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Selbstbestimmung als behindertenpolitisches Paradigma - Perspektiven der Disability Studies | Menschen mit Behinderungen | bpb.de

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Selbstbestimmung als behindertenpolitisches Paradigma - Perspektiven der Disability Studies

Anne Waldschmidt

/ 21 Minuten zu lesen

Wie Gesundheit, so hat auch "Selbstbestimmung" einen suggestiven Klang. Wer wollte nicht autonom leben, in Freiheit und Unabhängigkeit? Aktuell gilt der Begriff als zentrale Leitlinie der Behindertenpolitik.

I. Einleitung

Wie Gesundheit, so hat auch "Selbstbestimmung" einen suggestiven Klang. Wer wollte nicht autonom leben, in Freiheit und Unabhängigkeit? Aktuell gilt der Begriff als zentrale Leitlinie der Behindertenpolitik. Im neuen Rehabilitationsrecht, das im Juli 2001 in Kraft trat, wird er gleich im ersten Paragraphen erwähnt. Dort heißt es, dass behinderte Menschen Rehabilitationsleistungen erhalten, um ihre Selbstbestimmung zu fördern. Nicht nur im Neunten Sozialgesetzbuch (SGB IX) ist der Autonomiegedanke verankert, auch in der Behindertenpädagogik spielt er mittlerweile eine große Rolle. Seit Mitte der neunziger Jahre kann man eine verstärkte Thematisierung des Selbstbestimmungsbegriffs im heil- und sonderpädagogischen Diskurs beobachten. Allerdings orientiert sich die pädagogische Herangehensweise wie auch der rehabilitative Ansatz am Therapie- und Behandlungsmodell, an der Vorstellung, dass behinderte Menschen vor allem deshalb der Autonomie bedürfen, um ihre gesundheitliche Beeinträchtigung besser bewältigen zu können.

Dagegen wäre es notwendig, auch die allgemeine kulturelle und gesellschaftspolitische Relevanz von Autonomie in den Blick zu nehmen und Behinderung in diesem Zusammenhang als ein erkenntnisleitendes Moment zu benutzen. Denn es geht nicht nur darum, behinderten Menschen die allgemein übliche Selbstbestimmung zuzugestehen; vielmehr werden mit der behindertenpolitischen Autonomieforderung Fragen aufgeworfen, die auch die Selbstbestimmung Nichtbehinderter in einem neuen Licht erscheinen lassen. Welche theoretischen Grundannahmen gehen in den Autonomiegedanken ein? Welche Prozeduren sind notwendig, um ein selbstbestimmtes Leben zu verwirklichen? Was heißt es, in unserer Gesellschaft ein sich selbst bestimmendes Subjekt zu sein? Das sind die zentralen Fragestellungen, wenn man aus kulturwissenschaftlicher Sicht den Zusammenhang von Selbstbestimmung und Behinderung untersucht.

Einen solchen Perspektivwechsel vornehmen heißt, "Disability Studies" zu betreiben. Begründet in den USA von dem selbst behinderten, 1995 verstorbenen Medizinsoziologen Irving K. Zola und in Großbritannien von dem ebenfalls behinderten Sozialwissenschaftler Michael Oliver, haben sich die Disability Studies in den achtziger Jahren zunehmend an angloamerikanischen Hochschulen etabliert. Innerhalb des interdisziplinären Forschungsfeldes geht es darum, das Phänomen Behinderung als soziale Konstruktion zu fassen und unter einer kulturwissenschaftlichen Perspektive zu untersuchen. Ähnlich wie bei der Frauen- und Geschlechterforschung handelt es sich zudem um einen Ansatz, der eine emanzipatorische Zielrichtung hat. Seine Wurzeln sind eng mit Geschichte und Ansatz der internationalen Behindertenbewegung verknüpft. Zielsetzung ist nicht nur, das medizinisch-pädagogische Behinderungsmodell zu relativieren, sondern auch "peer research" zu betreiben: parteiliche Forschung für Behinderte von Behinderten. Mittlerweile sind die Impulse aus Großbritannien und den USA auch in Deutschland angekommen. Im Rahmen der Ausstellung "Der (im)perfekte Mensch", die von der Aktion Mensch und dem Deutschen Hygiene-Museum in Dresden (2001) und Berlin (2002) durchgeführt wurde, fanden zwei Tagungen statt, auf denen der Ansatz diskutiert wurde. Eine im April 2002 gegründete Arbeitsgemeinschaft "Disability Studies in Deutschland" hat sich zum Ziel gesetzt, entsprechende deutschsprachige Forschungsansätze zu fördern. Auch auf dem Soziologiekongress in Leipzig im Oktober 2002 waren die Disability Studies ein Thema.

