Einleitung
Die Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist durch ein anhaltend hohes Maß an organisierter Gewalt geprägt. Diese umfasst unterschiedlichste Formen, die in ihrer physischen und psychischen Zerstörungswirkung auch unterhalb der Kriegsschwelle verheerend sind: Der Alltag vieler Menschen ist bestimmt durch Bandenkriminalität, mafios organisierte Verbrechersyndikate (Schutzgelderpressung, Waffen- und Drogenhandel etc.), staatliche Repression, die Willkürherrschaft lokaler Machthaber und Warlords oder - in ländlichen Gebieten - die gewaltsame Auseinandersetzung um ungeklärte Eigentums- und Nutzungsrechte an Land, Weidegründen und Wasserstellen. Zurzeit werden darüber hinaus mehr als 40 Konflikte mit kriegerischen Mitteln ausgetragen, d.h. unter massiver und kontinuierlicher Gewaltanwendung durch militärisch organisierte Konfliktparteien. Länder, deren politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklung durch die verschiedensten Ausprägungen kollektiver Gewalt blockiert oder die gar vom inneren Zerfall bedroht sind, sollen im Folgenden als Krisenländer bezeichnet werden. Sie finden sich in nahezu sämtlichen Regionen des Südens (Subsahara-Afrika, Arabischer Raum, Süd-, Südost- und Ostasien, Lateinamerika) und in einigen Subregionen des Ostens (hier: Balkan, Kaukasus, Zentralasien, Teile der Russischen Föderation).
Haben solche Krisenländer eine Chance auf tragfähigen Frieden? Lassen sich die häufig tief verwurzelten Gewaltstrukturen so transformieren, dass ein umfassender gesellschaftlicher Wandel und damit auch eine gedeihliche Entwicklung in Gang gebracht wird? Bildet die Konsolidierung von Staatlichkeit durch institution building, die Etablierung rechtsstaatlicher Strukturen und Dezentralisierung einen Ausweg? Dies sind die Leitfragen des vorliegenden Beitrages.
I. Krise des Staates und Strukturen der Gewalt
Die von Europa übernommenen Strukturen von Staatlichkeit existieren in zahlreichen Krisenregionen bestenfalls in formaler Hinsicht. Nicht selten haben sich Herrschaftscliquen den Staatsapparat angeeignet und finanzieren sich maßgeblich aus den Erlösen, die sich aus dem Mehrwert der Landwirtschaft, den Einkommen des Exportsektors, dem Handel mit wertvollen Rohstoffen oder gar Drogen abschöpfen lassen. Oftmals überleben sie auch durch die externe Alimentierung von Entwicklungshilfegebern (insbesondere in Subsahara-Afrika und Zentral-/Südasien).
1. Das Paradox des "lame leviathan"
Der Staat in Krisenländern erweist sich in gewisser Weise als stark und schwach zugleich und kann pointiert mit dem Paradox des "lame leviathan"
Der unzureichend konsolidierte Staat in Krisenländern ist in der Regel durch ein hohes Maß an Zentralisierung und den Mangel an rechtlich garantierter Autonomie für die lokale Ebene gekennzeichnet. Die "bürokratischen Staatsklassen"
Das hier umrissene Versagen eines oftmals nur rudimentär oder formal existierenden Staates in Krisenländern ist Dreh- und Angelpunkt für die Erklärung innerstaatlicher Konflikte sowie für die geringe Resistenz von Krisenländern gegenüber externer Destabilisierung und fortdauernder Entwicklungsblockaden. Zugleich kann durch kriegerische Gewalt ein einsetzender Staatsverfall beschleunigt werden. In Europa war Staatsbildung ein Prozess, der sich über mehrere Jahrhunderte vollzogen hat. Krisenländer des Südens und Ostens sind gefordert, von einem geringeren Niveau indigener Staatsbildung aus in weitaus kürzerer Zeit den Sprung hinweg zu konsolidierten Nationalstaaten zu schaffen.
2. Klientelistische Herrschaftssicherung und die Rolle der Entwicklungspolitik
Zentrales Prinzip der Herrschaftssicherung in Krisenländern ist der Klientelismus, der in der Regel durch verschiedenste Formen der Patronage (Begünstigung bei der Ämtervergabe) ergänzt wird. Staatsbürokratische Eliten betätigen sich häufig in einer Mischung aus "Makler"
Eine kritische Betrachtung verdient in diesem Kontext die Rolle der Entwicklungshilfe. Sie konnte in der Vergangenheit - bei allen unbestrittenen Erfolgen im Bereich der Grundbedürfnissicherung - in vielen Fällen durchaus als überlebensnotwendige Infusion für den Klientelismus interpretiert werden. Für die Regierungen des Südens war die fortlaufende Finanzierung durch externe Geber wichtiger als die Verantwortlichkeit gegenüber der eigenen Bevölkerung. In manchen Fällen lässt sich sogar nachweisen: Machteliten verhalten sich letztlich rational, wenn sie in ihren Ländern weder Entwicklung fördern noch Armut bekämpfen - erhalten sie sich damit doch die Voraussetzung für den Zufluss weiterer Geber-Gelder.
