Die Suffragetten
Mit Militanz zum Frauenstimmrecht
Jana Günther
/ 18 Minuten zu lesen
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Nach einer langen, erfolglosen Kampagne für das Frauenstimmrecht radikalisierte sich ein Teil der britischen Frauenbewegung. Die Suffragetten sorgten mit ihren militanten Aktionen für Aufsehen. 1918 wurde schließlich das (eingeschränkte) Frauenwahlrecht eingeführt.
"MEN! What are you? TYRANTS? Or PHILOSOPHERS? Or FOOLS? As TYRANTS we will fight you. As PHILOSOPHERS we will argue you down. As FOOLS we express our contempt for you", proklamierte die Zeitschrift "Votes for Women" 1908. Dabei ist "fight", also kämpfen, wörtlich zu verstehen: Nach einer langen, parlamentarisch erfolglosen Kampagne für das Frauenstimmrecht entfaltete sich die britische Suffragettenbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem "Kampagnenjuggernaut" der britischen Frauenbewegung, der im In- und Ausland für Aufsehen sorgte.
Die Suffragetten als militante Aktivistinnen stehen für die "alte" Frage in sozialen Bewegungen nach der Anwendung der Protestmittel Pate: Sind ziviler Ungehorsam, defensiver oder offensiver Widerstand, Militanz und Gewalt "gegen Sachen" oder weitergehend "gegen Personen" ein adäquates Mittel, um Veränderungen im politischen System zu erreichen? Im europäischen Frauenbewegungsspektrum löste diese Frage eine hitzige Debatte aus; darüber hinaus wurde durch die militanten Aktionen die Rolle der Frau in der Gesellschaft medienwirksam auf die öffentliche Agenda gebracht. So konstatierte die Hamburgerin Hedwig Weidemann 1910 im "Centralblatt", dem Bundesorgan des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF), einer der Hauptorganisationen der bürgerlichen deutschen Frauenbewegung, "Suffragetten sprechen aber nicht nur, sie handeln auch". Doch wer waren die Suffragetten?
Anfänge und politische Wurzeln der Bewegung
Die britische Frauenstimmrechtsbewegung, deren Aktivist_innen und Organisationen sich ab 1897 größtenteils in der sich als konstitutionell verstehenden National Union of Suffrage Society (NUWSS) sammelten, konnten auf eine fast 50-jährige Tradition und insbesondere eine durchaus erfolgreiche Mobilisierungsgeschichte zurückblicken. Die als Suffragist_innen (abgeleitet aus dem lateinischen suffragium = politisches Stimmrecht) bezeichneten Stimmrechtler_innen organisierten sich in einer Vielzahl von Gesellschaften und nutzten konstitutionelle Mittel, um ihr Anliegen – das Frauenstimmrecht zu den gleichen Konditionen wie die Männer, das heißt ein Besitzwahlrecht – durchzusetzen. Jedoch hatten sie bis zur Jahrhundertwende – zumindest auf parlamentarischer Ebene – noch nicht viel erreicht.
Einer jungen Generation an politischen Aktivistinnen gingen die Kampagnen nicht weit genug. Sie versuchten durch neue Mittel der Protestartikulation, dem Thema neues Gewicht im öffentlichen Diskurs zu verleihen. Der Begriff "Suffragette" geht dabei auf die Zeitung "Daily Mail" zurück, die der Frauenemanzipation ablehnend gegenüberstand. Sie erfanden diesen, um die militanten von den gemäßigten Suffragist_innen zu unterscheiden. Die Wortschöpfung diente fortan als abwertende Bezeichnung für Frauenstimmrechtsaktivistinnen, die mit ihrer Vehemenz für "the Cause" mit gängigen viktorianischen Weiblichkeitsidealen brachen und Frauen buchstäblich auf die Straße und damit in die politische Öffentlichkeit brachten. Ihrerseits reagierten die Militanten gewitzt auf die Bezeichnung der "ignorant old boy’s own paper" und die allgemeine Verurteilung ihres politischen Engagements durch Teile der britischen Presse sowie der liberalen Regierung: Sie vereinnahmten die Schmähung und luden die Begrifflichkeit für sich positiv auf. Die Entstehung der Bewegung wird im Allgemeinen mit der Gründung der Women’s Social and Political Union (WSPU) 1903 in Verbindung gebracht und entfaltete sich von da an bis zum Ersten Weltkrieg in mannigfaltigen landesweiten sowie lokalen Kampagnen. Die WSPU zeichnete sich durch ihre – von den Mitgliedern selbst und der allgemeinen Öffentlichkeit jener Zeit so bezeichneten – Militanz aus, die gegen Ende der Bewegung (1913/14) teilweise terroristische Züge annahm.
