Der Höhepunkt der sogenannten europäischen Flüchtlingskrise lag ohne Zweifel im Jahr 2015, als mehrere Hunderttausend Flüchtlinge vor allem aus Syrien, dem Irak und Afghanistan nach Europa kamen. Seitdem richtet sich der Blick in der deutschen und europäischen Migrationsdebatte stark auf den afrikanischen Kontinent. Zwar ist die Gesamtzahl der Menschen, die die Europäische Union als irreguläre Migrantinnen und Migranten auf dem Seeweg erreichen, in den vergangenen drei Jahren stark zurückgegangen. Aber der Anteil der Ankommenden, die aus den Staaten südlich der Sahara stammen, ist seit 2015 gewachsen.
Bei der medialen und politischen Debatte um die Frage, wie denn die Herausforderung der irregulären Migration in Deutschland und Europa zu bewältigen sei, hat sich die Forderung nach einer "Bekämpfung der Fluchtursachen" parteiübergreifend etabliert. Auch wenn die Debatte um Fluchtursachen und deren Bekämpfung – gerade auch in Bezug auf Subsahara-Afrika – sicherlich noch am Anfang steht und vielfach kaum zwischen Flucht und irregulärer Migration unterschieden wird, so kommt der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) in entsprechenden Überlegungen eine Schlüsselrolle zu. Der ehemalige Ministerialdirektor im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), Michael Bohnet, sprach in diesem Zusammenhang gar von der "Stunde der Entwicklungspolitik".
Die angedachte Wirkungslogik besteht darin, Bleibeperspektiven zu eröffnen, die zum einen zur Schaffung menschenwürdiger Umstände beitragen und zum anderen Menschen davon abhalten sollen, die gefährliche Reise durch die Sahara beziehungsweise über das Mittelmeer überhaupt anzutreten. Dabei spielt auch der demografische Faktor eine wichtige Rolle: Die Bevölkerung in einigen afrikanischen Ländern wächst so stark, dass 2030 wahrscheinlich mehr als zwei Milliarden Menschen in Afrika leben werden – davon über 50 Prozent unter 18 Jahren. Diese jungen Menschen brauchen ein Auskommen, dass ihnen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. So hat sich der Fokus deutscher Afrikapolitik auf Beschäftigungs- und Privatsektorförderung verschoben. Die Idee der "Fluchtursachenbekämpfung" hat außen- und entwicklungspolitische Initiativen der jüngsten Zeit wie den "Marshallplan mit Afrika" des BMZ maßgeblich beeinflusst.
Geht die Idee, mit den Mitteln der EZ Migration zu reduzieren oder zu verhindern, auf? Damit verbunden ist die Frage, ob ein Großteil der afrikanischen Bevölkerung tatsächlich auf die nächstbeste Gelegenheit wartet, die Flucht in Richtung Europa anzutreten, wie manche Medien bisweilen suggerieren? Ist das verbreitete Bild Afrikas als "Katastrophenkontinent" gerechtfertigt? Welche Erkenntnisse aus der Entwicklungs- und Migrationsforschung lassen sich zu diesen Fragen ableiten?
Völkerwanderung nach Europa?
Auch wenn das Narrativ einer drohenden oder bereits begonnenen "Völkerwanderung" vom afrikanischen Kontinent in Richtung Europa einer empirischen Grundlage entbehrt, fällt die öffentliche Wahrnehmung von Migrationsprozessen seit einigen Jahren vorwiegend negativ aus. Dies ist nicht zuletzt bedingt durch den starken Anstieg von Flüchtlings- und Asylantragszahlen im Jahr 2015 in Deutschland, Europa und anderen westlichen Industrieländern sowie durch die Zunahme der irregulären Migration aus den Staaten südlich der Sahara. Rechtspopulistische und migrations- beziehungsweise migrantenfeindliche Parteien sind in ganz Europa auf dem Vormarsch. Auch das "Brexit"-Votum im Vereinigten Königreich sowie der Erfolg Donald Trumps bei der US-Präsidentschaftswahl 2016 waren von Migrationsfragen beeinflusst. So ist selbst in eher linksliberalen Medien von der Gefahr einer afrikanischen Völkerwanderung die Rede.
