Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Zur schulischen und beruflichen Integration von Menschen mit geistiger Behinderung | Menschen mit Behinderungen | bpb.de

Menschen mit Behinderungen Editorial Zwischen Anerkennung und Abwertung Zum Bild behinderter Menschen in den Medien Selbstbestimmung als behindertenpolitisches Paradigma - Perspektiven der Disability Studies Zur schulischen und beruflichen Integration von Menschen mit geistiger Behinderung Geschlecht und Behinderung Eine UN-Menschenrechtskonvention für Behinderte als Beitrag zur ethischen Globalisierung Behindertenrecht und Behindertenpolitik in der Europäischen Union

Zur schulischen und beruflichen Integration von Menschen mit geistiger Behinderung

Kurt Jacobs

/ 15 Minuten zu lesen

Mit einem Blick zurück auf die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts zeigt sich in Bezug auf ein Mehr an gesellschaftlicher Teilhabe von Menschen mit Behinderungen...

I. Vom Normalisierungsprinzip zur Integrationsbewegung in den einzelnen Lebensbereichen

1. Ein kurzer historischer Rückblick

Mit einem Blick zurück auf die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts zeigt sich in Bezug auf ein Mehr an gesellschaftlicher Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, dass vor allem die zu dieser Zeit entstandene Idee des Normalisierungsprinzips von wegweisender Bedeutung gewesen ist. Dieses wurde damals von dem Juristen und damaligen Leiter der dänischen Sozialfürsorge B. Mikkelsen formuliert und mit entsprechenden sozialpolitischen Maßnahmen umgesetzt. Die Quintessenz seiner Vorstellungen lautete: Lasst den geistig behinderten Menschen ein Leben führen so normal wie möglich! Mit dieser Aussage war ein erster Paradigmenwechsel zunächst in der skandinavischen und schließlich auch europäischen Behindertenpolitik und Sonderpädagogik eingeleitet.

Der Geist des Normalisierungsprinzips wirkte sich dann in Deutschland zunächst so aus, dass zu Beginn der zweiten Hälfte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts zunächst erst zaghaft vereinzelte, in den folgenden Jahren jedoch immer mehr integrative Kindertagesstätten als Modellversuche entstanden. Seit Beginn der achtziger Jahre werden dann in allen Bundesländern zumeist wissenschaftlich begleitete Modellversuche zur schulischen Integration eingerichtet, die sich zunächst auf den Grundschulbereich, später dann auch auf den Sekundarschulbereich bezogen. Dabei war es vor allem der Durchsetzungswille der betroffenen Eltern und keineswegs das Motiv professioneller Sonderpädagogen, welcher die Alltagspraxis vorschulischer und schulischer Integration auf den Weg brachte und sich kontinuierlich entwickeln ließ. In diesem neuen Zeitgeist des Normalisierungsprinzips öffneten sich auch die Großanstalten für Menschen mit geistiger Behinderung und richteten Außenwohngruppen integrativer bzw. therapeutischer Art ein. Mit ihnen wurde die ursprünglich hospitalisierende Gettosituation aufgelöst, und die Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung bekamen dadurch eine neue Lebensqualität in mehr Normalität und gesellschaftlicher Teilhabe.

2. Schulische Integration von Kindern und Jugendlichen mit (geistiger) Behinderung

Nachdem die verschiedenen Elterninitiativen die vorschulische Integration durchgesetzt hatten, wandte sich diese sozialpolitisch engagierte Elternschaft immer stärker der aus ihrer Sicht bestehenden Notwendigkeit zur schulischen Integration ihrer behinderten Kinder zum gemeinsamen Unterricht mit nichtbehinderten Kindern zu. So entstand in den zurückliegenden 25 Jahren allmählich ein System gemeinsamer schulisch-integrativer Erziehung und Bildung. Dabei ist, insbesondere bezogen auf die alten Bundesländer, ein deutliches Gefälle von Norden nach Süden erkennbar. Trotz dieser beeindruckenden Integrationsbewegung darf aber nicht verschwiegen werden, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt, bezogen auf alle schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen mit Behinderung, überhaupt erst zirka fünf Prozent dieser Klientel integrativ beschult werden.

