention die Ursache war, gab es vor allem inhaltliche Bedenken. Einigen ging der Entwurf nicht weit genug, da er im Gegensatz zur Frauen- bzw. Kinderkonvention keine individuellen Rechte, sondern lediglich allgemeine Programmsätze enthält. Andere bemängelten die fehlende Menschenrechtsperspektive des Entwurfs, der sich überwiegend an sozialen und gesundheitlichen Bedürfnissen Behinderter orientiert, aber den Katalog der politischen und bürgerlichen Menschenrechte - also die klassischen Freiheitsrechte, wie Wahl- und Meinungsfreiheit, Handlungsfreiheit und Freiheit von Folter und erniedrigender Behandlung - weitgehend unberücksichtigt lässt. Für wieder andere orientierte sich der mexikanische Entwurf zu sehr an den Rahmenbestimmungen von 1993 und dem Weltaktionsprogramm für Behinderte von 1982. Diese seien aber noch dem medizinischen Paradigma von Behinderung verhaftet, wonach Rehabilitation und Prävention die wichtigsten gesellschaftspolitischen Antworten auf Behinderung sind. Im Zeitalter der Gentechnologie ist aber insbesondere die medizinische Prävention von Behinderung ein heikles Thema geworden. Denn diese beeinhaltet oft lebensverhindernde oder lebensbeendende Maßnahmen, die den menschenrechtlichen Konsens, dass jedes menschliche Leben gleich an Würde und Rechten ist, in Frage stellt.
Die Kritiken am mexikanischen Entwurf markieren die verschiedenen Standpunkte, die es in Bezug auf die Art und den Inhalt einer zukünftigen UN-Behindertenkonvention bisher gibt. Soll es eine Art Menschenrechtskonvention sein oder eher eine sozialpolitische Konvention, die sich an den Rahmenbestimmungen von 1993 orientiert und diese verbindlich macht? Soll es um individuelle Menschenrechte für behinderte Menschen gehen oder um generelle Prinzipien, die für alle verbindlich erklärt werden, deren Umsetzung aber den einzelnen Mitgliedsstaaten überlassen bleibt? Welche allgemeinen oder konkreten Rechte soll eine Behindertenkonvention enthalten? Im Völkerrecht gibt es aus historischen Gründen eine Zweiteilung zwischen politischen und bürgerlichen Rechten einerseits und wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten andererseits. Erstere sind im Bürgerrechtspakt, Letztere im Sozialrechtspakt enthalten. Wenngleich die UN-Generalversammlung mehrfach Resolutionen hinsichtlich der Untrennbarkeit beider Rechtsgruppen verabschiedet hat und auch die Allgemeine Menschenrechtserklärung von 1948 beide Gruppen enthält, wurden die klassischen Freiheitsrechte des Bürgerrechtspakts bislang kaum auf behinderte Menschen angewendet. Sowohl die Rahmenbestimmungen von 1993 als auch weitere von den UN verabschiedete Behindertenresolutionen sind einseitig am Sozialrechtspakt orientiert. Will man das ändern und einen Schritt weiter gehen, dann stellt sich die Frage, ob sich der Menschenrechtskatalog der Allgemeinen Menschenrechtserklärung für eine Behindertenkonvention eignet und auch hinreichend ist oder ob es nicht der Schaffung neuer Rechte - wie etwa das Recht auf Differenz - bedarf, um der Situation behinderter Menschen gerecht zu werden.
Die UN-Resolution 56/168 gibt keinen deutlichen Hinweis, welcher Art eine potentielle Behindertenkonvention sein soll. Ein möglicher Disput zwischen Menschenrechts- und Sozialkommission über die Federführung für eine Behindertenkonvention wurde verhindert, indem der Ad-hoc-Ausschuss direkt beim Dritten Ausschuss der Generalversammlung angesiedelt wurde. Im Text der Resolution heißt es, der Ad-hoc-Ausschuss soll Vorschläge für eine Konvention "basierend auf dem ganzheitlichen Arbeitsansatz im Bereich sozialer Entwicklung, Menschenrechte und Nicht-Diskriminierung" sichten "unter Berücksichtigung der Empfehlungen der Kommission für Menschenrechte und der Kommission für Soziale Entwicklung".
Auf dem Expertentreffen in Mexiko wurden allgemeine Prinzipien für eine Behindertenkonvention formuliert, die eine Arbeitsgrundlage für einen Konventionsentwurf darstellen könnten. Sie fanden den Konsens der Teilnehmer und Teilnehmerinnen in Mexiko, konnten jedoch nicht als offizielles UN-Dokument dem Ad-hoc-Ausschuss als Arbeitsgrundlage dienen, wenngleich es vorlag. Das Prinzipienpapier spricht sich deutlich für eine Menschenrechtskonvention mit durchsetzbaren individuellen Rechten aus. Es empfiehlt die Orientierung an den sechs zentralen Menschenrechtskonventionen, die durch eine Behindertenkonvention ergänzt, nicht aber ersetzt werden soll. Dieser zweigleisige Ansatz - menschenrechtliche Behindertenkonvention und Verbesserung der Anwendung der anderen Menschenrechtskonventionen auf Behinderte - wird auch vom Sonderberichterstatter der Rahmenbestimmungen von 1993, dem Schweden Bengt Lindqvist, vertreten. Er setzt sich auch für eine Stärkung der Rahmenbestimmungen und die Erneuerung seines abgelaufenen Mandats ein, jedoch soll dieses nicht auf Kosten einer Menschenrechtskonvention für Behinderte gehen. Die Rahmenbestimmungen von 1993 und das Weltaktionsprogramm von 1982 werden in dem Prinzipienpapier vom mexikanischen Expertentreffen als Wegweiser für eine effektive Umsetzung der Behindertenkonvention benannt. Als Basiswerte für eine zukünftige Konvention benennt das Prinzipienpapier klare Menschenrechtswerte: Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, Menschenwürde und Gleichheit sowie soziale Solidarität. Eine Behindertenkonvention solle unter aktiver Teilnahme behinderter Menschen entwickelt werden und dürfe nicht hinter bereits erreichte Menschenrechtsstandards zurückfallen. Ähnlich äußerten sich auch das Büro der Menschenrechtskommissarin und sogar die Europäische Union. Damit scheint die erste Weiche für eine Menschenrechtskonvention gestellt. Die Befürchtung einiger NRO, die Rahmenbestimmungen würden zum zweiten Mal in der Geschichte des UN-Behindertenrechts eine Menschenrechtskonvention verhindern, scheint zur Zeit unbegründet.