In diesem Zusammenhang lässt sich beobachten, dass sich einerseits die Wahrnehmung der afrikanischen Migration gewandelt hat und von einer weiter fortschreitenden "Versicherheitlichung" geprägt ist. Auf politisch-programmatischer Ebene manifestiert sich diese Versicherheitlichung beispielsweise in EU-Programmen, die auf Migrationskontrolle und Grenzsicherung fokussieren, etwa in verschiedenen Migrationspartnerschaften oder im Khartoum- und im Rabat-Prozess, zwei Dialogforen zwischen europäischen und afrikanischen Staaten zur Eindämmung der irregulären Migration. Andererseits haben die Begrifflichkeiten "Migration" und "Migrant" im deutschen Alltagssprachgebrauch eine zunehmend negative Konnotation entwickelt, zwischen Flucht und Migration wird dabei häufig kaum unterschieden.
Der Großteil der afrikanischen Migrationsbewegungen ist innerafrikanisch: Etwa zwei Drittel der internationalen Migrantinnen und Migranten Afrikas leben in einem anderen afrikanischen Land. Hinzu kommt, dass in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten auch die afrikanische Zuwanderung nach Nordamerika oder in die Staaten am Persischen Golf stark zugenommen hat. Die innerafrikanischen Migrationsprozesse sind dabei sehr vielfältig und umfassen neben traditioneller saisonaler Migration – etwa in die Zentren kommerzieller Landwirtschaft – zum Beispiel auch Bildungsmigration.
Auch Fluchtbewegungen von Afrikanerinnen und Afrikanern finden in erster Linie innerhalb des afrikanischen Kontinents statt: Von den weltweit sechs größten Herkunftsländern von Flüchtlingen unter dem Mandat des UN-Flüchtlingskommissars sind vier in Subsahara-Afrika. Namentlich sind dies der Südsudan, Somalia, Sudan und die Demokratische Republik Kongo. Der Großteil der etwa 1,1 Millionen somalischen Flüchtlinge findet Schutz in Kenia und Äthiopien. Auch unter den zehn Ländern mit den meisten Binnenflüchtlingen weltweit finden sich mit der Demokratischen Republik Kongo, dem Sudan, Nigeria und dem Südsudan und insgesamt etwa 8,5 Millionen Menschen vier afrikanische Länder.
Katastrophenkontinent?
Neben dem Bild der Völkerwanderung wird in der Fluchtursachendebatte oft auch das Bild von Afrika als "Katastrophenkontinent" bemüht. Aber Afrika ist nicht gleich Afrika: Ungefähr 1,3 Milliarden Menschen leben in 54 sehr unterschiedlichen Ländern. Das Spektrum reicht von Ländern mit konstantem Wirtschaftswachstum und besserer Lebensqualität (zum Beispiel Botswana und Ghana) über Länder, deren Bevölkerung trotz des Reichtums an natürlichen Ressourcen unter Armut leidet (zum Beispiel Mosambik und Nigeria), bis zu fragilen Staaten, in denen kriegsähnliche Zustände herrschen (zum Beispiel die Demokratische Republik Kongo und Südsudan).