Um das innovative Potential der Forschungsrichtung zu verdeutlichen, bietet sich die Selbstbestimmungsproblematik geradezu an. Fragt man nämlich danach, wie das Autonomiekonzept ins Zentrum der deutschen Behindertenpolitik rücken konnte, wird man auf die Behindertenbewegung stoßen. Beeinflusst von dem "Independent-Living"-Gedanken der amerikanischen Behindertenbewegung begannen hierzulande behinderte Frauen und Männer Anfang der achtziger Jahre, für ein Ende der institutionellen Unterbringung zu kämpfen, persönliche Assistenz selbst zu organisieren und Bürgerrechte einzufordern, mit einem Wort, Selbstbestimmung für sich zu verwirklichen. Ausdruck dieser "Selbstbestimmt-Leben"-Bewegung ist eine ganze Reihe von selbst organisierten Beratungs- und Serviceeinrichtungen, die bundesweit in den letzten beiden Jahrzehnten entstanden sind und die sich die Umsetzung des Autonomiegedankens zum Ziel gesetzt haben. Bei der Dachorganisation "Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben" (ISL), die seit 1991 existiert, laufen die Fäden zusammen. An den Bestrebungen der zumeist körperbehinderten und sinnesbeeinträchtigten Aktivisten der Behindertenbewegung hatten geistig behinderte Menschen zunächst wenig Anteil. Erst 1994 veranstaltete die Bundesvereinigung Lebenshilfe in Duisburg einen Kongress unter dem Titel "Ich weiß doch selbst, was ich will! Menschen mit geistiger Behinderung auf dem Weg zu mehr Selbstbestimmung". Inzwischen gibt es mit "People First" auch eine entsprechende Organisation der Betroffenen.

Zum Ende des 20. Jahrhunderts, etwa zweihundert Jahre, nachdem im Rahmen der Aufklärungsphilosophie das Autonomiekonzept entworfen wurde, können es nun auch diejenigen für sich reklamieren, die zuvor jahrhundertelang ausgegrenzt wurden. Wie aber kam es, dass das Recht behinderter Menschen auf autonome Lebensführung von der Gesellschaft als legitim anerkannt wurde? Welche Rahmenbedingungen waren für die Durchsetzung des Selbstbestimmungsgedankens im Rehabilitationssystem verantwortlich? Ist das Autonomiekonzept nur positiv zu bewerten, oder sind mit ihm auch Gefahren verknüpft? Wie wird es von den Betroffenen konzeptionalisiert? Für die folgenden Ausführungen greife ich auf meine Studie "Selbstbestimmung als Konstruktion" zurück, die als eine frühe Arbeit der deutschsprachigen Disability Studies betrachtet werden kann.

II. Selbstbestimmung - der sprachgeschichtliche Hintergrund

Das Wort "Selbstbestimmung" ist Bestandteil der gängigen deutschen Alltagssprache und wird häufig eher unreflektiert verwendet. Zumeist wird davon ausgegangen, dass sich die Vokabel sozusagen von selbst versteht. Die Begriffsgeschichte lässt sich folgendermaßen interpretieren: Der Wortteil "Selbst" ist jüngeren Datums und bildet sich im Laufe des 18. Jahrhunderts, also zur Zeit der Aufklärung und der frühen Moderne, zu einem eigenständigen Begriff heraus, um den herum sich relativ schnell eine große Wortfamilie entfaltet. Ursprünglich von einem Demonstrativpronomen stammend, entsteht allmählich ein reflexiver Bedeutungsgehalt: Wie in einen Spiegel schauend entdeckt das Individuum sein "Ich", seine "Identität", kurz, sein "Selbst". Der Wortteil "Bestimmung" gibt Hinweise darauf, wie diese Entdeckung verläuft. "Bestimmung" hat zwei eng miteinander verschränkte Bedeutungsebenen, zum einen "Befehl über etwas" im Sinne personaler Macht und zum anderen "Benennung von etwas" im Sinne von Klassifikation. Somit verweist Selbstbestimmung von der Wortgeschichte her auf ein einzelnes Wesen, das sich erkennt, indem es sich definiert und zugleich Macht über sich ausübt. In anderen Worten, der Selbstbestimmungsbegriff bündelt selbstreferentielle, erkenntnistheoretische und individualistische Facetten sowie Aspekte von Macht und Herrschaft.

III. Selbstbestimmung, das rationale Subjekt und Behinderung

Wendet man sich dem Zusammenhang von Selbstbestimmung und Behinderung zu, wird man fast zwangsläufig mit der Frage konfrontiert: Warum eigentlich wird behinderten Menschen Selbstbestimmung eher verwehrt als nichtbehinderten? Um zu verstehen, warum behinderte Frauen und Männer es schwer haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ist es sinnvoll, die Philosophie des Autonomiegedankens, die mit dem Zeitalter der Aufklärung eng verknüpft ist, wenigstens kurz zu beleuchten.

Für den philosophischen Diskurs über Autonomie ist der Ansatz Immanuel Kants grundlegend, nach dem der Mensch - als Mensch - grundsätzlich zur Selbstbestimmung fähig ist, da er über praktische Vernunft verfügt. Diese wird von Kant definiert als das Vermögen, das eigene Handeln unabhängig von Bedürfnissen, Emotionen und Motivationen, kurz, unabhängig von der "Sinnenwelt" auszurichten. Die praktische Vernunft zeichnet den Menschen allgemein aus und macht ihn zu einem rational handelnden Subjekt. In Gefahr gerät die Subjekthaftigkeit des Menschen dann, wenn er krank wird, eine dauernde gesundheitliche Beeinträchtigung erwirbt oder mit einer solchen geboren wird, wenn also die Abhängigkeit von der menschlichen Natur seine Existenz bestimmt. Denn als Kranker oder Behinderter ist der Mensch weniger ein vernünftiges, sondern eher "ein bedürftiges Wesen, sofern er zur Sinnenwelt gehört". Er befindet sich in einer Ausnahmesituation, die zunächst als vorübergehender Zustand gedeutet wird. Die normative Vorgabe an den Einzelnen lautet, alles dafür zu tun, um mit Hilfe der eigenen Vernunft (und der Unterstützung des Arztes) die Krankheit zu überwinden. Der kranke Mensch soll sich aus der Sinnenwelt befreien, indem er sachlich-kühl von seinem körperlichen Leiden abstrahiert und sich - trotz Krankheit - von der verstandesmäßigen Einsicht leiten lässt. Nicht in der Krankheit, sondern indem er sich in ärztliche Behandlung begibt und dem medizinisch Notwendigen zustimmt, erweist sich der Mensch als Subjekt. Unter dieser Bedingung - so kann man aus der Aufklärungsphilosophie schlussfolgern - gilt auch der akut kranke Patient als grundsätzlich vernünftiges Wesen. Folglich wird ihm oder ihr das Recht des "informed consent" zuerkannt.

