Einleitung
Als sich am 30. Januar 2003 der Todestag Mahatma Gandhis zum fünfundfünfzigsten Mal jährte, wäre dies ein schöner Anlass gewesen, im politischen Teil der Zeitungen über den Niedergang der Idee der Gewaltlosigkeit in den Zeiten des Terrorismus einen Kommentar zu schreiben. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) brachte zwei Wochen später eine genaue Beschreibung der Gewaltverhältnisse im heutigen Indien vor dem Hintergrund des politischen Konflikts mit Pakistan. Der Bericht erschien im Feuilleton (FAZ vom 17. 2. 2003) - wie schon viele dem Reich der Beliebigkeit entflohene Politikanalysen und -kommentare zuvor. "In diesem Krieg werden wir alle dümmer und gemeiner", lesen wir eine Woche später im Aufmacher des Feuilletons der Süddeutschen Zeitung, der über den soeben ausgebrochenen "Weltbürgerkrieg" mit der Keckheit des Ahnungslosen schwadroniert. Seine Überschrift scheint Programm: "Dümmer geht's immer."
Das war nicht immer so. Das verehrte Feuilleton der deutschen Publizistik - Umschlagplatz der aktuellen Kulturkritik, Brennpunkt der kulturpolitischen Analysen, Forum für die Gestaltungskraft der deutschen Sprache? Tempi passati.
I.
Sobald das aktuelle politische Geschehen die Möglichkeit eröffnet, Hintergründiges oder Grundsätzliches zu erörtern - und wann tut es dies nicht? -, findet sich ein wortmächtiger Beitrag im Feuilleton. Und dies nicht nur zum Thema Politik. Annähernd jedes gesellschaftspolitische Thema, sofern es nur schlagzeilenträchtig oder irgendwie folgenreich erscheint, liefert den Feuilletonisten Stoff für Kabale und Kontroverse: Rentenprobleme und Gesundheitsvorsorge, Börsencrash und Friedenssicherung, der Antiamerikanismus der Franzosen und die Frankophobie der Amerikaner: Kaum ein Talkshow-Thema, für das sich das Feuilleton einer der überregionalen Tageszeitungen nicht längst schon stark gemacht hätte. Das Feuilleton scheint sich zu einem Meta-Ressort mit Allzuständigkeit aufgebläht zu haben, dem nichts zu groß oder zu entfernt erscheint. Das dem Feuilleton angestammte Sachgebiet - die Kulturpolitik, die Veranstaltungskultur inklusive Belletristik, die "kleine Form" des literarischen Textes - findet sich zusammengedrängt auf den hinteren Seiten, wo nur noch die kleine Schar der unerschütterten Kulturfreunde unter den Lesern hinfindet.
Vom Kritiker und Rezensenten zum Leitartikler des Beliebigen: Zu dieser Ausdehnung des Themenfeldes entschlossen sich die Blattmacher bereits kurz nach der Wende. Damals penetrierte das Politische in Gestalt der Spitzel-Biographien einst renommierter DDR-Literaten das Feuilleton. "Die Literaturkritik musste erkennen, dass sie aus der Literatur nichts über die politische Wirklichkeit, aus der politischen Wirklichkeit aber viel über die Literatur lernen konnte", rekapitulierte der Feuilletonchef der Zeit, Jens Jessen, früher FAZ-Feuilletonist, jene Ära der doppelten Wende. Plötzlich entdeckte man Kulturjournalisten, wie sie in der Rolle des Rechercheurs in der Gauck-Behörde saßen und IM-Akten durchforsteten oder auf Interviewreise waren.