Wie beschwerlich dieser Weg bereits jetzt ist, bezogen auf einzelne Bundesländer, zeigt sich insbesondere am Beispiel der Klientel geistig behinderter und lernbehinderter schulpflichtiger Kinder und Jugendlicher. Von dem bereits erwähnten starken Nord-Süd-Gefälle im schulischen und beruflichen Integrationsengagement der Politiker und Pädagogen einmal abgesehen (Hamburg und Berlin sind hier in ihrer pionierhaften Vorreiterrolle als besonders positiv zu nennen!), werden auch nach politischer Couleur der einzelnen Landesregierungen unterschiedliche Zielsetzungen einer integrativen Beschulung verfolgt. Diesbezüglich unterscheidet man in der Ausgestaltung der integrativen Beschulung zwischen einer lernzielgleichen Integration und einer lernzieldifferenten Integration.

Im Falle der praktisch umgesetzten lernzieldifferenten Integration, die in der Regel von allen SPD-regierten Bundesländern praktiziert wird, kann jedes schulpflichtige Kind mit welcher Behinderung auch immer schulisch integriert werden. Didaktisch-methodisch bedeutet dies, dass im integrativen Unterricht auf der Grundschul- oder Sekundarstufe im Prozess des gemeinsamen Lernens am selben Lerngegenstand nach dem didaktischen Prinzip der inneren Differenzierung jedes behinderte Kind individuell nach den Unterrichtsrichtlinien des Sonderschultyps, der seiner Behinderung entspricht, gefördert wird. Bei dieser Art schulischer Integration steht also das behinderte Kind mit seiner individuellen Ausgangslage und seinem speziellen sonderpädagogischen Förderbedarf im Vordergrund. Hingegen steht bei der lernzielgleichen Integration das voraussichtlich zu erreichende Schulabschlussziel als Entscheidungsfaktor darüber im Vordergrund, ob ein behindertes Kind überhaupt integrativ beschult wird oder nicht. So geht man hierbei davon aus, dass zum Beispiel Kinder mit einer erheblichen Lernbehinderung oder einer geistigen Behinderung den Hauptschulabschluss als letztlich zu erreichendes Schulziel wegen ihrer "kognitiven Defizite" nicht erreichen werden. Inwieweit das kürzlich verabschiedete Gleichstellungsgesetz hier zu Veränderungen in Richtung einer grundsätzlich umzusetzenden lernzieldifferenten Integration im Grundschul- und Sekundarstufenbereich führt, wird erst die Zukunft zeigen.

Die Qualität der integrativen Beschulungspraxis hängt im Wesentlichen von folgenden Rahmenbedingungen ab:

- von den personellen Ressourcen, dem persönlichen Integrationsengagement sowie der Professionalität der Lehrkräfte (hier sei z.B. das Unterrichtsprinzip der inneren Differenzierung genannt). Team-Teaching im Sinne einer unterrichtlichen Doppelbesetzung von GrundschullehrerInnen/HauptschullehrerInnen und SonderschullehrerInnen, die beide für alle Kinder pädagogisch zuständig sind, ist ein in den integrativen Schulversuchen erreichter Standard, der auch in Zeiten knapper finanzieller Ressourcen nicht unterschritten werden sollte. Dabei ist der integrative Unterricht so gut oder so schlecht, wie die dort tätigen Lehrkräfte arbeiten.

- von dem barrierefreien Zugang zu allen Unterrichts- und sonstigen Schulräumen sowie der behinderungsspezifischen Ausstattung mit Hilfsmitteln.

- von IntegrationshelferInnen und von AmbulanzlehrerInnen, die durchgehend oder mit einem gewissen Stundenkontingent zur Verfügung gestellt werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn keine lehrermäßige Doppelbesetzung vorliegt. Auch gerade im Hinblick auf bestehende Mehrfachbehinderungen wie z.B. eine hochgradige Sehbehinderung, gekoppelt mit einer Lernbehinderung oder geistigen Behinderung, reicht die spezielle Fachkompetenz der unterrichtenden Lehrkräfte oft nicht aus, um dem speziellen sonderpädagogischen Förderbedarf des Kindes gerecht zu werden.