Anders dagegen verhält es sich mit geistig behinderten Menschen, deren Verstandeskräfte als dauerhaft schwach eingestuft werden. Auf Grund des aufklärungsphilosophischen Erbes haben sie erhebliche Schwierigkeiten, als Subjekte anerkannt zu werden. Das gleiche Problem haben psychisch kranke Menschen, deren Auffälligkeit dadurch definiert ist, dass sie ihre Vernunft zeitweilig oder ganz verloren haben. Vor allem die Selbstbestimmung der "Unvernünftigen" wird relativ schnell eingeschränkt und in Frage gestellt. Je nach Fallkonstellation kommt bei psychisch Kranken sogar Zwangsbehandlung in Betracht. Zwangsbehandlung stellt eigentlich einen schweren Eingriff in die Grundrechte des Einzelnen dar und bedarf rechtlicher Legitimation, wird jedoch - gemessen an den sonst üblichen Anforderungen an die aufgeklärte Einwilligung des Patienten - im Psychiatriebereich relativ häufig durchgeführt.

Zwar ist die gegenwärtige Praxis in Gesundheitsversorgung und Rehabilitation nicht ausschließlich bestimmt von der Polarität Zwangsbehandlung für Psychiatriepatienten einerseits und informierte Zustimmung für akut Kranke andererseits; jedoch zeigt sich an diesem Punkt, dass das Prinzip der individuellen Autonomie längst nicht für alle Menschen gilt. Vor allem psychisch kranke und geistig behinderte Menschen werden in ihrer Selbstbestimmung beschnitten, weil ihnen ein vernünftiger Wille nicht zuerkannt wird. Allerdings nicht nur ihnen! Generell stehen behinderte Menschen unter Verdacht, keinen oder nur einen eingeschränkten Vernunftwillen zu haben. Dass diese Vorannahme auch heutzutage gilt, lässt sich anhand von Behinderungsdefinitionen aufweisen. Beispielsweise wurde 1981 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) formuliert: "Behinderung, für welche Leistungsminderung und/oder Schädigung verursachende Faktoren sind, wird definiert als eine vorhandene Schwierigkeit, eine oder mehrere Tätigkeiten auszuüben, die in bezug auf das Alter der Person, ihr Geschlecht und ihre soziale Rolle im allgemeinen als wesentliche Grundkomponenten der täglichen Lebensführung gelten, wie etwa Sorge für sich selbst, soziale Beziehungen, wirtschaftliche Tätigkeit."

In dieser Begriffsbestimmung wird die "Sorge für sich selbst" als erste Grundkomponente des täglichen Lebens genannt, bei deren Verrichtung behinderte Menschen eingeschränkt sind. Für sich selbst sorgen können, das heißt, sein Leben selbstständig zu gestalten, unabhängig zu sein, eigene Entscheidungen zu treffen und nach ihnen zu handeln, kurz, das heißt Selbstbestimmung. Offensichtlich - so lässt sich aus obiger Definition schließen - wird in unserer Gesellschaft davon ausgegangen, dass behinderte Menschen nicht zur Selbstsorge fähig sind. Sie gelten als Objekte der Fürsorge und weniger als aktiv handelnde, vernünftige Subjekte. Denn schließlich - so lautet zumeist das Argument, bei dem allerdings Ursache und Wirkung miteinander verwechselt werden - leben sie häufig in personalen und strukturellen Abhängigkeiten, sind von professionellen Helfern umgeben und wohnen dauerhaft in institutionellen Zusammenhängen. Wie also könnten sie unter diesen Bedingungen autonomiefähig sein?

Tatsächlich resultiert aus dem auf die Aufklärungsphilosophie zurückgehenden Kerngedanken des Vernunftvermögens, welcher der individuellen Selbstbestimmung zugrunde liegt, eine fundamentale Grenzziehung. Chronisch kranken und behinderten Menschen wird unterstellt, dass sie der Welt der Sinne so stark verhaftet sind, dass sie einen vernünftigen Willen nicht oder nur schwach entwickeln können. Persönliche Freiheit wird ihnen eher verwehrt; in der Idee der Selbstbestimmung sind sie - eigentlich - nicht mitgedacht. Dennoch wurde Autonomie für behinderte Menschen möglich: Als am Ende des 20. Jahrhunderts die bis dato Ausgegrenzten begannen, ein autonomes Leben für sich zu reklamieren, forderten sie im Grunde das ein, was ihnen als Menschen vom Anspruch des bürgerlichen Zeitalters her zusteht; sie forderten, so wie alle anderen leben zu können, kurz, sie beanspruchten den Subjektstatus. Wieso aber wurde dieses Ansinnen zum Ansatz einer ganzen Bewegung? Und wie kam es, dass die Gesellschaft die Selbstbestimmung Behinderter anerkannte, nachdem sie sich zuvor jahrhundertelang geweigert hatte, behinderten Menschen grundlegende Bürgerrechte zuzugestehen?