Gewaltkonflikte und Kriege sind zwar eine zentrale Ursache für Flucht innerhalb Afrikas, jedoch sind diese auf Subregionen beschränkt, insbesondere auf das Horn von Afrika und Zentralafrika. Ein Viertel der weltweiten Gewaltkonflikte trägt sich in afrikanischen Gesellschaften zu – das ist weniger als in Asien –, wobei die Anzahl der Kriege in den vergangenen Jahren zurückgegangen ist. Gleichzeitig steigt die Zahl lokaler Konflikte mit niedriger Gewaltintensität an. Sie äußern sich in Form von Protesten, Aufständen und Vandalismus. Motiviert sind diese niedrigschwelligen sozialen Konflikte oft durch wirtschaftliche und politische Exklusion. Gerade in bevölkerungsreichen Ländern mit einem guten Wirtschaftswachstum äußert sich die Unzufriedenheit der Bevölkerung an exklusiver Wirtschaftspolitik und mangelnden staatlichen Dienstleistungen vermehrt über offene und manifeste Konflikte, zum Beispiel gibt es Aufstände gegen Infrastrukturprojekte von Regierungen oder gegen die Wirtschaftsaktivitäten von internationalen Unternehmen, die Rohstoffe im Land abbauen, ohne die Bevölkerung an den Gewinnen zu beteiligen. Beide Phänomene – Gewaltkonflikte und soziale Konflikte – verweisen auf exklusive Politik und fragile Staatlichkeit.
Auch bei der politischen Entwicklung zeigt sich ein gemischtes Bild: Voraussetzungen für breite politische Teilhabe sind in 22 afrikanischen Staaten (41 Prozent) gegeben, während in 27 Staaten (50 Prozent) nur ein geringer politischer Wettbewerb und eingeschränkte bürgerliche Freiheiten vorherrschen. Sechs Staaten (11 Prozent) haben geschlossene politische und gesellschaftliche Systeme. Einige Autokratien haben in den vergangenen Jahren beachtliche Erfolge in der menschlichen Entwicklung verzeichnet und konnten ihr Wirtschaftswachstum entwicklungsorientiert einsetzen (zum Beispiel durch die Reduzierung von Armut oder besseren Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen). Jedoch besteht hier die Gefahr, dass exklusive Politik dauerhaft zu einer Destabilisierung der Gesellschaften führt, was Migration begünstigen kann. Entscheidend für die Lebensqualität der Menschen ist auch die Funktionsfähigkeit afrikanischer Staaten, die öffentliche Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung oder Bildung bereitstellen und die Sicherheit ihrer Bürgerinnen und Bürger gewährleisten sollen. Mit 41 Staaten sind zwar rund drei Viertel der afrikanischen Länder relativ stabil, aber häufig haben auch sie nur schwache staatliche Kapazitäten und damit Probleme bei der effektiven Umsetzung von Entwicklungspolitik.
Wirtschaftlich zählt die Hälfte der afrikanischen Staaten zu den Ländern mit dem niedrigsten Einkommen weltweit (low income countries). Jedoch ist die extreme Armut wie in anderen Erdteilen im vergangenen Vierteljahrhundert stark zurückgegangen. Lebten hier 1990 nach Angaben der Vereinten Nationen noch 57 Prozent der Bevölkerung von weniger als 1,25 US-Dollar am Tag, waren es 2015 "nur" noch 41 Prozent. Auch wenn dies immer noch ein hoher Anteil ist, so hat sich doch die Lebenssituation von vielen Millionen Menschen stark gebessert. Im gleichen Zeitraum ist auch der Anteil unterernährter Menschen von einem Drittel auf unter ein Viertel der Gesamtpopulation gesunken, und das mittlere Wirtschaftswachstum in Afrika südlich der Sahara lag immerhin bei etwa 3,5 Prozent. Ähnlich positive Entwicklungen sind auch für den Gesundheits- oder den Bildungsbereich zu verzeichnen. Gleichzeitig steigen in einigen Ländern die sozialen Ungleichheiten stark an.
Mehr Entwicklung – mehr Migration
Derzeit gelten etwa 68,5 Millionen Menschen als Flüchtlinge und Binnenvertriebene, laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk ist dies ein historischer Höchststand. Die Hauptursache für Flucht im völkerrechtlichen Sinne sind bewaffnete Konflikte. Sie haben in diesem Jahrzehnt zu einer massiven Steigerung der Flüchtlingszahlen geführt. Die Debatte um Fluchtursachen dreht sich allerdings bei Weitem nicht nur um Kriegsflüchtlinge, sondern auch um die aus europäischer Sicht "irreguläre Migration" zwischen Afrika und Europa. Bei dieser stammt ein Großteil der Migrantinnen und Migranten nicht aus von Kriegen betroffenen Ländern. Wie der Begriff der "gemischten Wanderungen" andeutet, vermischen sich hier oftmals Fluchtgründe wie Konflikte, Repression, schwache staatliche Institutionen oder Terror mit klassischen Migrationsmotiven wie der Suche nach besseren wirtschaftlichen Perspektiven.
Um die Frage zu beantworten, ob und wie Entwicklungspolitik Fluchtursachen bekämpfen beziehungsweise Migration reduzieren kann, ist es daher wichtig, sich der genannten Ursachenvielfalt bewusst zu sein. Dabei wird deutlich, dass aktuelle Schwerpunkte der deutschen Entwicklungspolitik in Afrika (etwa Förderung des Privatsektors, der beruflichen Bildung und lokaler Wertschöpfung) häufig nicht den Hauptursachen von Flucht und Migration – bewaffneten Konflikten – entgegenwirken können. Zudem erfordert die Reduzierung von Gewaltkonflikten oder Menschenrechtsverletzungen eine langfristige Perspektive, die sich im Erfolgsfall nicht unmittelbar in veränderten Migrationsentscheidungen ausdrücken muss.
Konzentriert man sich nur auf diejenigen, die ihr Herkunftsland zur Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation verlassen, wird eine nähere Betrachtung des Zusammenhangs zwischen sozioökonomischer Entwicklung und menschlicher Mobilität notwendig. Die Migrationsforschung kommt zu dem eindeutigen Ergebnis, dass dieser Zusammenhang grundsätzlich ein positiver ist. Mit anderen Worten: Mehr Entwicklung führt nicht etwa bei weniger, sondern bei mehr Menschen zum Wunsch nach Migration – beispielsweise zur Verbesserung ihrer beruflichen oder Bildungsqualifikation.
So wurde für verschiedene Zeiträume und unterschiedliche geografische Kontexte – inklusive Subsahara-Afrika – nachgewiesen, dass ein steigendes Pro-Kopf-Einkommen mit anwachsenden Auswanderungsraten einhergeht. Internationale Migration nimmt also häufig dann zu, wenn Länder sich, gemäß der Weltbank-Klassifizierung, vom Status eines Low-income-Landes in Richtung eines Middle-income-Landes entwickeln. Erst wenn der Status eines Upper-middle-income-Landes erreicht wird, geht die internationale Migration für gewöhnlich wieder zurück. Als Bezeichnung für diesen Zusammenhang hat sich in den 1990er Jahren der Begriff migration hump etabliert.
Dieser lässt sich nicht nur dadurch erklären, dass sich mehr Menschen die oft erheblichen migrationsbezogenen Kosten überhaupt leisten können, wenn die Durchschnittslöhne ansteigen. Auch andere Faktoren spielen eine Rolle – unter anderem die demografische Entwicklung: Gerade in Entwicklungsländern, die sich in einer Phase starken wirtschaftlichen Wachstums befinden, führen zunächst hoch bleibende Geburtenraten bei einem gleichzeitigen Rückgang der Kindersterblichkeit dazu, dass ein Jugendüberhang und steigende Jugendarbeitslosigkeit entstehen, was die Migrationsbereitschaft junger Menschen erhöht. Zu den weiteren Faktoren, die für Wachstumssituationen typisch sind und die Auswanderungsneigung maßgeblich erhöhen können, zählen: größer werdende Einkommensungleichheiten, Kreditrestriktionen, der relative Bedeutungsverlust einzelner Wirtschaftssektoren (vor allem des Agrarsektors), größer werdende Diasporagemeinden in den Zuwanderungsländern, die potenziellen Migrantinnen und Migranten den Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt erleichtern, oder auch der Wegfall von direkten (zum Beispiel Visabestimmungen) und indirekten Migrationshürden (zum Beispiel Anerkennung von Bildungsabschlüssen), die im Regelfall für Menschen aus ärmeren Entwicklungsländern höher sind als für andere.