Werden diese vorgenannten Rahmenbedingungen nur teilweise oder gar nicht erfüllt, so verkommen die behinderten Kinder im Rahmen des integrativen Unterrichts zu bloßen "Beistellkindern", wobei dann von einer echten schulischen Integration nicht mehr die Rede sein kann. Hier stellt dann sicherlich der adäquate Sonderschultyp für dieses betreffende Kind die bessere Alternative dar.

3. Berufliche Integration als besonders schwieriges Problemfeld

Auf Grund kultusministerieller Erlasse und Empfehlungen konnten in den zurückliegenden drei Jahrzehnten Projekte und Modelle zur vorschulischen und schulischen Integration relativ leicht durchgeführt werden. Für den Bereich der beruflichen Ausbildung und Integration stellt sich die in unserer Wirtschaftsverfassung verankerte Vertragsfreiheit geradezu als ein hemmender Faktor dar. Betriebe des allgemeinen Arbeitsmarktes haben demnach die Freiheit, darüber zu entscheiden, ob und wen sie ausbilden oder auf einem Arbeitsplatz einstellen. Daran haben auch die Bestimmungen des ehemaligen Schwerbehindertengesetzes und des jetzt gültigen Sozialgesetzbuches IX (SGB IX) nichts geändert, da Arbeitgeber sich im Rahmen der Ausgleichsabgabe noch immer von der gesetzlich festgeschriebenen Pflichtquote zur Einstellung von Menschen mit Behinderungen "freikaufen" können. Der Umfang, in dem davon Gebrauch gemacht wird, spiegelt trotz vielfacher staatlicherseits angebotener finanzieller Anreize die Vorurteile und Vorbehalte der Unternehmer zur Einstellung (schwer) behinderter Menschen wider.

Inzwischen hat dennoch der Geist des Normalisierungsprinzips und der Integrationsbewegung auch den Lebensbereich von Arbeit und Beruf in den letzten zwei Jahrzehnten in zunehmendem Maße ergriffen. Dabei waren es in diesem Zeitraum insbesondere europäische Verbundprojekte (z.B. HORIZON-Projekte), die Möglichkeiten zur beruflichen Qualifizierung und Integration von Menschen mit (geistiger) Behinderung entwickelt und etabliert haben. Aus diesen mehrjährigen Projekten ist eine Vielfalt von innovatorischem Ideengut entstanden, das sich nicht nur in verschiedenen Modellversuchen einzelner europäischer Länder, sondern auch in der Rehabilitationsgesetzgebung, wie z.B. dem SGB IX, niederschlug. Hieraus wurde schließlich die Integrationsbewegung auch in Deutschland im Lebensbereich Arbeit und Beruf weiter belebt. Somit wollten immer mehr Eltern nach der Schulentlassung ihrer behinderten Kinder eine echte Alternative zur Werkstatt für Behinderte im Sinne einer beruflichen Qualifizierung und Integration in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes geboten bekommen. Auch behinderte Beschäftigte drängten immer stärker darauf, die Ausgangstür ihrer angestammten Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM - seit dem SGB IX nicht mehr WfB) mehr zu öffnen hin auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Dafür soll im Folgenden am Beispiel des Bundeslandes Hessen ein entsprechendes Modell vorgestellt werden.

II. Beruf ist das Rückgrat des Lebens!

1. Berufliche Qualifizierung auch für Menschen mit geistiger Behinderung

B ASIS

E NTWICKLUNG

R EIFE

U MWELTKONTAKTE

F ÄHIGKEITEN

S ELBSTVERWIRKLICHUNG

A RBEITSZUFRIEDENHEIT

U MFELD

S OZIALER STATUS

B EWUSSTHEIT

I DENTITÄTSFINDUNG

L EBENSERFAHRUNG

D URCHSETZUNGSKRAFT

U RTEILSVERMÖGEN

N EUGIER

G ESELLSCHAFT

Berufsausbildung ist die Basis zur Entwicklung der Persönlichkeit. Man erwirbt die Reife, Umweltkontakte aufzubauen. Durch den Erwerb von beruflichen Fähigkeiten wird Selbstverwirklichung vorbereitet, Arbeitszufriedenheit erreicht und im Umfeld der soziale Status verbessert. Mit Bewusstheit lernen trägt zur Identitätsfindung bei. Wachsende Lebenserfahrung, Durchsetzungskraft und Urteilsvermögen, gepaart mit Neugier auf Neues, führt zu Gewinn für sich und die Gesellschaft.