IV. Selbstbestimmung als "verspätete Befreiung"

Um diese Fragen zu beantworten, ist ein historischer Exkurs notwendig, denn nur dieser lässt die gesellschaftlichen Bedingungen sichtbar werden, innerhalb deren die behindertenpolitische Autonomieforderung zu einer realistischen Möglichkeit werden konnte. Wendet man sich etwa dem europäischen Mittelalter zu, so wird man zu konstatieren haben, dass sicherlich auch zu jener Zeit körperliche Beeinträchtigung, Geistesschwäche und Verrücktheit ein Problem darstellten. Wahrscheinlich aber beinhaltete Behinderung für die auf Stabilität und Konformität bedachte Gesellschaft des Mittelalters eine andere Problematik als die, die wir heute kennen. Weniger eine Frage von Arbeits- und Leistungsfähigkeit, war sie eher ein Problem der sozialen Ordnung und von Sittlichkeit und Moral. Bis zum Beginn der Neuzeit wurden gesundheitlich beeinträchtigten Menschen soziale Positionen zugewiesen, die wohl auch von Geringschätzung, Demütigung und Isolation gekennzeichnet waren, die jedoch zugleich ihre spezifische Bedeutung hatten.

In der Renaissance, mit Herausbildung der modernen Identität veränderte sich auch die soziale Rolle der behinderten Menschen. Gemeinsam mit anderen Gruppen bevölkerten sie nun das Heer der Armen und Besitzlosen und gehörten zu den "Asozialen". Insbesondere "idiotische" und "verrückte" Menschen wurden mit der heraufziehenden Moderne zu fundamental Fremden, zu den "Anderen", die am Reich der Vernunft und damit der Freiheit nicht teilhatten. Im 17. Jahrhundert versuchte die absolutistische Staatsgewalt durch eine Politik der Einschließung, der entwurzelten Massen, die bettelnd und vagabundierend durch die Lande zogen, Herr zu werden. In ganz Europa wurden Zucht- und Arbeitshäuser eingerichtet, um diejenigen einzusperren, die als gefährlich und lasterhaft, mittellos und bedürftig, überflüssig und störend galten. Diese erste große Internierung war undifferenziert; sie umfasste die Ausschweifenden wie die von ihrer Familie Verstoßenen, die Verbrecher ebenso wie die Kranken und Gebrechlichen. Dem Gewahrsam lag keine Heilungsabsicht zugrunde; man bediente sich des äußeren Zwangs und der sittlichen Unterweisung. Die Insassen wurden zur Arbeit angehalten, jedoch weniger aus Rentabilitätsgründen, sondern zur Besserung der Moral.

Das 18. Jahrhundert markiert den Beginn des modernen Zeitalters im engeren Sinne. Die Aufklärungsphilosophie lieferte die Grundlage für eine neue moralische Gesinnung, die auf der Vorstellung des autonomen Subjekts gründete. Seither ist individuelle Selbstbestimmung prinzipiell möglich - und zwar eigentlich für alle Menschen. Allerdings erwies sich die Idee der Universalität in Verbindung mit dem Autonomiegedanken schnell als gefährlich für die herrschende soziale Ordnung. Aus der Furcht heraus, die bürgerliche Gesellschaft könnte als Ganzes außer Kontrolle geraten, wurden deshalb große Personengruppen, die durch ihren Mangel an Vernunft und Zivilisation definiert wurden, weiter ausgegrenzt. Ausgeschlossen wurden vor allem diejenigen, die wir heute als Behinderte bezeichnen. Mit der Masse der "Krüppel", "Idioten" und "Irren", mit denjenigen, denen der Ausgang aus der Unmündigkeit nicht möglich war, da sie diese nicht selbst verschuldet hatten, verfuhr die Moderne ganz und gar nicht liberal, sondern höchst autoritär. Im letzten Drittel des 18. und ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, zum gleichen Zeitpunkt, als die Idee der Autonomie allgemein verkündet wurde, kam es zur zweiten großen Einschließung. Nunmehr wurden die zuvor in den Zuchthäusern unterschiedslos eingesperrten Massen in spezielle Personengruppen unterschieden. Ein großer Teil von ihnen wurde in besonderen Anstalten erneut eingeschlossen, diesmal allerdings nicht nur zur Verwahrung, sondern auch zum Zwecke der Heilung, Erziehung und Besserung. Das "goldene Zeitalter" des Zuchthauses war vorbei, das Zeitalter des medizinischen und pädagogischen Anstaltswesens begann. Mit der Moderne veränderte sich also der gesellschaftliche Umgang mit den behinderten Menschen entscheidend. Einerseits schloss man sie weiter weg, andererseits fing man an, sie auf ihre Verstandeskräfte hin zu befragen, nach Schädigung, Bildsamkeit, Leistungs- und Kommunikationsfähigkeit in verschiedene Untergruppen zu differenzieren und medizinischen und pädagogischen Eingriffen zu unterziehen.