Als Wegbereiterin und Begründerin der militanten Strömung der britischen Frauenbewegung sowie der WSPU gilt Emmeline Pankhurst (1858–1928). Sie war aktives Mitglied der Independent Labour Party (ILP) in Manchester und setzte sich für soziale Reformen und die Verbesserung der Lage von Frauen in ihrem Distrikt ein. Wenngleich beim Gründungstreffen der WSPU am 10. Oktober 1903 vornehmlich politisch aktive Arbeiterinnen anwesend waren, wurde beschlossen, die Organisation als klassen- und parteiunabhängig zu konstituieren. Unterstützt wurde das Anliegen von Arbeiterinnen und Mitgliedern der ILP wie Teresa Billigton (1877–1964), Annie Kenney (1879–1953), Hannah Mitchell (1872–1956) und Mary Gawthrope (1881–1973). Zunächst ging es diesem kleinen Kreis an Aktiven darum, die Partei davon zu überzeugen, sich für das Frauenstimmrecht einzusetzen. Im Gegensatz zu den konstitutionellen Organisationen schloss die WSPU im Übrigen Männer von einer Mitgliedschaft prinzipiell aus, nichtsdestotrotz unterstützten prominente Mitglieder der ILP – wie beispielsweise Frederik Pethick-Lawrence und Keir Hardie – die Bewegung aktiv. Die enge Beziehung zur britischen Arbeiter_innenbewegung hatte einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die WSPU: Insbesondere hinsichtlich der Mobilisierungs- und Proteststrategien profitierten die Suffragetten von dem gewerkschaftlich und sozialistisch geprägten Umfeld der aktivistischen Industriearbeiter_innenschaft um Manchester herum.
Die konstitutionellen Frauenstimmrechtsorganisationen engagierten sich vornehmlich in parlamentarischer Einflussnahme auf dem Parkett der Lobbypolitik. Dabei unterstützten sie bei den Wahlen insbesondere liberale Politiker, die sich verpflichteten, Frauenstimmrechtsanträge nach ihrer erfolgreichen Wahl ins Parlament einzubringen. Darüber hinaus setzten sie Petitionen auf und planten Versammlungen und Meetings. Entsprechend "höflich" wurden Suffragist_innen von den Parlamentsmitgliedern behandelt.
Demgegenüber erprobte die WSPU demonstrative Protestmethoden – wie Aufmärsche, Kundgebungen unter freiem Himmel – und setzte dabei bewusst auf "Strategien und die Art der Propaganda der Sozialisten", um auf ihr politisches Anliegen aufmerksam zu machen. Nicht zuletzt verweist ihr Slogan "Taten nicht Worte" auf die in anarchistischen Kreisen in Anschlag gebrachte "Propaganda der Tat", und nachweislich bewegte sich Pankhurst in Manchester vor der Jahrhundertwende in Kreisen von Freidenker_innen, Radikalen und Anarchist_innen, die einer Politik der Insurrektion, also des Widerstands gegen die politische Ordnungsmacht, nahestanden. So waren beispielsweise die Anarchisten Errico Malatesta und Sergius Stepniak, die die "Propaganda der Tat" in Italien und Russland Wirklichkeit hatten werden lassen, bei Emmeline Pankhurst zu Gast.
