I. Modernisierungskrise, Systemwechsel und die Rolle der Eliten in Südosteuropa
Die ehemals kommunistisch beherrschten Staaten Südosteuropas haben seit 1989 einen tief greifenden Wandel erfahren. Demokratischer Aufbruch, marktwirtschaftliche Transformationsprozesse, rechtsstaatliche und zivilgesellschaftliche Entwicklungen, kulturelle Pluralisierung und die Annäherung an die Europäische Union (EU) sind einige Stichworte, die diese Veränderungen umschreiben.
Der "Systemwechsel", der nach 1989 in nahezu allen südosteuropäischen Gesellschaften einsetzte, hat gewiss nicht überall und sofort die Hoffnungen erfüllt. Weit reichende Wohlstandserwartungen wurden zunächst vielfach enttäuscht.
Erst seit kurzer Zeit - nicht zuletzt seit der demokratischen Wende in Serbien - kann man nahezu überall von einem konsolidierten Modernisierungsprozess sprechen. Mit den gesamteuropäischen Entwicklungen und der in die Wege geleiteten EU-Osterweiterung zeichnen sich zudem gute Chancen der Verstetigung und Beschleunigung dieser Modernisierungsvorgänge ab, wenngleich die Schwierigkeiten einer weiteren europäischen Integration nicht übersehen werden sollten.
Bei all diesen Vorgängen kam und kommt den Eliten eine Schlüsselrolle zu.
II. Eliten und Elitenkonfigurationen
Wiewohl heute viel - auch und gerade bezogen auf Südosteuropa
Unter Entscheidungs- und Bewirkungsmacht ist zu verstehen, dass Eliten im Rahmen wichtiger gesellschaftlicher Institutionen Entscheidungen von großer sozialer Relevanz und nicht selten auch kollektiver Verbindlichkeit treffen. Bewirkungsmacht bedeutet aber auch, dass Eliten über die Bildung bzw. Umbildung einzelner Institutionen oder über institutionelle Arrangements Entscheidungen herbeiführen können. Eine wesentliche Bedeutung der Eliten liegt demnach in ihrer Rolle als "Konstrukteure" und "Durchsetzer" neuer institutioneller Ordnungen, wobei diese Funktion auch beim gegenwärtigen "Systemwechsel" in Südosteuropa ganz entscheidend scheint.
Der maßgebliche gesellschaftliche Einfluss der Eliten kommt aber auch in ihrer sozialen Definitionsmacht zum Ausdruck. Zu den Eliten sind daher ebenso jene Menschen zu rechnen, deren Deutungen der Wirklichkeit, kulturelle Leitideen oder Zielvorstellungen einen nachhaltigen Einfluss auf das Realitätsverständnis und die Meinungsbildung größerer Bevölkerungsgruppen haben. Insbesondere in demokratischen Gesellschaften, aber keineswegs nur in diesen, hängt die Entscheidungs- und Bewirkungsmacht der Eliten auf das Engste mit bestimmten Realitätsdeutungen und Sinnvermittlungen zusammen, zumal diese erst die soziale und kulturelle Akzeptanz ihrer Entscheidungen absichern.
Es wäre daher falsch, zu den Eliten nur Personen mit weit reichender Entscheidungsmacht im Bereich der Politik, der Wirtschaft, der Großorganisationen oder Verbände zu zählen. Ebenso gehören Menschen mit maßgeblicher sozialer und kultureller Deutungsmacht dazu, unabhängig davon, ob sie institutionelle oder gesellschaftliche Spitzenpositionen innehaben oder nicht; auch bekannte Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle, hervorragende Wissenschaftler und Experten können demnach zu den Eliten gehören.
Es wäre also zu kurz gegriffen oder gar irreführend, in modernen Gesellschaften von einer einheitlichen Elite zu sprechen. Vielmehr ist von verschiedenen "Elitenkonfigurationen" auszugehen. Mit diesem Konzept werden nicht nur verschiedene Elitengruppen identifiziert und voneinander abgegrenzt, sondern auch die Beziehungen zwischen Eliten- und Nichtelitengruppen erfasst.
"Elitenkonfigurationen" meint zum einen die verschiedenartigen Herrschafts-, Macht-, Autoritäts- oder Stellvertretungsbeziehungen zwischen den einzelnen Gruppen.
Folgt man Field und Higley, lassen sich mehrere Typen von Elitenkonfigurationen unterscheiden: "Konsensus-Eliten", "unvollständig vereinte Eliten", "ideologisch geeinte Eliten" und "entzweite Eliten", wobei sich diese Konfiguration bis zum Typus "tödlich verfeindete Eliten" steigern kann.