Die heute für die Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) bestehende Notwendigkeit, produktiv-effizient zu fertigen, ergibt sich aus dem ständig steigenden Anforderungsniveau an das berufliche Qualifikationspotenzial aufgrund des zunehmenden Wettbewerbdrucks und des rapiden technologischen Wandels. Auf dem europäischen Arbeitsmarkt ist Hightechproduktion inzwischen selbstverständlich geworden. Somit ist auch in den WfbM eine diesen neuen Hightech-Technologien angepasste qualifizierte Berufsausbildung (ein Mehr an Wissen und Fertigkeiten und Flexibilität für behinderte und nicht behinderte Mitarbeiter) erforderlich. Auch müssen innerhalb der WfbM Plätze im berufsbildenden und im Produktionsbereich der Ausstattung eines modernen Arbeitsplatzes in Industrie und Handwerk entsprechen.

2. Berufliche Integration - was ist das eigentlich?

Bestrebungen zur Realisierung beruflicher Integration sind als die logische Konsequenz einer bereits im vorschulischen und schulischen Bereich eingeleiteten und umgesetzten gemeinsamen Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen zu verstehen. Bei der beruflichen Integration handelt es sich um ein umfassendes Maßnahmenbündel, mit dem der jugendliche Berufsanwärter mit Behinderung nach der Entlassung aus der Sonderschule oder aus integrativen Klassen des allgemein bildenden Schulwesens mit dem Ziel einer beruflichen Ausbildung oder der Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit in private oder öffentlich-rechtliche Betriebe des allgemeinen Arbeitsmarktes eingegliedert wird. Weiterhin bezieht sich berufliche Integration unter Wahrung der Prinzipien von Normalisierung und der selbstbestimmten Lebensführung auf alle Maßnahmen, durch die behinderten Beschäftigten der Weg geebnet wird, die Sondereinrichtungen (wie z.B. die WfbM) zu verlassen, um eine Beschäftigung in einem privaten oder öffentlich-rechtlichen Betrieb des allgemeinen Arbeitsmarktes, abgesichert durch den Abschluss eines tarifrechtlich verbindlichen Arbeitsvertrages, aufzunehmen. Dabei liegt nur dann eine echte berufliche Integration vor, wenn ein gemeinsames Arbeiten von behinderten und nichtbehinderten Beschäftigten am gemeinsamen Gegenstand realisiert wird.

Das dafür notwendige berufliche Qualifikationsbündel wird zuvor durch Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation dabei häufig in Sondereinrichtungen (Berufsbildungs- und Berufsför-derungswerke sowie Werkstätten für behinderte Menschen) erworben. Die berufliche Rehabilitation, die begrifflich von Medizinern und Verwaltungsfachleuten häufig synonym mit dem Begriff der beruflichen Integration verwendet wird, ist innerhalb dieses Prozesses also der Weg, während die berufliche Integration das Ziel darstellt. Dabei muss das gemeinsame Arbeiten am gemeinsamen Gegenstand in zwischenmenschlicher Akzeptanz gewährleistet sein, um eine tatsächliche, echte berufliche Integration zu erreichen.

3. Berufliche Qualifizierung und Integration von Menschen mit (geistiger) Behinderung: das Hessische Modell

Als Ergebnis einer aus Praxisvertretern sowie aus verschiedenen am beruflichen Rehabilitationsprozess behinderter Menschen beteiligten Institutionen bestehenden Arbeitsgruppe wurde 1988 erstmalig das Hessische Konzeptionspapier (HKP) zur Schaffung und Finanzierung von Arbeits-, Ausbildungs- und Beschäftigungsplätzen außerhalb von Werkstätten für Behinderte veröffentlicht. Es besteht aus einer Materialsammlung mit wertvollen Hinweisen (einschließlich rechtlicher Regelungen) für die Ausgliederung von Beschäftigten mit Behinderungen aus der Werkstatt für Behinderte in Betriebe des allgemeinen Arbeitsmarktes.