Diese neuen, modernen Strategien erwiesen sich als notwendig, weil die Arbeits- und Vertragsgesellschaft eine moderne Problematik der gesundheitlichen Beeinträchtigung hatte entstehen lassen. Sie warf nämlich das Problem auf, was mit denjenigen geschehen sollte, die nicht arbeitsfähig waren. Die Menschen mit körperlichen, psychischen und geistigen Beeinträchtigungen waren in ihrer großen Mehrheit unfähig, zu arbeiten oder zu dienen; sie konnten nicht in den freien Kreislauf des Tausches eintreten, in die Zirkulation von Waren und Menschen, so wie es die kapitalistischen Produktionsverhältnisse für alle vorsahen. Neben der Arbeit stellte der Vertrag das zweite zentrale Problem der bürgerlichen Gesellschaft dar. Grundlage von Handel, Markt und Verkehr war der Kontrakt, der zwischen gleichen und freien Subjekten geschlossen wurde. Aber nicht alle Bürger passten in den Vertragsrahmen. Als Unvernünftige waren vor allem geistesschwache und verrückte Menschen keine Rechtssubjekte; als Unverantwortliche konnten sie jedoch auch nicht bestraft werden. Kurz, sie waren "Brennpunkte der Unordnung" und mussten deshalb kontrolliert und diszipliniert werden. Gleichzeitig führte der humanistische Impuls der europäischen Aufklärung zu vielfältigen Bildungsbemühungen. Ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wurden Heime für behinderte Kinder errichtet und auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Unterrichtsmethoden entwickelt. Der Aufbau der Heilpädagogik wurde allerdings von der bürgerlichen Logik regiert. Zuerst wandte man sich den blinden und gehörlosen Kindern zu, da sie trotz ihrer Schädigung als vernunftbegabt galten und für eingliederungsfähig in den Arbeitsmarkt gehalten wurden; dagegen dauerte es bis zum 20. Jahrhundert, bis geistig behinderte Kinder als bildungsfähig anerkannt wurden.

Bis in die Gegenwart hinein wurde der gesellschaftliche Umgang mit behinderten Menschen vom "Asylmodell", dem Prinzip der Aussonderung, bestimmt. In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurde die Anstaltstechnologie zum Ansatzpunkt der eugenischen Auslese- und Ausmerzungsstrategien. In der nationalsozialistischen Rassenhygiene wurden behinderte Menschen nicht mehr "nur" verwaltet und weggeschlossen, sondern in großer Zahl selektiert, zwangssterilisiert und physisch vernichtet. Nach 1945, in der Phase des "Wirtschaftswunders", in welcher Konformität und Anpassung die zentralen Werte darstellten, kam es zur Rekonstruktion auch der Internierungspolitik. So, als sei der Massenmord an behinderten Menschen nicht geschehen, wurden die großen Anstalten wieder mit Insassen bevölkert. Ein ganzes Spektrum an speziellen Institutionen wurde aufgebaut, hinter deren Mauern behinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene erneut verwahrt und sonderbehandelt wurden. Von Betreuung, Fürsorge, Förderung war in jenen Jahren viel die Rede, von Selbstbestimmung und persönlicher Autonomie dagegen nicht. Erst mit der kulturellen Revolution von 1968, die die Forderung nach Individualität, Pluralität und Liberalität beinhaltete und Selbstverwirklichung zum zentralen Projekt erhob, kamen Psychiatrie, Behindertenpädagogik und Rehabilitationspolitik wieder in Bewegung. Der neue, erweiterte Individualismus machte auch Reformen im gesellschaftlichen Umgang mit gesundheitlich beeinträchtigten Menschen möglich. Die Anstaltsverwahrung der körperlich, geistig oder psychisch Abweichenden erwies sich als nicht mehr notwendig. Spezielle Einrichtungen in der Gemeinde wurden nun geschaffen: Wohnheime, Werkstätten und Freizeitangebote, die den besonderen Bedarfslagen der Behinderten entsprechen und zugleich ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen sollten.

Die Umorientierung in Behindertenhilfe und -politik in Richtung auf Integration, Normalisierung und Partizipation brachte insbesondere den Frauen und Männern mit körperlichen Beeinträchtigungen Vorteile. Vor allem ihnen gelang es, die neuen Paradigmen für sich zu mobilisieren. Mit Hilfe des Rehabilitationssystems, das während der Reformära der sozialliberalen Koalition zu Beginn der siebziger Jahre installiert wurde, erhielten sie Zugang zum Bildungssektor und zum Arbeitsmarkt. Damit bekamen sie Qualifikationen und finanzielle Ressourcen in die Hand, die es ihnen ermöglichten, für ein Leben außerhalb der Anstalt zu kämpfen. Es ist sicher kein Zufall, dass aus der Generation der "Rehabilitanten" diejenigen hervorgingen, die ab Ende der Siebziger die westdeutsche Behindertenbewegung initiierten und zu Beginn der achtziger Jahre Selbstbestimmung einforderten. Diesmal allerdings - und das ist sozusagen das historisch Neue! - verhielt sich die Gesellschaft nicht abweisend, sondern schenkte den behinderten Männer und Frauen tatsächlich Gehör. Offensichtlich war die Zeit für einen behindertenpolitischen Paradigmenwechsel reif.