3. Strukturen und Formwandel der Gewalt
Durch die mit dem Paradox des "lame leviathan" bereits angesprochenen Autoritätskrise staatlicher Institutionen sind in zahlreichen Krisenländern "Gewaltmärkte"
Da der Staat die Kriminalität oft nicht wirksam eindämmen kann, ja mitunter sogar direkt an ihr beteiligt ist, fällt er als Garant von Recht und Ordnung in vielen Ländern weitgehend aus.
II. Konsolidierung und Reform des Staates: Konzepte und Erfahrungen aus Krisenländern
Versagen, Verfall und Kollaps zahlreicher Staaten
1. Die Reform des Sicherheitssektors
Der Sicherheitssektor (Militär, paramilitärische Sicherheitskräfte, Polizei, Geheimdienste) ist innerhalb des institution building der vermutlich sensibelste Bereich.
Von zentraler Bedeutung ist aus rechtsstaatlicher Perspektive eine klare Aufgabenabgrenzung zwischen den Sicherheitskräften sowie ihre Unterordnung, Rechenschaftspflicht und Verantwortlichkeit gegenüber zivilen Autoritäten. Das Militär hat - wie andere Organisationen - eine Tendenz, sich immer neue Aufgaben anzumaßen. Zivile Autoritäten setzen dem in Krisenländern nicht genügend Grenzen - sei es, weil sie Widerstände fürchten, sei es, weil sie bei Gefährdung ihrer Macht das Militär zu Hilfe rufen wollen.
Typisch für Entwicklungsländer ist eine problematische Kompetenzverteilung zwischen den verschiedenen Teilen des Sicherheitsapparats. Die zur Landesverteidigung mit schwerstem Gerät ausgerüstete Armee ist häufig auch für die innere Sicherheit zuständig, während die Autorität und Ausrüstung der Polizei eher schwach ist. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, die Polizei besser auf innerstaatliche Aufgaben vorzubereiten, die bislang noch vom Militär wahrgenommen werden. Darüber hinaus muss es innerhalb der Sicherheitskräfte klare Hierarchien geben, die von ebenso klar definierten zivilen Strukturen kontrolliert und beaufsichtigt werden. Nur Transparenz durch öffentliche Kontrolle ist in der Lage, verdeckte Zuwendungen und Aufgaben jenseits der Legalität zu verhindern. Wichtig hierfür ist ein funktionierendes Parlament, das gerade über seine Haushaltsbefugnisse Kontroll- und Entscheidungsrechte ausübt. Die Unabhängigkeit der Justiz und die Freiheit der Medien sind schließlich unabdingbar, sollen Menschenrechtsverletzungen der Streitkräfte auch tatsächlich geahndet oder gar präventiv verhindert werden.
Am Beispiel Guatemalas lassen sich die Probleme einer Reform des Sicherheitssektors veranschaulichen.
2. Die Förderung einer unabhängigen Justiz
Neben dem Sicherheitssektor bildet die Justiz ein Kernelement von Staatlichkeit. Rechtsstaatlichkeit ist die zentrale Voraussetzung institutionalisierter Konfliktbearbeitung und damit im innerstaatlichen Bereich der beste Garant, den Rückgriff auf Gewalt zu verhindern. Welches sind die Merkmale eines funktionierenden Rechtswesens? Drei Elemente lassen sich angeben: eine unabhängige und unparteiische Richterschaft; das Recht auf Verteidigung und einen fairen Prozess; die Verankerung rechtsstaatlicher Grundsätze wie zum Beispiel die Unschuldsvermutung zugunsten des Angeklagten. In vielen Ländern sind diese Bedingungen nicht erfüllt. Die Justiz ist hier nur "effektiv", wenn es darum geht, regierungskritische Journalisten oder oppositionelle Politiker zu verhaften und zu verurteilen. Privatrechtliche Streitigkeiten wie auch strafrechtliche Angelegenheiten werden hingegen angesichts fehlender Qualifikationen und Ressourcen kaum angemessen verhandelt. Versagt der Staat bei der Verfolgung eklatanter Verbrechen, sind Selbst- und Lynchjustiz die Folge - ein Phänomen, das etwa in Guatemala in den vergangenen Jahren erschreckend zugenommen hat.