Man kann sich streiten, ob damals die Politisierung des Feuilletons einem inneren Bedürfnis entsprach. Das Argument, es hätten sich immer weniger Leser für die erstarrten Rezensionsrituale interessiert, hat einiges für sich. Vermutlich wäre das tradierte Feuilleton eines Tages mangels Leserinteresse weggeschrumpft wie weiland die "Gelehrten Artikel". Ebenso triftig ist der Eindruck, dass die Politikressorts der großen Medien im aktuellen Ereignisgewusel der deutsch-deutschen Annäherung den Blick für die größeren Zusammenhänge verloren hatten. Man wollte tagesaktuell berichten und nur berichten - und wurde blind für den Hintergrund. Die ersten hintergründig geschriebenen Reportagen über die kulturellen Brüche und Verwerfungen im Prozess der Wiedervereinigung standen nicht im Politikteil, sondern im Feuilleton. Jedenfalls war das Nachrichten- und Politikressort mit dem Problemthema Deutschland während vieler Monate heillos überfordert - nicht anders als kurz darauf die Wissenschaftsjournalisten mit dem ethisch komplizierten Thema Biogenetik und wenig später die Wirtschaftsjournalisten mit der Glitzerwelt des E-Commerce.
Ihre neue Rolle machte den Feuilletonisten auch Spaß, weil sie ihren Hang zum Abgründigen mit der dem Genre eigenen Mischung aus Bericht, Analyse und Meinung auf dem ungewohnt bedeutungsvollen Terrain des Politischen ausleben konnten. Und mit der Überzeugung war man oft rascher bei der Hand als mit dem strapazierenden Sachverstand. Die Trennung zwischen Nachricht und Meinung hielt mancher Feuilletonist ohnehin für eine grausame Amputation des freien Geistes.
II.
Das Feuilleton als Forum der Politisierer, aber auch als Ort des Schauderns angesichts gesellschaftlicher Offenbarungen: Diese Rolle ist nicht neu; neu ist allein die mediale Gesamtinszenierung. Vor zweihundertunddrei Jahren, am 22. Juni 1800, platzierte sich das Feuilleton erstmals "unter dem Strich" der Politikberichterstattung (im Pariser "Journal des Débats"; deutsche Blätter folgten dem Beispiel), zunächst als Vorschule der Ästhetik mit dem tieferen Zweck der Kultivierung des Geschmacks, bald darauf als Herold des Tiefsinns: "Was nicht in der Wahrheit steht, das stirbt", wusste der Feuilletonist Fontane.
Der Gestus des Kulturkritikers verschmolz in der Zeit des Vormärz mit der Rolle des politisierenden Kritikers, der die Zeitläufte mit der strengen Miene des Moralisten, später dann mit dem weitschweifenden Auge des Utopisten durchschaut. Daraus wurde eine beliebte Sparte, die gleichsam unterhalb des Kontrollblicks der Zensoren mit abstrakt-akademischen Pamphleten die Debattierrunden in den Salons bediente.
Mit der Vergesellschaftung der Hochkultur unter der Maxime der "Erziehung des Menschengeschlechts" (Lessing) von der Barbarei zur Sittlichkeit, dann mit dem auf Selbstverständigung gerichteten Interesse des erstarkenden Bürgertums, zuletzt mit der Alphabetisierung und folgerichtig der Kommerzialisierung der Kulturproduktion etablierte sich zum Ausgang des 19. Jahrhunderts das Feuilleton auch in den deutschen Tageszeitungen. Neue Ressorts wurden geschaffen, Berichterstatter und Rezensenten als Redakteure verpflichtet, um das kulturelle Geschehen zu popularisieren und ihm möglichst spektakuläre Seiten abzugewinnen. Man erinnert sich an das Grausen der Stilisten der Hochkultur, die sich über die schrägenTöne des modischen "Feuilletonismus" der "Schreiberlinge" (Karl Kraus) empörten.