Das Herzstück des HKP stellt dabei das so genannte Stufenkonzept dar, das für das Bundesland Hessen - und dies gibt es nur in diesem Bundesland - eine sanfte berufliche Integration für Menschen mit Behinderung(en) aus der Werkstatt in den allgemeinen Arbeitsmarkt ermöglicht.

Stufenkonzept "Außenarbeitsplätze"

Stufe 1 Betriebspraktikum: Es soll dazu dienen zu erkennen, ob der Teilnehmer für die Arbeitsstelle geeignet ist, ob der Arbeitsplatz den Wünschen und Interessen des behinderten Beschäftigten entspricht, ob die beteiligten Vorgesetzten und Kollegen ein solches Vorhaben mittragen können.

Stufe 2 Arbeitserprobung: Dadurch soll die Leistungsfähigkeit des behinderten Menschen und dessen Integration im betrieblichen Alltag geprüft werden.

Stufe 3 Ausgelagerter Beschäftigungsplatz: Er soll dazu dienen, den Übergang Werkstätte für Behinderte/freier Arbeitsmarkt über einen längeren Zeitraum sicher und betreut zu gestalten und dem Arbeitgeber die Entscheidung über eine Festeinstellung zu erleichtern.

Stufe 4 Arbeitsvertrag (unbefristetes Arbeitsverhältnis): Damit will man die Förderung durch das Arbeitsamt oder/und die Hauptfürsorgestelle (heute Integrationsamt) ermöglichen.

Entgelt durch die WfbM Entgelt wird individuell geregelt

1. Stufe

Betriebspraktikum

(4-8 Wochen)

2. Stufe

Arbeitserprobung

(6 Monate)

3. Stufe

Ausgelagerter Beschäftigungsplatz

(in der Regel bis zu 1 Jahr) 4. Stufe

Arbeitsvertrag

(unbefristetes Arbeitsverhältnis) soziale Absicherung und Betreuung durch die WfbM Möglichkeit der Förderung durch das Arbeitsamt oder/und die Hauptfürsorgestelle

In den einzelnen Stufen dieses Konzepts, in denen sich der Mensch mit einer Behinderung, bezogen auf einen relativ langen Zeitraum, daraufhin erproben kann, ob er den Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes gewachsen ist, bleibt er bis zum eventuellen Abschluss eines tarifrechtlich abgesicherten Arbeitsvertrages stets noch Mitarbeiter seiner Werkstatt für behinderte Menschen. In dieser Zeit werden auch alle anfallenden Kosten über den Pflegesatz finanziert. Für den betroffenen Beschäftigten, aber auch für den Unternehmer, der ihn auf einem Außenarbeitsplatz beschäftigt, besteht also in dieser Zeit keinerlei Risiko, so dass zu Recht von einer Form sanfter beruflicher Integration gesprochen werden kann.

Ein weiteres wichtiges Wesenselement dieses HKP ist die Fachkraft für Außenarbeitsplätze (neue Bezeichnung: Fachkraft für berufliche Integration - "FBI", eine in der jeweiligen Werkstatt für behinderte Menschen angesiedelte Planstelle, deren Schaffung durch das HKP abgesichert ist. Hierbei handelt es sich um eine Art Arbeitsassistenten, der mit den von ihm eingeleiteten und weiter auszubauenden Kooperationskontakten mit den Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes der Region ein echtes Scharnier der Ausgangstür der Werkstatt darstellt.