V. Selbstbestimmung als "neoliberale Pflicht"

Tatsächlich ist Selbstbestimmung als Leitlinie viel besser geeignet als die Aussonderungsstrategie, um die spätmoderne Problematik der Behinderung in den Griff zu bekommen. Zwar geht es auch in der fortgeschrittenen Moderne weiterhin um die Integration oder Ausgrenzung von Bevölkerungsgruppen je nach Arbeits- und Vertragsfähigkeit. Zugleich aber steht zu Beginn des 21. Jahrhunderts die neoliberale Gesellschaft und mit ihr die Behindertenpolitik vor einer neuen Herausforderung. Nunmehr gilt es, nicht nur soziale Ordnung zu gewährleisten, sondern auch Dynamik zu ermöglichen. Die globalisierte Ökonomie macht es notwendig, die Märkte miteinander zu vernetzen, die Zirkulation von Waren und Arbeitskräften zu beschleunigen und das Verhalten der Menschen zu flexibilisieren. In der gegenwärtigen Zeit still zu stehen, an einem Ort zu verharren, in einem Wort: "behindert" zu sein, kann den sozialen Tod bedeuten. Vor diesem Hintergrund verändert sich auch die Zielrichtung von Behindertenhilfe und -politik. Nun geht es darum, auch bei der Personengruppe der Behinderten Bewegung herzustellen, sie dazu zu bringen, mit zu eilen im Strom der Zeit, sich einzureihen auf den Autobahnen und in den Kommunikationsnetzen mit zu surfen. In der globalisierten Gesellschaft sind es nicht mehr nur Arbeits- und Vertragsfähigkeit, die (wieder)hergestellt werden müssen, sondern gebraucht werden nun auch individuelle Wandlungs- und Veränderungsbereitschaft.

Und genau für das neue Erfordernis der beschleunigten Bewegung wird die Selbstbestimmung der Individuen benötigt. Während eine stabile soziale Ordnung durch äußere Platzierung hergestellt werden kann, erfordert die allgemeine Dynamisierung der Lebens- und Produktionsverhältnisse einen eigenen Antrieb, sich in Gang zu bringen und mit zu laufen, zu rollen und zu fahren. Konnten zu früheren Zeiten die Menschen per Zwang und Disziplin auf eine bestimmte Position gezwungen und autoritär dazu angehalten werden, in einer bestimmten sozialen Stellung zu verharren, erweisen sich heutzutage Zwangsmittel als kontraproduktiv, wenn es darum geht, Dynamik herzustellen, ein schnelles Fortschreiten zu erzeugen. Hierfür wird ein Impuls benötigt, der von dem Subjekt selbst ausgeht. Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung, das ist der Antrieb, den die individualisierte Moderne erzeugen muss, will sie den beschleunigten sozialen Wandel gewährleisten.

Erst der Neoliberalismus, der sich zum Ende des 20. Jahrhunderts entfaltet hat, schafft somit die Voraussetzungen für die Selbstbestimmung auch der behinderten Menschen. Gleichzeitig muss man konstatieren: In der fortgeschrittenen Moderne darf man nicht nur selbstbestimmt leben; man muss es sogar. Sie verlangt den gesunden, normalen, "flexiblen Menschen", der sich hektisch den Weg durch die Masse bahnt, der als "Ich-AG" das eigene Leben profitabel gestaltet und die Zwänge des Marktes bereitwillig akzeptiert. Schon längst geht es nicht mehr nur um Emanzipation, sondern auch darum, sich aus traditionalen Bindungen zu lösen, die eigene Biographie selbst zu "basteln" und Selbstmanagement an den Tag zu legen. Heutzutage verheißt Autonomie nicht mehr nur Befreiung, sondern ist auch zur sozialen Verpflichtung geworden - und zwar nicht nur für nichtbehinderte, sondern auch für behinderte Menschen.

Der behindertenpolitische Kampf um Autonomie kann einmal - durchaus im positiven Sinne - als eine Geschichte der allmählichen Anerkennung gedeutet werden. Für die Forderung nach Selbstbestimmung bietet offensichtlich die neoliberale Moderne den entscheidenden Raum. Sie ermöglicht auch denjenigen, die bislang vor den Toren der bürgerlichen Gesellschaft standen, die Chance zur Individualisierung, die Freiheit des bürgerlichen Subjekts. Für behinderte Menschen beinhaltet die Verwirklichung von Selbstbestimmung tatsächlich eine nachholende Befreiung. Als Nachzügler unter den traditionell aus der Gesellschaft Ausgegrenzten (neben den Arbeitern, Frauen und ethnischen Minderheiten) können nun endlich auch sie elementare Bürgerrechte für sich beanspruchen. Gleichzeitig aber müssen sie sich vorsehen angesichts einer gesellschaftlichen Situation, die von fortgeschrittener Individualisierung geprägt ist: Die unkritische Propagierung des Autonomiekonzepts kann in der aktuellen Situation leicht dazu führen, sich in den Fallstricken des Neoliberalismus zu verheddern. Ganz allein für sich verantwortlich zu sein, ohne Anspruch auf Hilfe und Unterstützung - das ist sicherlich nicht die Freiheit, welche die Behindertenbewegung ursprünglich im Sinn hatte, als sie sich die Autonomieforderung auf die Fahnen schrieb.

VI. Selbstbestimmung im Alltag - Erfahrungen behinderter Frauen und Männer

Dass behinderte Menschen mit ihrem Anspruch auf Autonomie nicht die grenzenlose Individualisierung und Atomisierung meinen, sondern ein relationales und kontextuelles Konzept von Selbstbestimmung im Sinn haben, zeigt sich auf der empirischen Ebene. Beispielsweise ließen sich in qualitativ-explorativen Einzelfallstudien, die zum Ende der neunziger Jahre mit körper- und sinnesbeeinträchtigten Menschen (drei Männern und zwei Frauen) durchgeführt wurden, differenzierte Selbstbestimmungskonzepte auffinden.