III. Die Elitenkonfiguration unter kommunistischer Herrschaft
Nach der kommunistischen Machteroberung und bis Ende der achtziger Jahre entsprachen die Elitenkonfigurationen in den südosteuropäischen Gesellschaften weitgehend dem Typus der "ideologisch geeinten Eliten". Das heißt im Wesentlichen: Es fehlten konkurrierende Elitengruppen. Der Aufstieg in gesellschaftliche Spitzen- und Schlüsselpositionen war von ideologischer Konformität und - vielleicht mehr noch - von persönlicher Loyalität abhängig.
1. Entstehung der "ideologisch geeinten Eliten"
Mit der kommunistischen Machtübernahme nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte in allen betroffenen Staaten Südosteuropas ein umfangreicher Elitenwechsel und -wandel, der zu einer mehr oder weniger weitgehenden Verdrängung wichtiger Teile der bisherigen Eliten führte; dies schloss Flucht, Inhaftierungen, Deportationen und physische Vernichtung ein.
Erstens hat es nach dem Zweiten Weltkrieg innerhalb der zahlenmäßig ohnehin zumeist recht kleinen kommunistischen Parteien nahezu in allen Ländern interne Auseinandersetzungen, persönliche Rivalitäten und Richtungskämpfe gegeben; diese führten nicht zuletzt zu stalinistischen Schauprozessen sowie zur Entmachtung und sogar Vernichtung einzelner, gerade erst in Herrschaftspositionen aufgestiegener kommunistischer Eliten. Zweitens waren deutliche Unterschiede hinsichtlich der sozialstrukturellen Rekrutierungsbasis der neuen Eliten feststellbar. In manchen Ländern wie Albanien und Bulgarien existierte - anders als etwa in Ungarn - keine nennenswerte Industriearbeiterschaft. In Rumänien wiederum waren Angehörige ethnischer Minderheiten in der kommunistischen Herrschaftselite zunächst stark repräsentiert. Drittens war das Ausmaß der Repressionen gegenüber den alten Eliten oder Teilen von ihnen in den einzelnen südosteuropäischen Gesellschaften unterschiedlich. Dies betrifft insbesondere die Verfolgung von Angehörigen und Eliten ethnischer Minderheiten. Viertens waren in den einzelnen Ländern auch Unterschiede hinsichtlich der Übernahme von Angehörigen der alten Eliten in das neue Elitengefüge zu konstatieren; die teilweise Kontinuität dieser Eliten entsprang entweder deren fachlicher Unverzichtbarkeit oder aber deren Konversion zur herrschenden kommunistischen Ideologie. So waren Spezialisten aus der Ärzteschaft, hervorragende Wissenschaftler und Wirtschaftsfachleute, im Falle Rumäniens sogar eine Reihe hoher Offiziere, teilweise in Elitepositionen belassen worden. Vielfach hatten sich bekannte Schriftsteller und Künstler, aber auch Geistes- und Kulturwissenschaftler rasch der neuen Ideologie angepasst und dem Herrschaftssystem gefügig gemacht.
Ungeachtet dieser Unterschiede stellen die Elitengebilde in den südosteuropäischen Gesellschaften der späten vierziger und fünfziger Jahre aber ohne Zweifel allesamt "ideologisch geeinte" oder "zwangsvereinte" sowie weitgehend entdifferenzierte Elitenkonfigurationen dar.
2. Veränderungen der Elitenkonfigurationen seit den sechziger Jahren
Spätestens seit Mitte der sechziger Jahre zeichnen sich indes gewisse Veränderungen in den Elitenkonfigurationen der meisten südosteuropäischen Länder ab, obwohl sich am Typus "ideologisch geeinter Eliten" zunächst nicht allzu viel änderte.
Im Zuge der in den sechziger Jahren nahezu überall forcierten Industrialisierung, der raschen Urbanisierung und insbesondere der Bildungsexpansion gewannen Bildungsabschlüsse und vor allem das Hochschulwesen eine immer größere Bedeutung - auch und nicht zuletzt für die Elitenselektion und -rekrutierung. Die kommunistischen Eliten - und zwar nicht nur die vorwiegend durch fachliche Qualifikationen ausgezeichneten Funktionseliten, sondern auch die politischen Machteliten, also die kommunistischen Eliten im engeren Sinne - begannen sich zunehmend auf dem Bildungsweg zu ergänzen und zu reproduzieren.