Erste militante Akte und Etablierung
Einen landesweiten Bekanntheitsgrad in Großbritannien erlangte die noch junge WSPU 1905. Am 13. Oktober kam es zu einem regelrechten öffentlichen Skandal, als die zwei WSPU-Mitglieder Annie Kenney und Christabel Pankhurst (1880–1958) in Manchester eine Versammlung der Liberalen mit den Unterhausabgeordneten Edward Grey und Winston Churchill durch Zwischenrufe zum Frauenstimmrecht störten und ein Banner mit dem Slogan "Vote for Women" entrollten. Sie wurden unter Gejohle aus dem Saal entfernt und bei dem sich anschließenden Straßenprotest verhaftet. Ihr Strafmaß begründete sich überdies nicht aus der Störung der politischen Veranstaltung, sondern weil sie Widerstand gegen die Staatsgewalt geleistet hatten und Pankhurst die Polizisten bespuckt hatte. Anstatt die veranschlagte Strafzahlung zu leisten, zogen es beide vor, ins Gefängnis zu gehen, ihre Strafe abzusitzen und damit symbolisch ein Zeichen zu setzen. Wenngleich die Aktion von der Presse vielfach negativ rezipiert wurde, hatte diese Form des auf Sensationen bauenden öffentlichen Protests Nachrichtenwert, was die Suffragetten erkannten und für sich nutzten. Teile des Frauenbewegungsspektrums waren zwar peinlich berührt, aber das Thema Frauenstimmrecht wurde daraufhin verstärkt in der Öffentlichkeit diskutiert. Die Taktik des systematischen hecklings, also des gezielten Störens durch Zwischenrufe in öffentlichen Versammlungen, wurde in der folgenden Zeit von den Suffragetten weiter forciert. Mit zunehmender Bekanntheit der WSPU und des "Suffragettentums" gründeten sich weitere militante Organisationen, wie zum Beispiel die Women’s Freedom League (1907), die Men’s Political Union (1910), die Women’s Tax Resistance League (1909), die United Suffragists (1914) oder die East London Federation of Suffragettes(1914).
Aus strategischen Gründen entschied sich die WSPU, ihre politischen Aktivitäten näher am Zentrum des parlamentarischen Geschehens zu verorten und verlagerte ihre Aktivitäten 1906 nach London. Umzüge, Versammlungen und öffentlichkeitswirksame Aktionen, wie beispielsweise das Sich-selbst-Anketten in der Nähe des Parlaments, direkt in der Downing Street oder vor Häusern namhafter Politiker sowie daraus resultierende Verhaftungen, wurden eben nicht nur mit öffentlicher Häme seitens der Presse quittiert, sondern verschafften den militanten Frauenstimmrechtlerinnen breite Unterstützung. Es zeigte sich, dass diese Art der Öffentlichkeitswirksamkeit sowie eine von Anfang an äußerst strategisch auf Kampagnen setzende Organisationsentwicklung der WSPU wachsende Mitgliederzahlen und hohe Spenden bescherte: "By the end of 1906, the WSPU suffragists were players in the suffrage game, with clearly defined goals and innovative methods." Drei wichtige Säulen der Organisationsentwicklung und des Kampagnenmanagements lassen sich für die WSPU ausmachen: erstens vergütete Campaignerinnen, zweitens die ab 1907 wöchentlich erscheinende Zeitschrift "Votes for Women" und drittens gezieltes Marketing und "WSPU-Merchandising", das heißt Entwicklung und Verkauf von WSPU-Produkten, und gezielte Spendenakquise im öffentlichen Raum.
Die Entwicklung der Suffragettenbewegung lässt sich in vier Phasen systematisieren: einer ersten Phase des demonstrativen Protestes (1903–1908), der zweiten Phase, die durch eine allgemeine Radikalisierung gekennzeichnet ist (1909–1911), der dritten Phase, in der terroristische Gewaltakte eingesetzt wurden (1911–1914), und der vierten Phase, in der sich die Suffragettenbewegung zu Beginn des Ersten Weltkrieges patriotisch erklärte und zum größten Teil auflöste beziehungsweise sich einer neuen Aufgabe widmete (1913/14).
1903–1908: Eroberung der Öffentlichkeit
In der ersten Mobilisierungsphase konzentrierten die WSPU und andere sich als militant definierende Frauenbewegungsorganisationen insbesondere auf öffentlichen Protest, beispielsweise Kundgebungen, Deputationen und Massenveranstaltungen wie die von 500.000 Menschen besuchte "monster demonstration" im Londoner Hyde Park am 21. Juni 1908. Gezielt setzten die Suffragetten auf ein "Spektakel der (großen) Zahlen". Denn es galt insbesondere der von der liberalen Regierung geschürte und der Presse verbreiteten Ansicht beizukommen, Frauen müssten erst öffentlich beweisen, dass sie in überwiegender Anzahl überhaupt das Stimmrecht wollten.