Dieses Hessisches Konzeptionspapier wurde nach seiner Veröffentlichung im Jahr 1988 von den Werkstätten für Behinderte zunächst weniger beachtet als gewünscht, so dass sich das hessische Ministerium für Frauen, Arbeit und Sozialordnung gemeinsam mit der Hauptfürsorgestelle des Landeswohlfahrtsverbandes (LWV) Hessen entschloss, 1993 unter meiner Leitung das "Projekt Berufliche Integration von Menschen mit Behinderung" (PBI) an der Universität Frankfurt am Main zu installieren. In einer Gesamtlaufzeit von fünf Jahren wurde von den MitarbeiterInnen dieses Projekts ein für Hessen flächendeckendes Beratungssystem als Serviceleistung für die Werkstätten für Behinderte aufgebaut, um dem Hessischen Konzeptionspapier zu einer verbesserten und intensiveren Umsetzung zu verhelfen, was schließlich auch die in diesem Zeitraum in Betriebe des allgemeinen Arbeitsmarktes vermittelten behinderten Beschäftigten aus den verschiedenen Werkstätten beweisen.

4. Kooperation als Handlungsdimension im beruflichen Qualifizierungs- und Integrationsprozess für Menschen mit Behinderung

Im Bereich der beruflichen Qualifizierung und Integration von Menschen mit Behinderung gilt es, Kooperation als Handlungsdimension zu verstehen. Dies zeigte sich auch in der fünfjährigen Praxis- und Beratungstätigkeit des PBI an der Universität Frankfurt/Main, die eine Fülle an Erfahrungen und grundlegenden Erkenntnissen hervorbrachte, die auch auf weitere Bereiche übertragen werden könnten:

Kooperation

- ist unverzichtbarer Bestandteil im beruflichen Rehabilitations- bzw. Integrationsprozess;

- ist kein einmaliges Handeln, sondern grundlegendes Arbeitsprinzip im Bereich der Rehabilitation, wie z.B. in beruflichen Qualifizierungs- und Integrationsprozessen;

- setzt institutionelle und individuelle Rahmenbedingungen voraus;

- geschieht nicht als Selbstzweck, sondern impliziert eine gemeinsame Zielfindung zur beruflichen Integration und Qualifizierung mit dem behinderten Menschen als aktivem Mitgestalter seiner rehabilitativen Lebenswelt;

- orientiert sich an den jeweiligen lebensweltlichen Bezügen des Rehabilitanden.

Jeder Mensch hat mehrmals in seinem Leben mit inneren und äußeren Widerständen und Veränderungen in seiner Lebenssituation zu rechnen. Der Mensch mit Behinderung ist aufgrund des möglichen Verlustes an körperlicher und seelischer Gesundheit oder geringeren kognitiven Möglichkeiten zur Kompensation auf die systematische und professionelle Unterstützung der Dienste und Organisationen im Feld der beruflichen Rehabilitation angewiesen, um im Zuge der Normalisierung der Lebensbedingungen dem Ziel der beruflichen Integration näher zu kommen.

Dabei wird es nötig sein, den gesamten Lebenszusammenhang als Orientierungshorizont wahrzunehmen von Seiten des Betroffenen, seiner Angehörigen, seiner Helfer und den Organisatoren der Rehabilitation. Im Kooperationsfeld der beruflichen Rehabilitation/Integration muss also die aktive Zusammenarbeit der Repräsentanten der bisherigen Lebensbereiche des Menschen mit Behinderung mit denen der Organisationen und Dienste der Rehabilitation initiiert und kontinuierlich mit Leben gefüllt werden. Das bedeutet im Einzelnen:

- eine systematische Einbeziehung des relevanten sozialen Umfeldes,

- Information aller Beteiligten,

- Induktion von realistischen positiven Zukunftsperspektiven,

- Erarbeitung von gemeinsamen Zielen,

- Ordnung des Umfeldes, auf die hin sich auch das innerpsychische Feld neu zu ordnen vermag,

- personelle und konzeptionelle Kontinuität sowie

- kontinuierliche Rückfallprophylaxe.

Eine derart komplexe Anforderungsvielfalt ist nur im Kooperationsfeld aller Beteiligten umsetzbar, setzt jedoch die gründliche Auseinandersetzung mit inhaltlichen, strukturellen und persönlichen Rahmenbedingungen voraus.

