Kultur und Kulturpolitik haben in Deutschland für Staat und Gesellschaft einen sehr hohen Stellenwert; dies oft zur Verwunderung mancher Nachbarstaaten, wo ein solch starkes Engagement eher unbekannt ist bzw. sogar irritierend wirkt. Die Kultur sich selbst zu überlassen käme uns hingegen kaum in den Sinn, denn von überall her werden Ansprüche an sie formuliert und Subventionen verteilt. Die Folge ist, dass oft weniger die Inhalte als die Rahmenbedingungen der Kulturpolitik im Vordergrund stehen. Die Beiträge dieses Heftes sollen dazu anregen, jeweils beide Aspekte wahrzunehmen.
Die Überfrachtung des Kulturellen mit politisch-geselllschaftlichen Bekenntnissen hat mittlerweile auch das Feuilleton der großen Tageszeitungen erreicht. Wie Michael Haller in seinem Essay aufzeigt, ist diese Entwicklung eher als problematisch zu bezeichnen: So begrüßenswert einerseits eine "Demokratisierung", eine größere Teilhabe der Öffentlichkeit an der Hochkultur ist, so besteht andererseits die Gefahr, dass die Essenz des Künstlerisch-Kulturellen immer mehr von gesellschaftlichen Normen und politischen Tagesaktualitäten überlagert wird.
Die Eigenständigkeit der Kultur zu betonen ist auch die Intention der Beiträge von Oliver Scheytt und Max Fuchs. Bei aller gesellschaftlichen Verpflichtung dürfe das Kulturelle nicht nur Mittel zum Zweck sein, sondern könne im kreativen Sinne durchaus als Selbstzweck angesehen werden. Diese Auffassung müsse auch der kulturellen Bildung zugrunde liegen, die vor allem in den Schulen wieder intensiver gepflegt werden sollte. Kulturpolitik in Zeiten der Globalisierung habe darüber hinaus nicht nur die ökonomischen Rahmenbedingungen zu sichern, sondern auch die eigenen kulturellen Traditionen bewusster zu machen; nur so könne der vielfach geforderte interkulturelle Dialog Substanz erhalten.
Eine etwas andere Sicht auf die Ziele und Inhalte staatlicher Kulturpolitik vermitteln Michael Opielka und Tobias J. Knoblich: Ein moderner Kulturstaat dürfe - nicht zuletzt aufgrund der hohen Subventionen von derzeit jährlich etwa sieben Milliarden Euro - den Anspruch erheben, bestimmte Aspekte der Kulturpolitik nicht nur als Gesellschaftspolitik, sondern auch als eine besondere Form von Sozialpolitik zu gestalten. Kultur wird hier als "öffentliches Gut" verstanden, als wohlfahrtsstaatliche Investition, ohne die ein demokratisches Gemeinwesen, eine innovative Industriegesellschaft ihr kreatives Fundament beeinträchtigen würde. Es handele sich hier also um "kulturelles Kapital", das der Staat nicht allein den Marktgesetzen überlassen dürfe. Diese Sicht ist zumal in den ostdeutschen Bundesländern verbreitet, da es hier eine besonders stark ausgeprägte gesellschaftliche Orientierung der Kultur gegeben hat. Diese sozial verpflichtende Tradition wird durch die Förderung zahlreicher Soziokultureller Zentren heute allerdings nicht mehr staats-, sondern bürgernah aufgefasst. Dementsprechend liegt dem Konzept der Soziokultur in Ostdeutschland ein möglichst weitgefächerter Kulturbegriff zugrunde.
Einen Ausblick auf kulturelle Standortbestimmungen in Europa unternimmt Yasemin Soysal. Standen hier längere Zeit die Definitionen der nationalen Identitäten im Vordergrund, so sei angesichts der kulturellen Globalisierung nunmehr verstärkt eine europäische Sicht notwendig. Was aber bestimmt eine europäische kulturelle Identität? Hier beginnt erst ein längerer Prozess, vor allem in der schulischen Bildung. Neben der Hochkultur wird der jeweilige nationale Bildungsbereich das wichtigste Fundament für die Schaffung einer kulturellen europäischen Identität sein.