Die Verleger der Großstadtzeitungen indessen begriffen rasch, dass dieser populäre "Kulturjournalismus" zum Garant für publizistisches Renommee geworden war. Edelfedern wurden an- und abgeworben, Schriftleiter transferiert. Eine neue Darstellungsform - zwischen Essay, Betrachtung und Analyse angesiedelt - sollte die schon fünfzig Jahre zuvor proklamierte "Emancipation der Prosa" (Theodor Mundt) auf Augenhöhe der Leserschaft vollziehen. Geschichten von der Front der Forschung, romanhafte Storys über die Kulturprominenz mit ein bisschen Herzschmerz, Fortsetzungsromane aus der Welt der Fiction - dies war das Amalgam des neuen, aufs Spektakuläre gerichteten Kulturjournalismus der Jahrhundertwende. Ein Marktplatz auch der Eitelkeiten, auf dem die neuen Ich-Kritiker "das Bühnenwerk mit einem Sprachkunstwerk beantworten" wollten (Siegfried Jakobsohn).
Die Ausdehnung des Kulturbegriffs ging einher mit der veränderten Rolle der Tagespresse, die sich nun auch mit den sozialen Gegensätzen derKlassengesellschaft befasste. Sozialkritische Essays, Schilderungen und Reportagen entstanden unter der Regie von Kulturjournalisten. In den Vereinigten Staaten gab es die recherchierten Berichte der "Muckrakers", darunter die journalistischen Schriftsteller Upton Sinclair und Ida Tarbell. In Prag und Wien waren es Sozialreporter wie Egon Erwin Kisch und Max Winter, in den deutschen Blättern vor allem die Feuilletonisten Benno Reifenberg, Joseph Roth, Siegfried Kracauer und Kurt Tucholsky, deren Texte "das Gesicht der Zeit zeichnen" (Joseph Roth) und deren politische Hintergründe ausleuchten sollten. Kracauer erkannte die über das Subjektive der Kulturbetrachtung weit hinausgehenden Möglichkeiten des neuen Kulturjournalismus, soweit er den aktuellen Zustand der Gesellschaft zum Thema nahm. Er gab ihm zur Aufgabe, die sozialen Probleme konkret zu beschreiben und plädierte für eine journalistische Methode, die Beobachtung (Erfahrungswissen) und analytische Reflexion (theoretisches Wissen) zu "Denkbildern" (Walter Benjamin) zusammenfügen sollte.
Diesen hintergründigen Kulturjournalismus hat der Nationalsozialismus zerstört. An seine Stelle setzte er "das 3. politische Ressort" als Huldigung an den Rassenwahn. Das Feuilleton der fünfziger und sechziger Jahre blieb aus Scheu vor diesem Politikmissbrauch vollständig traditions- und gedächtnislos. Es erneuerte die Pflege der Veranstaltungskultur nach dem Muster des Fachjournalisten, der seine Kompetenz über den möglichst intensiven Gebrauch der Fachsprache unter Einsatz komplizierter Satzstrukturen zum Ausdruck bringt.
III.
Das in den neunziger Jahren neu etablierte, auf die gesellschaftspolitische Themenpalette zugreifende Kulturressort gründet demnach in einer Tradition, deren Merkmal der doppelte Kulturbegriff ist: sowohl für die politische Kultur als auch für die Kultur des Politischen zuständig zu sein - und den beide verbindenden Hintergrund als Bühnenbild des Zeitgeists zu beschreiben. Diese doppelte Zuständigkeit ergibt gerade heute unter dem Leitbild des Wertepluralismus durchaus Sinn.
Die sich als offen verstehende Zivilgesellschaft zeigt sich nicht gewillt, einem autoritären Normengeber zu folgen; sie möchte vielmehr ihre Orientierung aus sich selbst finden - jedenfalls ihrem Anspruch nach. Die moralischen Eigenschaften eines Superstars; die Frage nach der Legitimation eines Militärschlags gegen den Irak; die Zulässigkeit der Zellklonung an sich oder nur für sich; das Flaschenpfand und das kulturell notwendige Maß an Umweltschutz; die Sozialverträglichkeit fremder Ethnien in Regionen, wo jeder vierte Erwachsene erwerbslos ist; die institutionelle Sicherung der Homo-Ehe; die Aufhebung der bürgerlichen Ordnung am Beispiel der Ladenschlusszeiten: Die Zahl der normativ fundierten Themen nimmt zu, die diese Gesellschaft als Probleme der Selbststeuerung begreift - und auch selbst lösen möchte.