Neben Demonstrationen und Kundgebungen besetzten Suffragetten gezielt öffentliche Plätze, die symbolisch für den männlichen Raum des Politischen standen: Sie entsendeten Deputationen von ihren abgehaltenen Women’s Parliaments zum House of Commons, organisierten Posterparaden vor der Downing Street, störten weiterhin gezielt Veranstaltungen prominenter Politiker und arrangierten viele weitere auf Publizität setzende Aktionen. Dabei kam es nicht selten zu Verhaftungen, weil sie die öffentliche Ordnung störten. Auch klassische Akte zivilen Ungehorsams, wie Steuerzahlungsverweigerungen und Aktionen gegen die Volkszählung, wurden von der WSPU und anderen militanten Organisationen vorangetrieben. Weiterhin beschrieben sie Fußsteige und Wände mit ihren Slogans und Forderungen, plakatierten Straßenzüge oder hielten Spontanreden bei öffentlichen Veranstaltungen. Es ging ihnen darum, das "politisch-moralische Skandalon" der eigenen bürgerlichen Unmündigkeit gewaltfrei, aber "passiv" militant im öffentlichen Raum und gegenüber dem Staatsapparat zu theatralisieren.
In dieser ersten Protestphase zeigte sich, dass die liberale Regierung unter dem Premier Herbert Henry Asquith das Anliegen des Frauenstimmrechts konsequent ablehnte. Zu diesem Zeitpunkt ereigneten sich denn auch die ersten Zerstörungen öffentlichen Eigentums: Die Aktivistinnen Edith Bessie New und Mary Leigh warfen beispielsweise während einer militant deputation am 30. Juni 1908 die Fenster der 10 Downing Street ein. Bei dieser Aktion verhaftete die Polizei neben den beiden weitere 25 Frauen. Hier deutete sich bereits die beginnende Transformation von passiver zu aktiver Militanz an. Suffragetten nutzten in der Folge taktisch die öffentliche Bühne der Gerichtsverhandlungen, um auch in diesem Rahmen auf ihr politisches Anliegen aufmerksam zu machen. Eine der führenden Campaignerinnen der WSPU – Theresa Billington – äußerte bei einer Gerichtsverhandlung wie folgt: "I do not recognise the authority of the Police, of this Court, or any other Court or law made by man." Innerhalb der Gefängnisse setzten sich die Suffragetten dafür ein, als politische Gefangene behandelt zu werden. Gezielt rüttelten die militanten Suffragetten mit ihren Aktionen an den in der britischen Gesellschaft existierenden Geschlechternormen, die Frauen als politisch passiv definierten und auf die Privatsphäre beschränkt festlegten: "Any woman who swerved from societal norms for her sex was suspect. A woman’s crime was not merely an action that broke the law, but a violation of her natural role."
1909–1911: Von passiver zu aktiver Militanz
Die zunehmenden Verhaftungen und gerichtlichen Verurteilungen teils prominenter Suffragetten führten in der zweiten Protestphase zwischen 1909 und 1911 zu einer Radikalisierung der Bewegung. Gemäß dem Slogan "Taten statt Worte" setzte sich das Protestmuster systematischer Gesetzüberschreitungen und Verhaftungen durch. So avancierte beispielsweise das Zerschlagen von Fensterscheiben zu einer offen proklamierten Kampagne der Suffragetten. Marian Wallace Dunlop (1865–1942) trat 1909 als erste inhaftierte Suffragette in den Hungerstreik, um ihre Anerkennung als politische Gefangene und damit verbesserte Haftbedingungen zu erwirken. Andere inhaftierte Militante folgten dem Beispiel, zunächst wurden sie darum vorzeitig entlassen. Das setzte die Regierung allerdings auf längere Sicht unter Druck, und nach verheerenden Ausschreitungen in Birmingham, ausgehend von der Bingley Hall, und der Verhaftung mehrerer Militanter wurde dazu übergegangen, die inhaftierten Suffragetten zwangszuernähren. Diese für die damalige Zeit medizinisch und hygienisch äußerst bedenkliche Prozedur versehrte viele der Frauen körperlich, unter ihnen beispielsweise Lady Constance Lytton, die sich als Arbeiterin verkleidete, um investigativ die harten Strafen und schlechten Verhältnisse in den Gefängnissen für die militanten Frauen der Arbeiterklasse aufzudecken.