Dies heißt allerdings nicht, dass das meritokratisch-funktionale Prinzip
Zudem blieben nahezu alle gesellschaftlichen Teilsysteme - zum Beispiel die Wirtschaftsunternehmen, die Kultur- und Bildungseinrichtungen, die Wissenschaftsinstitutionen und Massenmedien - weitgehend ideologisch bestimmt und politisch kontrolliert. Dies bedeutete mithin, dass die hier agierenden Funktionseliten in ihrer Kompetenz und Handlungsautonomie deutlich eingeschränkt waren. Die Behinderung der "Eigenrationalität" und Leistungsfähigkeit dieser Teilsysteme war die wesentliche Ursache der suboptimalen Ergebnisse in Wirtschaft, Wissenschaft oder Forschung und des zunehmenden Modernisierungsrückstands gegenüber dem Westen.
Seit den sechziger Jahren lassen sich also in den meisten südosteuropäischen Gesellschaften gewisse Autonomiebestrebungen der Funktionseliten und eine Differenzierung der Elitenkonfigurationen erkennen, ohne dass der Typus der "ideologisch geeinten Eliten" grundsätzlich überwunden worden wäre. Er blieb während der gesamten Zeit der kommunistischen Herrschaft nicht zuletzt dadurch erhalten, dass die Entstehung von Gegeneliten, die alternative Wertüberzeugungen und andere politische Zielvorstellungen und Interessen hätten vertreten können, schon in Ansätzen unterbunden wurde.
Das Verhältnis von Eliten und Nichteliten stellte sich bis Ende der achtziger Jahre ebenfalls als weitgehend auf Machtmittel und Repression gestützte autoritär-patriarchalische Herrschaftsbeziehung dar. Insofern war die Legitimität der kommunistischen Regime in allen südosteuropäischen Gesellschaften stets relativ prekär, so dass zur Stabilisierung entweder wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen und gewisse "Liberalisierungen" - wie im Falle Ungarns und Jugoslawiens - oder nationalistische Mobilisierungsprozesse - wie im Falle Rumäniens, Bulgariens und Albaniens - eingesetzt wurden.
3. Schlüsselrolle der Eliten beim Systemwechsel
Das Ende der kommunistischen Herrschaft stellt sich nicht zuletzt als das Ergebnis interner Auseinandersetzungen zwischen den oft überalterten Inhabern von politischen Spitzenpositionen und jüngeren, in die Elitepositionen drängenden Funktionären und Technokraten der höheren und mittleren Ebene dar.
Für den Niedergang der kommunistischen Herrschaft erscheinen - neben dem zunehmenden Dissens zwischen den ideologisch geprägten Macht- und den technokratisch orientierten Funktionseliten sowie den auf ihren Einfluss bedachten Kultureliten - Unterschiede in den Wissenshorizonten, kulturellen Orientierungen, Lebensstilen und Handlungspräferenzen verschiedener Elitengruppen relevant; diese sind nicht zuletzt auf unterschiedliche Generationenlagen, auf sozialisatorische Prägungen und anders geartete historische Erfahrungen zurückzuführen.
IV. "Elitenwechsel" oder "Elitenwandel"?
Nach dem Ende des Kommunismus stellt sich für alle südosteuropäischen Gesellschaften die Frage, in welchem Umfang ein Elitenwechsel und in welcher Hinsicht ein Elitenwandel erfolgte und welche Auswirkungen diese Veränderungen auf die weiteren Modernisierungsprozesse hatten. Aus meiner Sicht ist die analytische Unterscheidung zwischen Elitenwechsel und Elitenwandel für die Klärung der Kontinuitätsfrage sehr wichtig. Elitenwechsel meint dabei lediglich den Austausch, die Zirkulation der Eliten im Hinblick auf gegebene Führungspositionen. Dagegen bedeutet Elitenwandel die Veränderung der Elitenkonfigurationen selbst, also der grundlegenden Beziehungen zwischen Eliten und Nichteliten sowie zwischen verschiedenen Elitengruppen, und darüber hinaus die veränderte strukturelle und institutionelle Verankerung des Elitengefüges.
1. Zur Frage des Elitenwechsels
Zunächst lässt sich konstatieren, dass es zwar in ganz Südosteuropa einen beachtlichen Elitenwechsel in verschiedenen institutionellen Bereichen gegeben hat. Nur selten sind dabei aber alternative "Gegeneliten" aufgestiegen. In die durch den Abgang der alten Eliten freigewordenen oder im Zuge des institutionellen Wandels neu entstandenen Elitenpositionen rückten vor allem Funktionäre, Technokraten und Angehörige der Intelligenz auf, die der höheren und mittleren Hierarchieebene im alten System angehört hatten. Der Elitenwechsel vollzog sich zugleich und vor allem als ein Generationswechsel der Eliten. Alte und neue Eliten weisen insofern viele Gemeinsamkeiten auf, als sie häufig über ähnliche Bildungs- und Karrierewege aufgestiegen sind und überwiegend denselben Herkunftsgruppen angehören.