Befragt nach Alltagstheorien und lebensweltlichen Erfahrungen bei der Verwirklichung der eigenen Autonomie präsentierten die Interviewpersonen zum einen gängige Vorstellungen von Autonomie, zum anderen aber auch interessante neue Facetten. So konnte zweimal ein Konzept des "Selbstmanagements" herauskristallisiert werden, und zwar sicherlich nicht ohne Grund bei den beiden männlichen Interviewpersonen, die in großem Umfang von persönlicher Assistenz abhängig waren. Bei einer dritten männlichen Interviewperson war der Ansatz der "Selbstverwirklichung" stärker ausgeprägt. Von den interviewten Frauen entwickelte die Gesprächspartnerin, die mit einer chronischen Krankheit lebte, ein Konzept der sozialverantwortlichen Autonomie, das als Konstrukt der "Selbstverpflichtung" charakterisiert werden konnte. Das Autonomieverständnis der zweiten, stark sehbehinderten Interviewpartnerin ließ sich als Souveränitätskonstruktion kennzeichnen. Sehr deutlich wurde auf der empirischen Ebene, dass Selbstbestimmung für behinderte Menschen vor allem einen Befreiungsprozess beinhaltet. Insbesondere äußere Unabhängigkeit, beispielsweise von Heimstrukturen oder paternalistischen Fürsorgebestrebungen, thematisierten die Interviewpersonen, wenn sie nach den Gründen ihrer Autonomiewünsche befragt wurden.

Auffällig war des Weiteren, dass die Gesprächspartner und -partnerinnen den äußeren Rahmenbedingungen einen hohen Stellenwert zuschrieben. Die behindertengerechte Wohnung, ein ausreichendes Angebot an persönlicher Assistenz, technische Hilfen und der behindertengerechte Personennahverkehr galten als wichtige Voraussetzungen für die individuelle Autonomie. Außerdem wurden den finanziellen Ressourcen und einer eigenen Erwerbstätigkeit große Bedeutung eingeräumt. Den sozialen Netzwerken wurde ebenfalls ein großes Gewicht zuerkannt. Auch die Kommunikations- und Dialogbereitschaft Nichtbehinderter und die allgemeine soziale Akzeptanz von behinderten Menschen wurden in diesem Zusammenhang erwähnt.

Grenzen von Selbstbestimmung wurden von den interviewten Frauen und Männern ebenfalls häufig thematisiert. Mehrfach fand sich der Hinweis auf die Bedürfnisse anderer Menschen, die als notwendige Einschränkung der persönlichen Autonomie von allen Interviewpersonen bereitwillig akzeptiert wurden. Als begrenzend im negativen Sinne wurden traditionelle soziale Rollen und Normen sowie finanzielle Restriktionen und sozialrechtliche Bestimmungen erwähnt. Unzureichende Assistenzstrukturen waren ebenfalls ein Bereich, der in diesem Zusammenhang thematisiert wurde. Außerdem wurden sozialisatorische Einflüsse genannt sowie die eigene körperliche Beeinträchtigung, die das selbstbestimmte Leben manches Mal erschwert.

Auch die Universalitätsproblematik kam in den Einzelfallstudien zur Sprache. Alle Interviewpersonen, die sich hierzu äußerten, wollten schwerstbehinderte und geistig behinderte Menschen in das Selbstbestimmungskonzept einbegriffen wissen. Ein Gesprächspartner begründete das Autonomievermögen geistig behinderter Menschen mit deren besonders ausgeprägten emotionalen Fähigkeiten. Eine gewisse Widersprüchlichkeit der Interviewaussagen ließ sich insofern feststellen, als die interviewten Personen gleichzeitig thematisierten, dass der Autonomiegedanke hohe Ansprüche an den Einzelnen stellt. Um individuelle Selbstbestimmung verwirklichen zu können, werden aus der Sicht der Betroffenen insbesondere Zielorientierung, Kommunikations- und Konfliktfähigkeit, Durchsetzungs- und Organisationsvermögen benötigt. Die Alltagstheorien ließen an diesem Punkt durchaus eine Paradoxie erkennen. Vom Anspruch her soll den Interviewpersonen zufolge der Selbstbestimmungsgedanke zwar für alle Menschen unabhängig von Schädigung, Äußerungsvermögen und Handlungsfähigkeit gelten. Faktisch jedoch, so gestanden die Interviewpartner und -partnerinnen ein, handelt es sich um ein Konzept, das komplexe Kompetenzen erfordert. Sowohl in den Anforderungen an den Einzelnen als auch im Subjektbegriff zeigte sich in den Interviews die Wirkmächtigkeit eines abstrakten Vernunftbegriffs, der Ebenen wie Logik und Problemlösung, Organisation und Planung sowie Aspekte von Authentizität und Normativität beinhaltet.