Mit Hungerstreiks und Zwangsernährungen trafen die Militanten einen wunden Punkt in der britischen Gesellschaft, denn gerade die radikalen Liberalen und auch irische Parlamentsmitglieder, die 1880 selbst wegen politischer Aktionen inhaftiert worden waren, reagierten empfindlich auf eine derartige Behandlung politischer Gefangener. Die repressive Haltung der liberalen Regierung führte in der Folge zu einer breiten Solidarisierungswelle in der Öffentlichkeit und 1910 zur Gründung eines parteiübergreifenden parlamentarischen Bündnisses, das die Conciliation Bill erarbeitete, um das Frauenstimmrecht einzuführen. Die WSPU erklärte daraufhin öffentlich einen Waffenstillstand, drohte aber mit neuen militanten Akten, wenn das Frauenstimmrecht nicht durchgesetzt würde. Da die Abstimmung der Gesetzesvorlage allerdings über mehrere Parlamentssitzungen verschleppt wurde, kam es immer wieder zu gewaltsamen öffentlichen Ausschreitungen und Straßenkämpfen mit der Polizei. Als Initialereignis gilt der "Black Friday" am 18. November 1910: Während einer Demonstration vor dem Parlament kam es zu schweren Übergriffen der Polizei auf protestierende Frauen.
Die konstitutionellen Stimmrechtsorganisationen hielten an der Conciliation Bill fest. Die NUWSS sah in der Erklärung Asquiths Ende 1911, eine Reform Bill zum allgemeinen Männerwahlrecht einzuführen, eine weitere Chance, Zusatzanträge zum Frauenstimmrecht im Parlament zu stellen, wenngleich sie den ignoranten Umgang mit dem Frauenstimmrechtsanliegen verurteilte. Die Militanten fassten die Erklärung des Premiers ihrerseits als Beleidigung und Provokation auf, sie beendeten ihren "Waffenstillstand" und erklärten, den gewaltvollen Kampf nun fortzusetzen.
Die dritte Phase des Suffragettenprotests zwischen 1911 und 1914 war dementsprechend durch einen weiteren Radikalisierungsschub gekennzeichnet: Die WSPU setzte nicht mehr auf Deputationen beziehungsweise demonstrative Protestformen, sondern trat in eine "guerrilla militancy phase" ein. Neben öffentlichem wurde nun auch gezielt privates Eigentum zerstört. Ausgerüstet mit Hämmern zerschlugen 150 Suffragetten im März 1912 die Scheiben von Geschäften ganzer Straßenzüge in London. Insgesamt entstand allein bei dieser Aktion ein Schaden von 5000 britischen Pfund. Neben der offiziell ausgerufenen "window smashing campaign" nutzten die Suffragetten auch weitere Mittel, um öffentliche Räume zu zerstören: Säure wurde in Briefkästen und auf Golfplätze gegossen, Telegrafenkabel zertrennt, falsche Feueralarme ausgelöst. Für eine aus vielleicht heutiger Sicht vergleichsweise gemäßigte Reform – nämlich das Frauenstimmrecht zu den bestehenden Konditionen des Besitzwahlrechts – wurden nicht nur Briefkästen, sondern auch schottische Schlösser in Brand gesetzt und die Orgel in der Londoner Albert Hall geflutet.Auch das Royal Theatre in Dublin und das Tea House in Kew Gardens fiel den Militanten zum Opfer.
Eine erste Märtyrerin hatte die Bewegung mit Emily Wilding Davison (1872–1913), die sich am 4. Juni 1913 beim Epsom Derby vor das Pferd des Königs warf und kurze Zeit später ihren schweren Verletzungen erlag. Der ihr zu Ehren prozessierende Trauerzug war die letzte große öffentliche Demonstration der WSPU. Der "[g]uerilla warfare" steigerte sich in dieser Protestphase bis hin zu Bombenanschlägen. Allein zwischen März 1913 und Juli 1914 wurden fünf Anschläge durch Militante begangen, der Schaden durch die Zerstörungsattacken wird auf 500.000 britische Pfund geschätzt.
Nicht alle Suffragetten der WSPU oder anderer militanter Organisationen folgten der Logik der Gewalt, und es kam innerhalb des militanten Flügels zu Brüchen und Organisationsausschlüssen. Langjährige solidarische Weggefährten aus den eigenen Reihen, aber auch Unterstützer_innen aus dem sozialistischen Spektrum wendeten sich zunehmend von der WSPU, der nur eingeschränkten Wahlrechtsforderung und dem autokratischen Führungsstil von Emmeline und Christabel Pankhurst ab. Letztere insistierte, die WSPU sei eine "fighting organisation", deren Politik nur von ihnen vorgeben werde: "One Policy, One Programme, One Command".