Empirische Untersuchungen zeigen, dass selbst in Ungarn
Die These vom unaufhaltsamen Herrschaftsaufstieg der Intelligenz und der Überwindung des kommunistischen Systems auf diesem Wege ist bekanntlich schon in den siebziger Jahren - unter anderem sehr nachdrücklich durch Konrád und Szelényi
2. Zentrale Aspekte des Elitenwandels
Im Gegensatz zum Elitenwechsel handelt es sich beim Elitenwandel nicht nur um einen Austausch der Eliten im Rahmen bestehender Institutionen oder "bürokratischer Organisationen". Hier geht es vielmehr um den Wandel der Elitenkonfigurationen, d.h. der Beziehungen zwischen verschiedenen Elitengruppen sowie zwischen Eliten und Nichteliten, bei grundlegenden Veränderungen der institutionellen Arrangements und des Gesellschaftsgefüges.
Tatsächlich ist in allen südosteuropäischen Gesellschaften ein weitgehender und folgenreicher Elitenwandel zu erkennen, in dessen Folge der Typus der "ideologisch geeinten Elite" durch andere Konfigurationen abgelöst wurde. In Rumänien oder Bulgarien kann man gegenwärtig vom Typus "unvollständig vereinter Eliten" - also Eliten, die insbesondere auf Grund ausgeprägter nationalistischer oder ideologischer Grundpositionen teilweise nicht zu einem demokratischen Konsens fähig oder willens sind - sprechen. In den vergangenen Jahren trat allerdings auch der Typus "entzweiter Eliten" in Erscheinung, die im Falle Albaniens oder auch Bulgariens Mitte der neunziger Jahre auf nichtdemokratische, zum Teil auch gewaltsame Mittel der politischen Auseinandersetzung setzten. Im ehemaligen Jugoslawien und in einigen der Nachfolgestaaten war zeitweise sogar die Konfiguration "tödlich verfeindeter Eliten" gegeben, die mithin zu den bekannten gewalttätigen Auseinandersetzungen führte.
V. Ausblick
Die Pluralisierung und Ausdifferenzierung der Elitenkonfigurationen in Südosteuropa stellt einen komplexen Gesamtvorgang dar, der in vielerlei Hinsicht noch voll im Gange ist und in seinem Ausgang durchaus offen erscheint. Drei Probleme zeichnen sich in einzelnen südosteuropäischen Gesellschaften weiterhin ab:
- die Neigung bestimmter, durchaus einflussreicher Elitengruppen zu nationalistischen Positionen und der Versuch, Nichteliten in diesem Sinne zu binden und zu mobilisieren; dies zeigt der Fall der extrem nationalistischen "Partei Großrumänien" (Partidul România Mare), die im Jahr 2000 rund ein Fünftel aller Stimmen bei den Wahlen zur Abgeordnetenkammer und zum Senat erhielt und deren Kandidat Corneliu Vadim Tudor bei den Präsidentschaftswahlen im gleichen Jahr sogar 33,2 Prozent der Stimmen erreichen konnte;
- die - nicht zuletzt durch etatistische Traditionen belastete und durch Schwierigkeiten des Institutionenwandels
- und schließlich der deutliche Hang wichtiger Teile der Eliten in Südosteuropa, ihre Eigeninteressen vor das Gemeinwohl zu stellen und dabei vor allem ihre privilegierten Alimentationschancen abzusichern. Der eigennützige Zugriff von Parteien und Amtsträgern auf staatliche Ressourcen und Verteilungsregelungen, aber auch Bestechung und Korruption, Klientelismus und Nepotismus sind Beispiele durchaus verbreiteter Erscheinungen.
Auf der anderen Seite ist aber auch festzuhalten: Die hauptsächlich der Intelligenz entstammenden neuen Eliten bringen ohne Zweifel günstige Voraussetzungen, Qualifikationen und teilweise auch geeignete Handlungsdispositionen mit, um die Modernisierungsbestrebungen ihrer Gesellschaften voranzubringen. Insofern könnten sie tatsächlich die "beste Karte" sein, welche die Geschichte vorrätig hält.