2. Eine Chance für Europa
Wie sich die Dinge weiterentwickeln, wird sich auf der nächsten Sitzung des Ad-hoc-Ausschusses im Juni 2003 zeigen. Die wichtigsten Entscheidungen werden davor getroffen, wenn sich die Regierungsvertreter auf regionaler Ebene treffen und sich mit dem Thema befassen. Während sich asiatische und amerikanische Mitgliedsstaaten bereits verständigt haben, geht es in Europa nur langsam voran. Nach anfänglichem Zögern wurde innerhalb der EU nun ein Konsens für eine Behindertenkonvention erzielt. Das ist der dänischen Regierung zu verdanken, die im letzten Halbjahr 2002 den Vorsitz inne hatte. Die EU-Kommission wird in Kürze eine Stellungnahme zum Thema UN-Behindertenkonvention abgeben. Das Europäische Behindertenforum, ein NRO-Zusammenschluss von etwa siebzig europäischen Behindertenorganisationen, hat sich bereits positiv zu einer menschenrechtlich konzipierten Behindertenkonvention geäußert und sich beim Ad-hoc-Ausschuss akkreditieren lassen. Der Europarat hat sich bislang nicht geäußert, die Verantwortlichen der Menschenrechtsabteilung beginnen erst mit der Sondierung.
Der Entwurf einer Menschenrechtskonvention für Behinderte ist ein wichtiges Thema im Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderung. Es bietet eine Chance für die europäischen Staaten, sich auf internationaler Ebene gut zu positionieren. Eine Menschenrechtskonvention für Behinderte markiert einen Weg in der Behindertenpolitik, den viele europäische Staaten in den vergangenen Jahren eingeschlagen haben. Mehr als ein Dutzend von ihnen haben inzwischen Gleichstellungsgesetze für Behinderte beschlossen
Sich für eine Behindertenkonvention mit klarem menschenrechtlichen Charakter einzusetzen stellt auch eine Chance für Deutschland dar. Die UN-Menschenrechte wurden bekanntlich als Antwort auf die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands kodifiziert. Viele der UN-Menschenrechte sind in die deutsche Verfassung - dem Grundgesetz von 1949 - übernommen worden. Behinderte, die zu den besonders verfolgten Opfergruppen des Nazi-Regimes gehörten, wurden damals sowohl in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung als auch im Grundgesetz "vergessen". Durch die Aufnahme des behindertenspezifischen Diskriminierungsverbots in Artikel 3 des Grundgesetzes wurde das historische Versäumnis im deutschen Verfassungsrecht 1994 ausgeglichen. Es bietet sich nun die Chance für Deutschland, sich im Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen dafür einzusetzen, dass dieser Schritt auch auf internationaler Ebene vollzogen wird.
III. Ausblick
Der Ad-hoc-Ausschuss hat in seiner Abschlussresolution die Staaten aufgerufen, in Kooperation mit den UN und den NRO durch Veranstaltungen oder Seminare zur Arbeit des Ad-hoc-Ausschusses beizutragen. Die Mitgliedsstaaten werden auch ermutigt, behinderte Personen und ihre Interessenvertretungen an der Arbeit des Ad-hoc-Ausschusses zu beteiligen. Insbesondere werden die Mitgliedsstaaten aufgefordert, in ihren Delegationen zum Ad-hoc-Ausschuss behinderte Personen aufzunehmen. Ausdrücklich werden nicht nur die Regierungen und ihre Organisationen, sondern auch NRO und sogar individuelle Experten um Stellungnahmen und Vorschläge zur Behindertenkonvention gebeten.
Das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen könnte Anlass bieten, Seminare und Tagungen zum Thema durchzuführen, auf denen Vorschläge und Empfehlungen für die Arbeit des Ad-hoc-Ausschusses entwickelt werden. Als Novum in der Geschichte der UN-Menschenrechtskonventionen wurden auch nationale Menschenrechts- und Behinderteninstitute eingeladen, Vorschläge zu unterbreiten. Hier wären die beiden im Jahre 2001 neu gegründeten Institute "Deutsches Institut für Menschenrechte" und das "Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW)" gefordert. Ersteres wurde auf Initiative des Deutschen Bundestages, Letzteres auf Initiative der großen deutschen Behindertenverbände gegründet. Expertinnen und Experten sowie Institutionen in Sachen Menschenrechte und/oder Behindertenpolitik gibt es in Deutschland schon. Es käme nun darauf an, sie an einen Tisch zu bringen. Vor mehr als zwanzig Jahren haben Behindertengruppen auf dem legendären "Krüppel-Tribunal 1981" in Dortmund Menschenrechtsverletzungen gegen Behinderte angeklagt.