VII. Perspektivender Disability Studies

Selbstbestimmung im Rahmen der Disability Studies zu thematisieren beinhaltet, einen neuen Blickwinkel einzunehmen. Nunmehr geht es nicht darum, das Konzept des rationalen, autonomen Subjekts als quasi naturgegeben vorauszusetzen und von diesem Ansatz aus zu untersuchen, wieviel Selbstbestimmung (vielleicht) denjenigen zugestanden werden kann, die von der Gesellschaft eigentlich gar nicht als autonomiefähig angesehen werden. Vielmehr gilt es, sich dem Subjektstatus zuzuwenden und ihn zu dekonstruieren als historische und gesellschaftspolitische Kategorie, dessen Funktion es ist, soziale Gruppen wie "die Behinderten" (und vor allem: "wir Normalen") zu konstituieren. Indem die Mehrheitsgesellschaft behinderten Menschen einen Mangel an Vernunft zuschreibt, versichert sie sich im Gegenzug ihrer eigenen Vernünftigkeit und legitimiert auf diese Weise die Teilhabe an Freiheitsrechten (bzw. die Exklusion von ihnen). Selbstbestimmung ist offensichtlich eine Dimension der sozialen Kategorisierung und Differenzierung und somit auch eine Machtstrategie, deren unkritische Übernahme "Creaming"-Prozesse bewirken kann: die Etablierung einer neuen Behindertenhierarchie, deren Rangordnung nach der Autonomiefähigkeit strukturiert ist. In der künftigen Auseinandersetzung muss es deshalb darum gehen, nicht nur die Chancen des Autonomiegedankens für behinderte Menschen herauszuarbeiten, sondern auch auf seine Gefahren aufmerksam zu machen. Diese kritische Reflexion in den Diskurs einzubringen ist Aufgabe der Disability Studies.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Paragraph 1 Sozialgesetzbuch (SGB), Neuntes Buch (IX): Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen; vgl. in diesem Zusammenhang auch Paragraph 9 Absatz 3: "Leistungen, Dienste und Einrichtungen lassen den Leistungsberechtigten möglichst viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung ihrer Lebensumstände und fördern ihre Selbstbestimmung."

  2. Vgl. Christian Bradl/Ingmar Steinhart (Hrsg.), Mehr Selbstbestimmung durch Enthospitalisierung, Bonn 1996; Hans-Peter Färber/Wolfgang Lipps/Thomas Seyfarth (Hrsg.), Wege zum selbstbestimmten Leben trotz Behinderung, Tübingen 2000.

  3. Vgl. Anne Waldschmidt, Selbstbestimmung als Konstruktion. Alltagstheorien behinderter Frauen und Männer, Opladen 1999, S. 10.

  4. Gary Albrecht/Katherine Seelman/Michael Bury (Hrsg.), Handbook of Disability Studies, Thousand Oaks 2001.

  5. Vgl. Anja Tervooren, Kritik an der Normalität - Disability Studies in Deutschland, in: Das Parlament vom 22./29. Juli 2002, S. 5.

  6. Vgl. Martin Seidler, Disability Studies - Wir forschen selbst!, in: Bioskop (Newsletter Behindertenpolitik), 5 (2002) 18, S. 3 - 5.

  7. Vgl. Anne Waldschmidt/Werner Schneider, Soziologie der Behinderung - Aktueller Stand und Perspektiven einer speziellen Soziologie, in: Deutsche Gesellschaft für Soziologie (Hrsg.), Entstaatlichung und Soziale Sicherheit. 31. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Leipzig 2002. Kongressband: Sektionen und Ad-hoc-Gruppen (i.E.).

  8. Vgl. Ottmar Miles-Paul, "Wir sind nicht mehr aufzuhalten". Behinderte auf dem Weg zur Selbstbestimmung, München 1992.

  9. Vgl. Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e. V. (Hrsg.), Selbstbestimmung. Kongressdokumentation, Marburg 1996.

  10. Vgl. People First, Wie man eine People-First-Gruppe aufbaut und unterstützt, in: Geistige Behinderung, 35 (1995) 1, S. 1 - 12 (Praxisteil).

  11. A. Waldschmidt (Anm. 3).

  12. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg 1993; Otfried Höffe, Immanuel Kant, München 1996(4).

  13. I. Kant, ebd., Abs. 108, S. 72.

  14. Vgl. Horst Schüler-Springorum, Stichwort "Zwangsbehandlung", in: Albin Eser/Markus von Lutterotti/Paul Sporken (Hrsg.), Lexikon Medizin, Ethik, Recht, Freiburg 1989, S. 1241 - 1250.

  15. Zit. in: Christian Lindmeier, Behinderung - Phänomen oder Faktum?, Bad Heilbrunn 1993, S. 195 (Hervorhebung A. W.).

  16. Vgl. A. Waldschmidt (Anm. 3), S. 28ff., sowie Robert Castel, Die psychiatrische Ordnung. Das goldene Zeitalter des Irrenwesens, Frankfurt/M. 1983; Klaus Dörner, Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie, Hamburg 1995(3); Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/M. 1978(3).

  17. Vgl. R. Castel, ebd.

  18. Ebd., S. 22.

  19. Vgl. Andreas Möckel, Geschichte der Heilpädagogik, Stuttgart 1988.

  20. R. Castel (Anm. 16).

  21. Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998.

  22. Ronald Hitzler/Anne Honer, Bastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen der Individualisierung, in: Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.), Riskante Freiheiten, Frankfurt/M. 1994, S. 307 - 315.

  23. Vgl. A. Waldschmidt (Anm. 3), S. 83ff., zusammenfassend S. 223ff.

  24. Vgl. Erving Goffman, Stigma, Frankfurt/M. 1996(12), S. 13.

Dr. rer. pol., geb. 1958; Professorin für Soziologie der Behinderung und Sozialpolitik an der Universität zu Köln.
Anschrift: Universität zu Köln, Soziologie in der Heilpädagogik, Sozialpolitik und Sozialmanagement, Frangenheimstr. 4, 50931 Köln. E-Mail: E-Mail Link: anne.waldschmidt@uni-koeln.de

Veröffentlichung u.a.: Diskursives Ereignis "Selbstbestimmung": Behindertenpädagogische und bioethische Konstruktionen im Vergleich, in: Markus Dederich (Hrsg.), Behindertenpädagogik und Bioethik, Bad Heilbrunn 2003.