Die militante Kleingruppentaktik mündete in Verhaftungen wegen Volksverhetzung und Konspiration, Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmung der Zeitschrift "The Suffragette". Als führende WSPU-Mitglieder festgesetzt wurden, flüchtete Christabel Pankhurst nach Paris und koordinierte von dort aus die Organisation. In Scotland Yard wurde eine eigene Aufklärungsgruppe eingerichtet, die aufgrund der Wiederholungsakte der Suffragetten erkennungsdienstliche Maßnahmen einführte. Mit modernen Kameras und Teleobjektiven ausgestattet, begannen die heimlichen Observationen von Suffragetten: "Documents uncovered at the National Archives reveal that the votes-for-women movement probably became the first ‚terrorist‘ organisation subjected to secret surveillance photography in the UK, if not the world." Bei einer Hausdurchsuchung im Londoner Atelier der Suffragette Olive Hocken, um ein Beispiel zu nennen, fanden die Polizisten Drahtschneider, Feuerzeuge, Hämmer, Kerosinflaschen, gefälschte Führerscheine und Banner mit Aufschriften wie "No votes – no telegraphic connections" und "No security by post or wire until justice be done to women".
Inhaftierte Suffragetten begannen zumeist sofort mit Hungerstreiks, was zur erneuten Einführung der Zwangsernährung führte. Um der Situation Herr zu werden und durch die Hungerstreikaktionen nicht neue Märtyrerinnen für die Bewegung zu schaffen, verabschiedete die Regierung 1913 das Prisoner’s Temporary Discharge for Ill Health Act, besser bekannt als der "Cat and Mouse Act". Das Gesetz erlaubte es, durch Hungerstreiks geschwächte Suffragetten zu entlassen und später wieder zu verhaften. Wenngleich das Gesetz außerordentlich kritisiert und von den Suffragetten öffentlichkeitswirksam gegen die liberale Regierung eingesetzt wurde, bot es den Inhaftierten die Möglichkeit, nicht die volle Gefängnisstrafe zu verbüßen und sich aus dem militanten Kampf nach und nach zurückzuziehen.
1913/14: Von der Suffragettenmilitanz zum Patriotismus
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914, der die vierte Phase der Suffragettenbewegung einleitete, kam es zu einer allgemeinen Zäsur in der gesamten britischen Stimmrechtsbewegung. Ein Teil des militanten Flügels erklärte sich sofort patriotisch und stellte den Wahlrechtskampf ein. Dazu gehörte auch die WSPU, denn Christabel und Emmeline Pankhurst unterstützten vehement die Kriegspolitik der Regierung. Die Organisationszeitschrift der WSPU wurde von "The Suffragette" in "Britannia" umbenannt, und die Mitglieder setzten nun auf öffentliche Kampagnen zur Anwerbung für den Kriegsdienst. Die WSPU konnte ihre eigene Militanz in dieser historischen Situation des Krieges als "nationale Militanz" umdeuten. Diese Stoßrichtung legte sie zudem als Bewährungsprobe für die Frauen aus, die nun beweisen könnten, dass sie mündige Staatsbürgerinnen seien. Vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges waren in der Logik der Suffragetten die britischen Frauen die Unterdrückten männlicher Despoten, nun führten sie ihren Krieg nicht mehr gegen die Frauenstimmrechtsgegner, sondern als Britinnen gegen Deutschland. Diese Position teilten aber nicht alle Militanten, was zu Abspaltungen und der Gründung neuer Organisationen wie beispielsweise der Independent Women’s Social and Political Union und der Suffragettes of the WSPU führte.
Im konstitutionellen Flügel wurden ähnliche Richtungsdiskussionen geführt. Auch die demokratisch organisierte NUWSS zerrüttete sich an der Frage der Kriegsbeteiligung, da sich einige Verbandsorganisationen und Mitglieder als pazifistisch verstanden, sodass eine organisatorische Teilnahme an der Home Front erst Ende 1915 durchzusetzen war.