III. Vorschläge und Forderungen zur Optimierung beruflicher Integrationsprozesse unter dem Aspekt von Kooperation und Vernetzung

Maßnahmen zur Gestaltung von Rehabilitations- und Integrationsprozessen für Menschen mit Behinderungen müssen von einer umfassenden Verantwortung getragen sein. Es können verschiedene Wege beschritten werden, dem Ziel der beruflichen Integration näher zu kommen und dieses am Ende sogar zu erreichen. Wichtig ist jedoch, dass alle Maßnahmen und Angebote auf die entsprechenden Bedürfnisse des Menschen mit Behinderung ausgerichtet werden. Zusammen und keineswegs über die Köpfe der Betroffenen hinweg müssen im dialogischen Miteinander Wege einer beruflichen Rehabilitation und Integration aufgezeigt und Entscheidungen getroffen werden. Um den Menschen mit Behinderung echte Hilfe im beruflichen Integrationsprozess zukommen zu lassen, gilt es, sich an folgenden Anforderungsprofilen zu orientieren:

- Grundlage jedes Handelns muss die Herausbildung eines positiven Bildes vom Menschen mit Behinderung sein, das ihn als lern- und entwicklungsfähige Persönlichkeit ansieht.

- Ziel der Schulen für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung muss es sein, dem Automatismus "Sonderschüler - Einmündung in eine WfbM" entgegenzutreten, und das Prinzip "Selbstverwirklichung" in sozialer Integration' anzustreben.

- Aus diesem Grunde dürfen Eingliederungsversuche nicht erst zum Zeitpunkt der Schulentlassung beginnen. Längerfristige Bemühungen, speziell in Bezug auf Kooperation mit Firmen des allgemeinen Arbeitsmarktes, Arbeitsämtern und entsprechenden Fachdiensten, sowie eine gezielte Vorbereitung der Schüler während des Werkstufenunterrichts sind unabdingbar, um dem oben genannten Automatismus entgegenzutreten und Schülern neben der Beschäftigung in einer WfbM andere Wege der beruflichen Selbstverwirklichung aufzuzeigen.

- Die Bildung regionaler Vermittlungsteams, bestehend aus Vertretern der Arbeitsämter, Integrationsämter (ehemals Hauptfürsorgestellen), Fachdienste, Rehabilitationseinrichtungen, Berufsschulen etc., könnten diesen Prozess durch gezielte Beratung und Information unterstützen und gleichzeitig die Einstellungsbereitschaft der Betriebe erhöhen.

- Im Sinne des Normalisierungsprinzips ist es von politischer Seite notwendig, diese Entwicklung anhand neuer Gesetzesregelungen zu untermauern (das neue SGB IX ist ein erster Schritt dazu!) und so, z.B. durch eine finanzielle Unterstützung bei Einstellungen von Menschen mit Behinderungen, eine berufliche Integration zu forcieren.

- Die Werkstätten für behinderte Menschen sind, mit dem Ziel echter beruflicher Integration, aufgefordert, mit allen am beruflichen Eingliederungsprozess beteiligten Institutionen, Verbänden und Personen zu kooperieren und als ein Glied im vernetzten System mit ihnen zusammenzuarbeiten.

- Die Installierung der Runden Tische bietet den richtigen Rahmen, sich mit anderen am Eingliederungsprozess Beteiligten auszutauschen und konkret das Ziel der beruflichen Integration zu verfolgen und umzusetzen. Dabei muss das Verständnis von beruflicher Integration als eine kooperative und vernetzende Aufgabe aller Institutionen und Personen verinnerlicht werden.

- Im Sinne einer ganzheitlichen Förderung bieten Runde Tische die Möglichkeit, im interdisziplinären Austausch individuelle Förderpläne in Kooperation mit dem behinderten Menschen zu entwickeln und zu realisieren. Speziell für die am Übergang Schule/WfbM beteiligten Institutionen wird hier die Möglichkeit zur Abstimmung von Qualifizierungsmaßnahmen möglich, die für eine zielgerichtete, kontinuierliche und auf Individualität basierende berufliche Förderung dringend notwendig ist.