Mehr Migration – mehr Entwicklung
Trotz einer allgemein eher negativen Wahrnehmung von Migration sollte nicht übersehen werden, dass Migration auch einen positiven Einfluss auf Entwicklungsprozesse haben kann. Vor allem den Geldsendungen von Migrantinnen und Migranten an ihre Familien, den sogenannten Rücküberweisungen (remittances), kommt eine besondere Bedeutung zu. Die Gesamtheit der Gelder, die auf diese Weise in Entwicklungs- und Schwellenländer geschickt werden, ist Angaben der Weltbank zufolge bereits seit Mitte der 1990er Jahre höher als alle Entwicklungshilfe (Official Development Aid, ODA) zusammengenommen. 2016 belief sich die Gesamtsumme der Rücküberweisungen auf etwa 429 Milliarden US-Dollar, was mehr als das Dreifache der Gesamtheit aller ODA-Leistungen ist. In die Länder Subsahara-Afrikas wurden insgesamt über 34 Milliarden US-Dollar geschickt. Die Rücküberweisungen werden dabei auch für Gesundheits- und Bildungsausgaben oder Investitionen genutzt. Auch wenn es schwierig ist, einen direkten Effekt von Rücküberweisungen auf nationales Wirtschaftswachstum zu messen, und auch negative Entwicklungen durch die Geldsendungen hervorgerufen werden können (etwa steigende soziale Ungleichheit), so ist die ökonomische Bedeutung dieser finanziellen Transfers für Entwicklungs- und Schwellenländer doch enorm.
Nicht umsonst hat sich die Beurteilung von Migrationsprozessen in der Entwicklungspolitik seit den 1990er Jahren zum Positiven hin gewandelt. Durchführungsorganisationen der EZ haben innerhalb der vergangenen 20 Jahre verschiedene Aktionsfelder unter dem Label "Migration und Entwicklung" etabliert, in denen neben Rücküberweisungen auch andere entwicklungsfördernde Aspekte internationaler Migration thematisiert und bearbeitet werden – etwa durch die Einbindung von Diaspora-Organisationen in den entwicklungspolitischen Dialog. Die Zielsetzung ist hier vor allem, die positiven Aspekte von Migration zu steigern, und zwar sowohl für die Migrantinnen und Migranten, ihre Familien und das Herkunftsland als auch für das Zuzugsland.
Die entwicklungspolitische Gestaltung von Migration konzentriert sich bis jetzt allerdings auf Süd-Nord-Migration. Migrationsbewegungen, die innerhalb des globalen Südens stattfinden und (nicht nur) von afrikanischen Regionalorganisationen im Rahmen von Freizügigkeitsabkommen gefördert werden, finden in der EZ bisher nur wenig Berücksichtigung. Vielmehr besteht die Gefahr, dass neuere, primär auf Migrationskontrolle und Grenzsicherung abzielende Programme innerafrikanische Bemühungen um den Abbau von Migrationsbarrieren sowie eigene entwicklungspolitische Ziele und Prinzipien konterkarieren. So könnten bestimmte Kooperationsansätze der EU zur Reduzierung illegaler Migration zur Konsolidierung autoritärer Regime beitragen – und damit langfristig die Wahrscheinlichkeit für Flucht und Verzweiflungsmigration sogar begünstigen.
Folgerungen für die Entwicklungspolitik
Entwicklung und Migration bedingen einander. Deshalb sollte Entwicklungspolitik Migration in einem noch größeren Maße als bisher berücksichtigen und mitgestalten. Dafür sollten komplementäre Ansätze verfolgt werden, die zur Verbesserung der sozialen und ökonomischen Perspektiven in stabilen Kontexten beitragen und Migration aktiv mitgestalten. Das bedeutet auch, dass die Reduktion von unfreiwilligen Migrationsbewegungen – Flucht und andere Formen der Verzweiflungsmigration – stärker in den Blick genommen werden muss. Dazu bedarf es eines langen Atems und unbedingt einer Beibehaltung der etablierten Prinzipien und Leitbilder der EZ, wie beispielsweise die Achtung von Menschenrechten, die Einhaltung demokratischer Mindeststandards und die Förderung von good governance.
In Bezug auf den afrikanischen Kontinent bedeutet dies auch, dass in Deutschland und Europa eine Debatte über reguläre Migration geführt werden muss. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat diesen Dialog mit drei westafrikanischen Regierungen während ihrer Afrikareise Ende August 2018 bereits begonnen. Den Boden für eine solche Debatte in Deutschland zu bereiten, ist angesichts rechtspopulistischer Strömungen eine herausfordernde, aber notwendige politische Aufgabe. Diese Zuwanderung gilt es durch Sprachförderung und weitere Qualifizierungsmaßnahmen zu begleiten. Dabei sollte aber auch berücksichtigt werden, dass durch ein Mehr an regulärer Zuwanderung nach Deutschland beziehungsweise Europa dringend gebrauchte Fachkräfte in den afrikanischen Ländern abgezogen werden könnten. Das Risiko eines solchen brain drain gilt es gleichzeitig zu minimieren.
Da ein Großteil der Migrationsbewegungen innerhalb des afrikanischen Kontinents stattfinden, handelt es sich hier um ein Feld, auf dem die entwicklungspolitische Zusammenarbeit durchaus aktiver werden kann. Denn auch bei diesen Wanderungsprozessen ergeben sich entwicklungsfördernde Potenziale, die durch einen verbesserten Schutz von Migrantinnen und Migranten oder durch die Intensivierung des Austausches zwischen Migranten und ihren Heimatländern besser genutzt werden können. Regionale Migrationsregime und Initiativen – wie beispielsweise das Joint Labour Migration Program for Africa der Afrikanischen Union und der Internationalen Arbeitsorganisation – bieten hier geeignete Ansatzpunkte für eine sinnvolle internationale Unterstützung.
Auch zur Gestaltung von politischen und wirtschaftlichen Strukturen, die Flucht und gemischte Wanderungen bedingen, kann Entwicklungspolitik beitragen. Auf nationaler und regionaler Ebene kann multisektoral angelegte Krisenprävention friedens- und wirtschaftspolitische Zielsetzungen verschränken, indem sozioökonomische, sicherheits- und demokratiefördernde Maßnahmen miteinander verbunden werden. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die wachsende Zahl lokaler Konflikte aufgrund exklusiver Wirtschaftspolitik. Ein Instrument zur Krisenprävention im Rahmen der deutschen Initiativen wie dem "Marshallplan mit Afrika" sollten etwa soziale Folgeanalysen von ausländischen Investitionen sein. Zu Veränderungen wird solch ein Ansatz dann beitragen, wenn die Gestaltung inklusiver Politik, auch im Rahmen von Demokratieförderung, Priorität hat.
Schließlich steht außer Frage, dass Migration ein relevantes Arbeitsfeld für deutsche und europäische Entwicklungspolitik ist und bleiben muss. Dabei ist es notwendig, die Grenzen und Möglichkeiten, die Ursachen von Flucht und irregulärer Migration zu beeinflussen, realistisch einzuschätzen. Das ist auch deshalb wichtig, um in der deutschen Öffentlichkeit angemessene Erwartungen an die Trag- und Reichweite von entwicklungspolitischen Maßnahmen zu schaffen. Erforderlich ist daher eine über den Gestaltungsbereich der Entwicklungszusammenarbeit hinausreichende Debatte. Beispielsweise reichen Ansätze, die auf einzelne Staaten und Regionen fokussieren, nicht aus, um strukturellen Wandel zu befördern. Nicht zuletzt beeinflussen etwa ungleiche Welthandelsstrukturen oder Finanz- und Investitionspolitiken maßgeblich die Entwicklung und somit auch Migrationsprozesse in Afrika. Deutschland kann und sollte daher seine Rolle nutzen, sich in Foren wie den G20 für eine umfassende, gerechte und nachhaltige globale Strukturpolitik einzusetzen.