Mit dem Kriegseintritt änderte sich auch das öffentliche und wirtschaftliche Feld in Großbritannien. Die neuen Anforderungen des "industrialisierten Schlachtfeldes" hatten beträchtlichen Einfluss auf den Aktionsraum der industriellen Sphäre. Militärische Anforderungen machten es nötig, veraltete Rollenbilder zu reformieren. Frauen mussten schlichtweg die "Kriegsmaschine"unterstützen. 1917 und 1918 waren 170.000 Frauen im Militärdienst, und allein in der "Land Army" engagierten sich über 300.000 Frauen als Erntehelferinnen. Die Stimmrechtsorganisationen agierten als wichtige Bündnispartnerinnen der Regierung, denn sie waren es, die innerhalb kürzester Zeit Frauen mobilisieren, Kampagnen organisieren und Vernetzungsaktionen starten konnten. Geschickt nutzten militante und konstitutionelle Frauenstimmrechtsorganisationen die Situation und brachten so das Stimmrechtsthema wieder auf die Agenda: Noch während des Krieges im Oktober 1916 arbeitete die Electoral Reform Conference einen neuen Gesetzentwurf zur Wahlrechtsreform aus, der das Frauenstimmrecht für Frauen ab dem 30. Lebensjahr vorsah und 1918 in Kraft trat.
Konstitutionalismus versus Militanz?
Konstitutionelle wie militante Stimmrechtsorganisationen forderten in der britischen Frauenbewegung lediglich ein Wahlrecht für Frauen auf Grundlage des seit 1832 bestehenden und bis dahin mehrfach modifizierten Besitzwahlrechts, das neben den Frauen auch große Teile der Arbeiter_innenschaft ausschloss. Es war allgemeiner Konsens in der Bewegung, dass dies nur der Anfang einer allgemeinen Demokratisierung sein konnte. Dieses grundsätzlich gemeinsame Ziel bewirkte gerade auf der Ebene lokaler und regionaler Kampagnen immer wieder, dass sich Aktivistinnen der verschiedensten Organisationen zusammenschlossen. Auch profitierte die NUWSS von der Medienwirksamkeit und Kampagnenfähigkeit der Suffragettenorganisationen. Die Konstitutionellen organisierten nach sichtbaren Erfolgen der WSPU verstärkt Straßendemonstrationen, brachten ebenfalls eine Zeitung – die "Common Cause" – heraus und adaptierten weitere Taktiken, mit denen sie erfolgreich Mitglieder und Spenden akquirierten. Die NUWSS stieß sich am zivilen Ungehorsam und den militanten Taktiken, die für sie nicht infrage kamen und innerhalb der Organisation nie eine Mehrheit fanden, wenngleich die Frage mehrfach mit den Mitgliedsgesellschaften diskutiert wurde. Anders als im deutschen Kaiserreich spaltete sich die Bewegung also weniger am Klassenkonflikt als an der Frage der Anwendung der Mittel. Vielmehr gab es sogar überraschende Annäherungen: So gelang es der ursprünglich liberal orientierten NUWSS, Kontakte zur Arbeiter_innen- und Gewerkschaftsbewegung zu knüpfen und gemeinsame Kampagnen zu etablieren: "We stand for Justice for the workers and women."
Doch auch die Protestgeschichte der WSPU ist eine, die als erfolgreich interpretiert werden muss: Wenngleich die Militanten mit ihrem "reformist terrorism", zu dem Emmeline Pankhurst öffentlich aufgerufen hatte, kurz vor Kriegsbeginn in der öffentlichen Meinung sowie der Bewegungsöffentlichkeit zunehmend ins Abseits geriet, ist ihre Rolle für die Frauenbewegung nicht zu unterschätzen. Denn es gelang ihnen nicht nur für die Einführung eines Frauenstimmrechts effektiv zu mobilisieren, sie machten neue Protestmethoden für die Frauenbewegung attraktiv, trugen die Forderung nach politischer Gleichberechtigung in die breite Presseöffentlichkeit, und räumten radikal mit dem Image der politisch unbewanderten und passiven Frau auf. Ein solches "politisches Kampfpotential zu entwickeln, kann als besondere Pionierleistung" angesehen werden.
ist promovierte Sozialwissenschaftlerin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrbereich für Makrosoziologie am Institut für Soziologie der Technischen Universität Dresden. E-Mail Link: jana.guenther@tu-dresden.de
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