- Als individueller Förderplan bietet sich dabei das Detmolder Lernwege-Modell und das Modell des Strukturierten Lernens (G. Grampp) an, da sie sich in ihrer Zielsetzung und Struktur als Handlungsorientierung auf dem Weg beruflicher Integration von der Schule über die WfbM bis hin zum allgemeinen Arbeitsmarkt bestens eignen.

- Die Förderung aller Mitarbeiter mit Behinderung innerhalb einer WfbM sollte zukünftig sichergestellt werde. Dies erfordert, neben einer Öffnung der WfbM nach innen, wie z.B. durch eine Umorientierung der Trägerphilosophie, auch eine nach außen gerichtete Öffnung.

- Eine verstärkt betriebene berufliche Qualifizierung der behinderten Mitarbeiter in der WfbM und eine Intensivierung der Vermittlungsaktivitäten in Betriebe des allgemeinen Arbeitsmarktes spielen dabei eine wichtige Rolle. Zielsetzung und Gestaltung beruflicher Qualifizierungsmaßnahmen sollten in enger Kooperation mit Firmen des allgemeinen Arbeitsmarktes und den Arbeitsämtern erfolgen, damit ein Übergang aus der WfbM in den allgemeinen Arbeitsmarkt erleichtert wird. Eine berufliche (Aus-)Bildung im berufsbildenden Bereich der WfbM mit dem Ziel einer "echten" Berufsausbildung sollte sich somit als stetige Aufgabe stellen.

- Auch Berufsschulen sollten sich im kooperativen und vernetzenden Prozess beruflicher Qualifizierung als Partner einbringen und speziell Werkstätten durch ihr didaktisches und methodisches Know-how unterstützen.

- Zur Unterstützung des Öffnungsprozesses tragen die Fachkräfte für berufliche Integration im Rahmen des Hessischen Modells wesentlich bei; aus diesem Grunde müssen deren Aufgabengebiete eng in das Gesamtkonzept der Werkstätten mit eingebunden werden, damit eine sensible Begleitung der behinderten Menschen aus der Werkstatt in den allgemeinen Arbeitsmarkt erfolgen kann. Eine enge Kooperation zwischen den Fachkräften und Firmen des allgemeinen Arbeitsmarktes wie auch den Gruppenleitern der WfbM ist deshalb von entscheidender Bedeutung. Teilnahme an Runden Tischen und Team-Sitzungen bzw. Mitarbeiterbesprechungen innerhalb der Werkstatt sind unerlässlich.

- Statt Werkstätten weiter zu erweitern, wäre die Gründung einer gemeinnützigen GmbH durch die WfbM sinnvoll. Dies würde dem behinderten Mitarbeiter ermöglichen, in einem tariflich abgesicherten Arbeitsvertrag im Status eines "normalen" Arbeitnehmers' bzw. eines Auszubildenden einer seiner Neigung entsprechenden Arbeit nachzugehen. Im Zuge weiterer Öffnung und Umgründung zu einem Solidaritätsbetrieb wäre die Möglichkeit zur gleichberechtigten Arbeit von Menschen mit und ohne Behinderung gegeben.

- Eine Sicherung der Nachbetreuung bereits vermittelter behinderter Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist von großer Bedeutung, um eine dauerhafte Integration zu gewährleisten.

Anhand dieser verschiedenen und zum Teil sehr komplexen Anforderungsprofile wird deutlich, dass der lange Weg der beruflichen Integration von Menschen mit Behinderung in Kooperation und Vernetzung aller am beruflichen Integrationsprozess Beteiligten zwar angetreten, das Ziel aber keinesfalls schon erreicht ist.

Dr. rer. pol., geb. 1937; 1968 erblindet; 1975 - 2002 Professur für Sonderpädagogik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/M.
Anschrift: Katzenlückstr. 39, 65719 Hofheim/Ts.
E-Mail: E-Mail Link: k.jacobs@em.uni-frankfurt.de

Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Werkstatt im Wandel. Abschlussbericht I, Projekt Berufliche Integration von Menschen mit Behinderungen, Frankfurt/M. 1997; zahlreiche Beiträge zur beruflichen Integration von Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung.