Einleitung
Seit Beginn des europäischen Einigungsprozesses gilt die Türkei als der am schwersten zu integrierende Staat. In den vergangenen fünfzehn Jahren - und besonders bei der letzten Erweiterungsrunde - hat die Frage eines türkischen Beitritts für Reibungspunkte innerhalb der Europäischen Union (EU) gesorgt. Die Aufnahme von zehn neuen Kandidaten hat die Position der Türkei deutlich verschlechtert. Verteilungsdebatten und heterogene nationale Interessen in der EU ließen strategische Überlegungen, die in Europa seit jeher geringeres Gewicht haben als in den USA, in den Hintergrund treten.
Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, ob in absehbarer Zeit Chancen auf eine türkische Vollmitgliedschaft in der EU bestehen. Nach einem historischen Abriss der Entwicklung des Landes und des türkisch-europäischen Verhältnisses - als Basis für die Eigenwahrnehmung der Türkei und ihre mögliche Rolle im "europäischen Konzert" - folgt eine kurze Diskussion des Konstrukts "Europa". Daran schließt sich eine Analyse der aktuellen Beziehungen zwischen der Türkei und der EU an.
I. Die Türkei auf dem Weg nach Europa
Völkerrechtlich gilt die Türkei als Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches, dessen Glanzzeit in die Periode zwischen 1453 (Eroberung Konstantinopels) und 1683 (Belagerung Wiens) fällt.
Die Gründung des modernen türkischen Staates erfolgte am 29. Oktober 1923. Die beiden Grundprinzipien - territoriale Integrität und Unabhängigkeit - sind bis heute gültig. Der Türkei gelang es bald, sich als regionale Macht zu etablieren. Im Inneren konzentrierte sich Atatürk auf die Modernisierung der Gesellschaft. Der Kemalismus verbindet westliche Verfassungselemente wie die deutsche Militärordnung, das Schweizer Zivilgesetz und den französischen Zentralismus mit einer nationalstaatlichen Ideologie. Viele Gräben ließen sich damit künstlich überdecken. Zugleich wurden jedoch neue Differenzen geschaffen, die zum Teil bis in die Gegenwart wirken.
Nach dem Zweiten Weltkrieg suchte die Türkei wieder eine stärkere Hinwendung nach Westen. Wesentlich ist, dass es sich im türkischen Verständnis um eine verstärkte politische Anbindung handelte und weniger um eine kulturelle. In dieser Perspektive wurde die Teilnahme am europäischen Konzert für die Türkei zu einer Frage der nationalen Ehre. Dabei haben die strategische Lage und die regionale Nähe zur immer expansiver auftretenden Sowjetunion diese Ambitionen begünstigt. Einer der ersten Schritte ging von den USA aus. Die "Truman-Doktrin" garantierte die territoriale Unversehrtheit der Türkei und Griechenlands. Ein weiterer wesentlicher Schritt war 1952 die Aufnahme beider Staaten in die NATO. Die Türkei war von Beginn an bereit, den USA jede nur erdenkliche Begünstigung einzuräumen, um so ihre Position innerhalb der Allianz, aber auch gegenüber Griechenland zu festigen.
Trotz der westlichen Hilfe kämpften die rasch wechselnden Regierungen in der Türkei weiter mit wirtschaftlichen und innenpolitischen Problemen. Am 27. Mai 1960 kam es zu einem Militärputsch. Bereits nach den folgenden Parlamentswahlen war jedoch offensichtlich, dass die Putschisten ihre Ziele verfehlt hatten. Auch außenpolitisch geriet das Land bald unter Druck: Ab Mitte der fünfziger Jahre verstärkten sich die Spannungen mit Griechenland wegen der Zypernfrage.
Dieser außenpolitisch durchaus beachtlichte Erfolg konnte jedoch den zweiten Militärputsch nicht verhindern. Am 12. März 1971 stellte die Armee der schwer angeschlagenen Regierung von Süleyman Demirel ein Ultimatum, dieser trat daraufhin zurück. Die dringend erforderliche Sanierung der Wirtschaft konnte weder die 1973 gebildete Koalitionsregierung unter Bülent Ecevit noch eine der nachfolgenden Regierungen durchsetzen. Die Zypernkrise 1974 und Griechenlands Antrag auf Vollmitgliedschaft 1975 verschlechterten die Beziehungen zwischen der Europäischen Gemeinschaft (EG) und der Türkei. Die Abgabe des Aufnahmeantrags, zu dem sich Ankara nach dem Beitritt Griechenlands 1979 entschloss, wurde durch den dritten Militärputsch (12. September 1980) verhindert. 1982 setzte die EG das Ankara-Abkommen offiziell aus. Angesichts der Süderweiterung um Griechenland (1981), Spanien und Portugal (1986) war dies für die Türkei ein herber Rückschlag, da diese Erweiterungsrunde weitgehend von politischen Überlegungen bestimmt war.
Die erneuten Annäherungsversuche an die EG waren eng verbunden mit den Versuchen des neuen Ministerpräsidenten Turgut Özals, die Türkei nach den ersten freien Parlamentswahlen 1987 in der Weltöffentlichkeit wieder als westlich orientiertes, modernes, demokratisches Land zu präsentieren und das Bild von der Militärdiktatur abzuschütteln. Im April 1987 beantragte die Türkei die Vollmitgliedschaft. Die EG lehnte den Antrag im Dezember 1989 jedoch vorerst ab. Statt die politische Dimension (wie im Falle Griechenlands, Spaniens und Portugals) zu betonen, hatte die Regierung Özal bei ihrer Bewerbung einseitig auf wirtschaftliche Argumente gesetzt. Mit einer Doppelstrategie hätte die Türkei deutlich bessere Chancen auf eine Vollmitgliedschaft gehabt.
Mit dem Zerfall der Sowjetunion verlor die Türkei ihre bisherige Pufferrolle in der Region. Das Land hing insbesondere im Golfkrieg 1990/91 außenpolitisch-strategisch "in der Luft". Wenig später war die Türkei zudem mit dem Zerfall des Balkans (eines historischen Interessengebiets) konfrontiert. Unterdessen verlagerten sich die Prioritäten der EG nach Ostmittel- und Osteuropa. Die "kulturelle Dimension" wurde zu einem wesentlichen Beitrittskriterium. Nun rächten sich Özals Fehler bei der Bewerbung 1987.
Durch ihre Zustimmung zur Zollunion versuchte die EU, einen Sieg der islamischen Refah-Partei unter Necmettin Erbakan bei den anstehenden Parlamentswahlen 1995 zu verhindern - ohne Erfolg. Die türkische Regierung bezeichnete die Brüsseler Entscheidung als "längst fälligen Schritt Europas gegenüber der Türkei". Die Zollunion, die am 1. 1. 1996 in Kraft trat, wurde zum Symbol für die Westorientierung des Landes. Beide Vertragspartner spielten jedoch in der Folge eigene Interessen aus. Die EU blockierte zugesagte Finanzmittel mehrfach durch Vetos. Damit machte sie es der Türkei einfach, ihrerseits das Abkommen aufzuweichen.
Ab 1996/97 griff die Armee wieder verstärkt in die Politik ein, insbesondere da mit der Refah-Partei erstmals eine islamische Partei an der Regierung beteiligt war. Ein "kalter Putsch" zwang Premierminister Erbakan 1997 zum Rücktritt. Es folgte eine schwache Koalition mit altbekannten Gesichtern. Dass der Eingriff der Armee die EU nicht ermutigte, die Türkei als Beitrittskandidaten einzustufen, ist verständlich.
Nach der Wiederaufnahme des Dialogs im Herbst 1999 - Hintergrund war das Erdbeben vom August und die daraufhin gewährte massive Finanzhilfe der EU - erhielt die Türkei auf dem Gipfel von Helsinki im Dezember 1999 tatsächlich den Status als Beitrittskandidat, wenngleich ohne Zeitperspektive. Die Positionsänderung der EU hatte mehrere Gründe: Die Union wollte eine weitere Verschlechterung der Beziehungen verhindern. Die verbesserten griechisch-türkischen Beziehungen förderten den Dialog auch innerhalb der EU. Zudem übten die USA in der Türkei-Frage Druck auf die Europäer aus.
Nur mit Hilfe der USA und des Internationalen Währungsfonds (IWF) gelang es, die Türkei im Herbst 2000 bzw. im Frühjahr 2001 vor dem Zusammenbruch zu retten. Seit den vorgezogenen Neuwahlen im November 2002 wird das Land von der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) unter Recep Tayyip Erdogan regiert - eine gemäßigte, aber wertkonservative islamistische Partei. Manche Beobachter glauben, dass gerade mit der neuen Regierung unter Ministerpräsident Abdullah Gül die längst fällige Modernisierung der Türkei eingesetzt hat.
Die EU verhielt sich zunächst abwartend. Im Oktober 2002 hat die Kommission ihren Jahresbericht veröffentlicht und beim Gipfel von Kopenhagen im Dezember vorgelegt.
II. Was ist Europa?
Bei der Frage nach einer EU-Mitgliedschaft der Türkei geht es im Kern auch um das Konstrukt "Europa". Ist Europa ein Kulturraum, ein geographischer oder ein historischer Raum? Ist Europa ein Synonym für die Einheit in Vielfalt in einem System souveräner Staaten? Die Antworten sind vielschichtig und spiegeln die Komplexität der Problematik wider. Einen Ansatz kann die Unterscheidung zwischen "internationalem System" und "internationaler Gesellschaft" bieten.
Das Konzept der "europäischen Gesellschaft" rückt die gemeinsame Kultur und Geschichte, die gemeinsamen Werte, Interessen, Regeln (verbal und nonverbal), Abkommen (formal und informal) und Institutionen in den Mittelpunkt. Als Ausgangsbasis können die Kopenhagener Kriterien von 1993 dienen, die jedes Land vor der Aufnahme in die EU zu erfüllen hat: stabile Institutionen, die demokratische und rechtliche Standards garantieren, Achtung der Menschenrechte, Minderheitenschutz, eine funktionierende Marktwirtschaft und die Fähigkeit zur Übernahme des "Acquis communautaire", des gemeinschaftlichen Regelwerks. Mit dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages vom Mai 1999 haben diese Kriterien als Verfassungsprinzip Eingang in den EU-Vertrag gefunden, beim Gipfel von Nizza im Dezember 2000 wurden sie zudem in die Grundrechte-Charta aufgenommen.
In der Perspektive des Gesellschaftskonzepts verbindet Europa aber mehr als gemeinsame Werte und Institutionen. Es geht auch um die Eigen- und Fremdperzeption: Wer sind "wir" und wer sind "die anderen"? Dabei handelt es sich nicht zuletzt um In- und Exklusion, um Grenzen und Dazugehören, um Offenheit und Ängste - wie die immer wieder beschworene Türkengefahr. Dieses Argument hat zwar nie Eingang in offizielle EU-Dokumente gefunden, von Einzelpersonen wird "die islamische Karte" aber immer wieder gespielt. Nicht zu leugnen ist, dass bestehende Ängste vor einer Überfremdung für verdeckte nationale Interessen genutzt werden. Das Islamismus-Argument ist aber ein Scheinargument, das durch die normative Kraft des Faktischen - in der EU leben bereits jetzt etwa 15 Millionen Muslime - leicht zu entkräften wäre. Es erklärt jedoch die massive finanzielle Unterstützung der EU für die Balkanstaaten (in denen ebenfalls eine zum Teil nicht unbeträchtliche Zahl von Muslimen lebt), der die zögerliche Haltung gegenüber der Türkei entgegensteht.
Europa stellt aber nicht nur ein Gesellschafts-, sondern auch ein "internationales System" dar. Europa im Allgemeinen und die EU im Besonderen ist ein "System" souveräner Staaten. Obwohl die Mitgliedsländer in vielen Bereichen Kompetenzen an die Europäische Union abgeben mussten, steht die Sicherung der eigenen Position nach wie vor im Mittelpunkt - auch weil eine den Nationalstaaten übergeordnete Regierung fehlt. Das mit dem Westfälischen Frieden (1648) und dem Frieden von Utrecht (1713) etablierte Konzept der Souveränität hat bis heute nichts von seiner Aktualität eingebüßt, schützt es doch gerade die kleineren Staaten vor einer Dominanz durch die größeren.
Letztlich sind es beide Perspektiven, die - sich in Konstellation und Intensität ändernd - Europa ausmachen und weit über geographisch-historische Abgrenzungen hinausgehen. Wenn die EU aber Gemeinschaft und System zugleich darstellt, können die Mitgliedstaaten nicht nur Teil der einen oder anderen Schnittmenge sein. Diese Komplexität bereitet im Falle der Türkei große Probleme.
III. Der Status quo der türkisch- europäischen Beziehungen
Die Analyse des aktuellen Verhältnisses zwischen der Türkei und der EU setzt bei dem Regelmäßigen Bericht an, den die Europäische Kommission auf der Grundlage der Kopenhagener Kriterien im Oktober 2002 veröffentlicht hat und der als Ausgangspunkt für die Diskussion auf dem Gipfel im Dezember diente.
1. Politische Kriterien
Institutionelle Stabilität als Garantie für die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, die Wahrung der Menschenrechte, die Achtung und der Schutz von Minderheiten gelten seit Jahren als Hauptargumente gegen einen türkischen EU-Betritt. Hier hat die Türkei den größten Nachholbedarf. Es dominiert das Konzept eines "starken Staates": Die Individualrechte treten hinter den Interessen des zentral lenkenden Staates zurück.
In den vergangenen Jahren hat die türkische Regierung jedoch einige der von der EU immer wieder geforderten Verfassungsänderungen vorgenommen. Hier zeigte die politische Führung ein Maß an Entschlossenheit, das den Weg nach Europa erleichtern dürfte. Dabei fanden vor allem die jüngsten Reformen unter schwierigen Bedingungen statt, nachdem die Parlamentswahlen - bedingt durch eine wochenlange Regierungskrise - auf November 2002 vorgezogen worden waren. Bemerkenswert war die breite öffentliche Debatte. Im Mittelpunkt standen die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten und der Gebrauch anderer Sprachen neben dem Türkischen im Bildungswesen bzw. in den Medien, der im August 2002 auch in der Verfassung verankert wurde.
Der Staatspräsident, der zunehmend von seinem Vetorecht Gebrauch macht, hat sich zu einem echten Kontrollorgan im Verfassungssystem entwickelt. Immer wieder in die Kritik gerät jedoch der Nationale Sicherheitsrat, der europäischen Standards diametral widerspricht und dessen Funktion weit über die eines reinen Beratungsgremiums hinausgeht. Zwar wurde seine Zusammensetzung und Rolle per Verfassungsänderung reformiert, tatsächlich hat sich aber nichts geändert. Dagegen wurde nach der Reform des Gesetzes über politische Parteien deren Auflösung deutlich erschwert. Dies ist bemerkenswert, die Praxis bleibt jedoch abzuwarten. Ein weiteres Problem ist der Kampf gegen Korruption. Die Türkei ist bei vielen einschlägigen internationalen Abkommen entweder nicht Vertragspartei oder sie hat diese nicht ratifiziert. Gleichwohl ist die Anzahl der Verfahren gegen öffentliche Beamte in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen.
Im Bereich der Judikative wurde die immer wieder monierte Sonderstellung der Staatssicherheitsgerichte aufgehoben. Die Rolle der Militärgerichte entspricht aber nach wie vor nicht EU-Prinzipien. Insgesamt kommt die Justiz mit der Bearbeitung von Fällen nicht nach. Gesetze werden zudem unterschiedlich ausgelegt, wodurch weder Transparenz noch Rechtssicherheit gewährleistet sind. Das neue Zivilrecht, das am 1. Januar 2002 in Kraft getreten ist, sieht eine Gleichstellung der Geschlechter und einen stärkeren Schutz von Kindern vor. Dies gilt als Durchbruch auf dem Weg zu einer Zivilgesellschaft nach westlichem Muster. Dagegen wurde der Minderheitenschutz nur marginal verbessert. Nach wie vor ist der Vertrag von Lausanne (1923) die Referenzgrundlage.
Fasst man die politischen Kriterien zusammen, hat die Türkei vor allem im Jahr 2002 - unter schwierigen innenpolitischen Bedingungen - relativ große Fortschritte gemacht. In wichtigen Bereichen wie der Meinungsfreiheit, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, der Religionsfreiheit und dem Berufungsrecht vor Gericht besteht jedoch Handlungsbedarf. Zu nennen sind zudem die Bekämpfung von Folter und Misshandlungen, die zivile Kontrolle des Militärs und die Achtung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Wesentlich wird daher sein, den Verfassungsänderungen entsprechende Durchführungsverordnungen folgen zu lassen.
2. Wirtschaftliche Kriterien
In den vergangenen fünf Jahren hat der Grundkonsens über die Marktwirtschaft, der die Voraussetzung für ein kohärentes, wirkungsvolles Wirtschaftsprogramm ist, zugenommen. Zugleich wurden jedoch viele ambitionierte Ansätze zur Stabilisierung des Wirtschaftssystems durch die anhaltend hohe Inflation und systembedingte Schwächen des Finanzsektors, durch die Russlandkrise 1998 und die Erdbeben 1999 unterminiert. Die mangelnde politische Unterstützung für die Konsolidierungsprogramme hat zu weiteren Rückschlägen geführt. Von einer Erfüllung der Maastricht-Kriterien ist die Türkei meilenweit entfernt.
Zwischen 1997 und 2001 schwankte das Wirtschaftswachstum massiv, mit Phasen einer konjunkturellen Überhitzung und zwei Rezessionen. Das Leistungsbilanzdefizit blieb dennoch im Rahmen, da sich vor allem der Tourismus als Rettungsanker erwies. Die Inflationsrate lag bei einer jährlichen Steigerung von 69,9 Prozent. Das gesamtstaatliche Defizit betrug durchschnittlich 15,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Abwertung der Lira und die Rettungsaktionen im Bankensektor nach den Krisen vom November 2000 und Februar 2001 führten zu einem deutlichen Anstieg der Staatsverschuldung auf 102,4 Prozent des BIP im Jahr 2001. Eine grundlegende Sanierung der öffentlichen Finanzen scheiterte aufgrund der unvorhergesehenen Ausgaben durch Erdbeben und Bankenkrise. Die Deregulierung der zentralen Märkte (z.B. Tabak, Elektrizität, Telekommunikation, Gas), die Reform der Sozial- und die Einführung der Arbeitslosenversicherung gelten als Schritte in die richtige Richtung. Durch die Stärkung der Zentralbank konnte der Inflationsdruck verringert werden. Darüber hinaus wurden Maßnahmen ergriffen, um die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung zu steigern und die Transparenz der öffentlichen Haushalte zu erhöhen.
Die anhaltende Inflation hat alle Einkommensschichten massiv getroffen und zu einem beträchtlichen Kaufkraftverlust geführt. Die Schere zwischen den Einkommen im Nordosten bzw. Osten und im Rest des Landes klafft weiter denn je auseinander. Ebenso drastisch hat sich das Stadt-Land-Gefälle entwickelt. Die beiden Rezessionen 1999 und 2001 führten zusätzlich zu einem deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Diese ist - besonders in den großen Städten - unter Jugendlichen beunruhigend hoch (in der Gruppe der 15- bis 24-Jährigen lag sie bei 17 Prozent). Diese Probleme wurden noch dadurch verschärft, dass die Investitionen in das Humankapital (z.B. Aus- und Weiterbildung, Gesundheitssystem) in der Vergangenheit unzureichend waren. Darunter litt besonders die Grundausbildung in ländlichen Gebieten, was zu massiver Abwanderung in die Städte und starker Binnenmigration führte. Die Arbeitsmarktpolitik ist weiter unterentwickelt.
Die Privatisierung der Wirtschaft - von den Regierungen seit Jahren immer wieder angegangen - kommt trotz einiger Erfolg versprechender Ansätze nur schleppend voran. Selbst entsprechende Gesetzesänderungen konnten diese nicht ausreichend ankurbeln. Das Investitionsklima ist nach wie vor schlecht. Der Kapitalstock hat sich in seinem Wachstum deutlich verlangsamt. Der Zufluss von ausländischen Direktinvestitionen blieb unbedeutend. Die Investitionen in die Infrastruktur sind sehr ungleich verteilt; sie konzentrieren sich vor allem auf den westlichen Teil des Landes. Die instabile politische Situation hat dazu beigetragen, dass die Türkei für Investoren nicht attraktiv ist.
Die Umstrukturierung des Wirtschaftssystems hat sich - bedingt durch die Bankenkrise - gleichwohl deutlich beschleunigt. Langsam gelingt die sektorale Verschiebung vom Agrar- zum Dienstleistungssektor. Nach wie vor bilden Klein- und Mittelbetriebe das Rückgrat der türkischen Wirtschaft. Sie sind es auch, die am stärksten unter der angespannten Situation leiden. Viele dieser Unternehmen dürften große Schwierigkeiten haben, die EU-Standards zu übernehmen. Langfristig hätte ein Niedergang der Klein- und Mittelbetriebe wahrscheinlich eine Art Strukturbereinigung und Modernisierung zur Folge. Die türkische Wirtschaft müsste jedoch überdurchschnittlich lange am "Finanztropf" der EU hängen, um einigermaßen wettbewerbsfähig zu sein. Dies würde sicherlich zu heftigen Spannungen mit den anderen Empfängerländern an der Südflanke der EU sowie den Neumitgliedern führen, die einer Umverteilung kaum zustimmen dürften. Das zeigten bereits die Verhandlungen mit Polen auf dem Kopenhagener Gipfel im Dezember 2002.
Derzeit scheint die Türkei nicht fähig, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Europäischen Union standzuhalten. Aus makroökonomischer Sicht ist das Land nach wie vor instabil, da die Wirtschaftsakteure keine Entscheidungen unter berechenbaren Bedingungen treffen können. Die Versuche, eine wirtschaftlich stabile Situation herbeizuführen, scheiterten primär an der politischen Instabilität. Auch im Wirtschaftsbereich steht der Türkei noch viel Arbeit bevor, um die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen.
3. Fähigkeit zur Übernahme des "Acquis communautaire"
Die Bilanz in diesem Bereich fällt gemischt aus. In den Sektoren Banken, Telekommunikation, Energie und Landwirtschaft sind positive Veränderungen erkennbar. Auch im öffentlichen Beschaffungswesen, in den Bereichen Energie, Justiz und Inneres gab es Fortschritte. Dagegen lassen sich im Bereich der Verwaltung, die den "Acquis communautaire" umsetzen muss, nur geringe Verbesserungen feststellen. In den von der Zollunion erfassten Bereichen ist zwar ein gutes Maß an Rechtsangleichung erreicht, für andere Sektoren trifft dies aber in deutlich geringerem Maße zu. Zur Umsetzung und Durchführung der EU-Vorschriften bedarf es also noch erheblicher Anstrengungen im Verwaltungsbereich (neue Strukturen, Sicherstellung ihrer Autonomie, ausreichendes Personal und entsprechende Finanzmittel).
4. Weitere Themen mit hoher Beitrittsrelevanz
Bestimmt werden die europäisch-türkischen Beziehungen jedoch nicht allein von den Kopenhagener Kriterien.
Die Gesellschaft im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne: Das Osmanische Reich war eine Elitengesellschaft. Das Bürgertum hatte sich nicht entwickelt, weil die wirtschaftliche Grundlage fehlte. Der Handel befand sich mehrheitlich in griechischer und armenischer Hand. Die osmanischen und später die türkischen Eliten beherrschten Verwaltung und Militär. Der Kemalismus, der eine Wende bringen sollte, stützte sich letztlich auch auf die alten Eliten. Die ländliche Bevölkerung identifizierte sich daher kaum mit ihm. Gerade dieses Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne stellt ein "verstecktes Integrationsproblem" dar.
Die Bevölkerungsentwicklung: Die Türkei verzeichnete in den vergangenen 75 Jahren ein rasantes Bevölkerungswachstum. Gemäß Zensus 2000 hat das Land derzeit 67,8 Millionen Einwohner. Bei einem anhaltenden Wachstum wird es im 21. Jahrhundert die 100-Millionen-Grenze überschreiten.
Die Bevölkerungssituation in der Türkei hätte zudem Auswirkungen auf die Entscheidungsprozesse innerhalb der Europäischen Union: Da die Anzahl der EU-Parlamentarier aufgrund der Bevölkerungszahl bestimmt wird, käme der Türkei als Vollmitglied eine entscheidende Position bei Beschlüssen zu. Hinter vorgehaltener Hand ist niemand in der EU an der Dominanz eines islamischen Staates interessiert.
Das soziale Gefälle: Ein deutliches soziales Gefälle trennt den wohlhabenden Osten und Nordosten der Türkei vom deutlich ärmeren Südosten. Während Städte wie Istanbul oder Ankara einen bemerkenswert hohen Lebensstandard haben, kann der Südosten nicht mithalten. Grund für das starke Gefälle ist wiederum die Bevölkerungsentwicklung. Der jährliche Zuwachs um etwa eine Million Menschen hat enorme negative Effekte auf die Infrastruktur und die gesamte soziale Entwicklung. Im Falle eines Beitritts der Türkei müsste die EU massive finanzielle Hilfe leisten, um die Defizite auszugleichen. Dass dies nicht im Interesse von Staaten wie Griechenland, Spanien oder Portugal liegt, die bisher am stärksten vom Kohäsionsfonds profitieren, ist offenkundig.
Diese drei Aspekte sind für einen Beitritt der Türkei von eminenter Bedeutung. In den offiziellen Berichten der EU werden sie aber bestenfalls angedeutet, da sie in ihren Konsequenzen nicht oder nur schwer abzuschätzen sind.
IV. Ausblick
Die internationalen Reaktionen auf die Entscheidung des Europäischen Rates von Kopenhagen im Dezember 2002 waren sehr unterschiedlich. Sie reichten vom Vorwurf der Erpressung an die Adresse der Türkei über das "Prinzip Hoffnung" bis zu "notwendige Atempause". Die türkischen Reaktionen waren - nach einer anfänglichen, durchaus verständlichen Enttäuschung - überraschend rational.
Auf die Türkei wartet noch eine Menge Arbeit, doch besteht die Bereitschaft, von jahrzehntelang als unverrückbar geltenden Positionen abzuweichen. Dies lässt sich auch an der Haltung von Recep Tayyip Erdogan, dem Chef der bei den Parlamentswahlen siegreichen AKP, in der Zypernfrage ablesen; der Streit um die Mittelmeerinsel galt lange Zeit als Belastung der europäisch-türkischen Beziehungen.
Sollte die Union bis 2004 keine gemeinsame Linie finden und die Türkei die Kopenhagen-Kriterien nicht erfüllen, so sind folgende Szenarien vorstellbar:
1. Die Türkei gibt ihr Ziel der Vollmitgliedschaft zugunsten einer speziellen Partnerschaft mit der EU auf, die strategische Elemente einschließt und auf wirtschaftlicher Ebene die Zollunion als Maximum akzeptiert. Dies würde eine Abkehr vom Ankara-Abkommen aus dem Jahre 1964 bedeuten. Diese Variante, die von der EU immer wieder gerne ins Spiel gebracht wird, ist jedoch mit der Entscheidung von Kopenhagen 2002 nur schwer umzusetzen. Sie bleibt aber eine Option.
2. Eine noch stärkere Anlehnung der Türkei an die USA innerhalb der NATO und beim Kampf gegen den Terrorismus. Washington müsste sich dafür finanziell erkenntlich zeigen und würde dies gegebenenfalls auch tun, wie die jüngsten Verhandlungen um Stützpunkte und Häfen gezeigt haben.
3. Eine Stärkung der türkischen Position innerhalb der islamischen Welt. Ein erstes Signal war die diplomatische Rundreise von Ministerpräsident Abdullah Gül im Januar, mit der er einen Krieg gegen den Irak abzuwenden versuchte. Dabei befindet sich die Türkei als islamischer, aber säkularer Staat in einer schwierigen Situation. Das macht diese Option aber nicht unmöglich.
Sicher ist, dass die Türkei an ihrem Beitrittsziel festhalten wird und sich die EU auf absehbare Zeit damit beschäftigen muss. Aufgrund der historischen Verbundenheit und der strategischen Lage kann das Land nicht ausgeschlossen bleiben. Auch auf die (für die EU wesentlich wichtigere) Frage nach dem Wesen Europas ließe sich damit leichter eine Antwort finden - und von der Klärung der europäischen Identität hängt auch eine neuerliche Erweiterungsrunde ab.