So eignet sich das gewandelte Feuilleton als Forum, um die mit diesen Problemfragen verbundenen Wertekonflikte öffentlich zu diskutieren. Die Kulturjournalisten sollten hier die Rolle des öffentlichen Moderators übernehmen und dafür Sorge tragen, dass die Zivilgesellschaft ihrem Selbstanspruch nahe kommt: Dies wäre der neue Modus der politischen Kultur.
IV.
Solche von den Medien inszenierte Diskurse sind indessen schwierig zu führen und stets gefährdet, in die Trivialisierung durch das Entertainment abzugleiten: Palaver statt Diskurs. Doch das größte Risiko sehe ich in der wachsenden Selbstreferenz medialer Kommunikation: Wenn die Medien selbst als die Kultur erscheinen, über die sie berichten. Wenn Medienveranstalter vorherrschende Auffassungen immer weiter verstärken, um ihre Reichweiten zu sichern. Oder wenn Medienakteure sich als Meinungsführer selbst in Szene setzen und so den Meinungstrend zementieren, wie dies in den USA zu beobachten ist, wo der nach dem 11. September 2001 von den Medien in Gang gesetzte Prozess gesellschaftlicher Orientierung umkippt in den sich steigernden Meinungsterror des Mainstream, gegen den zu publizieren sich keines der Mainstream-Medien mehr getraut. Diese in den USA derzeit zu beobachtende Hysterisierung der öffentlichen Meinung durch mediale Rückkoppelung speist sich aus vielen Quellen. Eine davon mag der Umstand sein, dass es dort - von einigen intellektuellen Zeitschriften und Internetforen abgesehen - praktisch keinen Kulturjournalismus gibt, der über den Zirkel des Cultural Entertainment hinausblickt, den Zustand der Gesellschaft kritisch unter die Lupe nimmt und die Befunde öffentlich diskutiert.
Die mediale Rückkoppelung bremsen und Außenreferenz herstellen: Genau dies könnte der neue Kulturjournalismus erreichen, sofern er nicht nur Beliebigkeiten aufgreift und politisiert, vielmehr die heikle Rolle des thematisierenden Moderators ausfüllt. Um die einleitend genannten Beispiele aufzugreifen: Indem er einen kosmopolitischen Moslem aus dem Irak und einen Hindu-Geistlichen aus Indien einlädt, den versteckt-militanten Fundamentalismus in unserer Gesellschaft mit dem prüfenden Blick des Außenstehenden zu lokalisieren und zu beschreiben.
Solche Feuilletons böten genügend Stoff für eine facettenreiche öffentliche Diskussion, die der Selbstaufklärung auch wirklich dient.
Berücksichtigte Literatur:
Otto Groth, Allgemeine Betrachtungen zur Kunstkritik, in: Publizistik, (1963)8, S. 478ff.
Wilmont Haacke, Handbuch des Feuilleton, 3 Bde., Emsdetten 1951 - 1953.
Michael Haller (Hrsg.), Die Kultur der Medien. Untersuchungen zum Rollen- und Funktionswandel des Kulturjournalismus in der Mediengesellschaft, Münster 2002.
Jens Jessen, Das Feuilleton: Fortschreitende Politisierung, in: M. Haller (Hrsg.), ebd., S. 29 - 40.
Reinhard Kosellek, Kritik und Krise, Freiburg - München 1959.
Siegfried Kracauer, Kino. Essays, Studien, Glossen zum Film, hrsg. von Karsten Witte, Frankfurt/Main 1974.
Ernst Meunier/Hans Jesse, Das deutsche Feuilleton, Berlin 1931.
Joseph Roth, Unter dem Bülowbogen. Prosa zur Zeit, Köln 1994.