Die Mängel im Justizapparat von Krisenländern sind häufig derart schwerwiegend, dass die Bevölkerung die öffentliche Rechtspflege als nichtexistent betrachtet. Unzureichende Ausbildung, klandestine Strukturen, eine mangelhafte Koordination zwischen Ermittlungsbehörden und Polizei sowie die Verfilzung politischer, militärischer und juristischer Eliten verhindern, dass Kriminelle abgeurteilt werden. Dadurch entstehen unrühmliche Traditionen von Gesetz- und Straflosigkeit. Hinzu kommt, dass fehlende Rechtssicherheit und Erwartungsverlässlichkeit Geschäftsleute und Investoren von mittel- und langfristigen Planungen abhalten.
Wie kann die Reform der Justiz von außen unterstützt werden? Verschiedene Strategien sind möglich:
- ein kritischer Politikdialog, der die Regierung ermutigt und drängt, der Justiz die Kontrolle des Gewaltmonopols zu ermöglichen;
- technische Unterstützung für die Dezentralisierung der Justiz, um gerade auf lokaler Ebene Recht und Gesetz zur Geltung zu verhelfen;
- Aus- und Weiterbildungsanstrengungen bei Richtern, Staatsanwälten, Verteidigern und Justizbeamten;
- die Einführung von transparenten Auswahlverfahren, damit Spitzenpositionen in der Justiz nach Qualität der Bewerber und nicht nach deren politischen Loyalitäten besetzt werden;
- die Stärkung von Medien und Menschenrechtsorganisationen, damit diese ihre Rolle als watchdogs und als "vierte Gewalt" jenseits des staatlichen Dreiecks von Exekutive, Legislative und Judikative wahrnehmen können.
Georgien ist ein Beispiel dafür, wie maßgeblich eine unzulängliche Rechtsordnung zur Unsicherheit beiträgt.
Doch werden Gesetze nach wie vor nur schleppend implementiert, Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Organe nicht bestraft. Korruption und Filz sind weit verbreitet. Zudem gibt es ein beachtliches Gefälle zwischen Tbilissi und den ländlichen Gebieten. Schließlich hat der Medienbeauftragte der OSZE wiederholt darauf hingewiesen, dass Medien immer wieder in ihrer Unabhängigkeit und in der Freiheit ihrer Berichterstattung gefährdet sind. Die Erkenntnis: Gesetzes- und Verfassungsänderungen können nur dann greifen, wenn sie mit einer gezielten Bekämpfung von Klientelismus und Patronage verbunden sind. Technische Unterstützung für den Justizsektor sollte in diesem Sinne konditioniert und an effektive Möglichkeiten öffentlicher Kontrolle gekoppelt werden.
3. Dezentralisierung und Machtteilung
Neben dem institution building spielt bei der Reform und Transformation des Staates die Frage der horizontalen und vertikalen Machtteilung eine wichtige Rolle. Dies gilt besonders für multiethnische Staaten. Auf horizontaler Ebene können Minderheiten beispielsweise durch Veto-Rechte oder Proportionalitätsregeln bei der Besetzung öffentlicher Ämter politisch beteiligt werden. Auf vertikaler Ebene geht es um Dezentralisierung. Sie zielt auf eine gewisse Verlagerung der Entscheidungsgewalt vom Zentralstaat zur regionalen und lokalen Ebene ab, in der Regel in Form eines föderalistischen Staatsaufbaus und einer Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung. Dadurch können nicht zuletzt Spielräume für eine ethno-regionale Selbstbestimmung eröffnet werden, die weiter gehende Forderungen - bis hin zur Sezession - nicht virulent werden lassen.
Dezentralisierung birgt Chancen in sich: Auf lokaler Ebene sind am ehesten problemnahe Lösungen zu erwarten. Elitenkonkurrenz lässt sich entschärfen, wenn Machtfragen nicht nur in der nationalen Arena entschieden werden, sondern sich auf regionaler und lokaler Ebene Gegengewichte bilden. In Situationen von Staatszerfall kann die lokale Ebene in manchen Fällen recht gut mit autonomen Strukturen für Entwicklung und ein Mindestmaß an menschlicher Sicherheit sorgen, so etwa am Horn von Afrika in Somaliland und Puntland.
Zugleich ist Dezentralisierung nicht ohne Risiken.
Das Beispiel Äthiopiens zeigt in diesem Zusammenhang, wie weit Verfassungsanspruch und -wirklichkeit auseinander klaffen können. Obwohl der Staat nach dem Sturz des von der Sowjetunion und Kuba unterstützten Derg-Regimes (1974 - 1991) in eine föderale Republik umgewandelt wurde, setzt das de facto bestehende Einpartei-Regime diese konstitutionell verankerte Regierungsform in zahlreichen Fällen als raffiniertes Instrument politischer Herrschaftssicherung ein. Siegfried Pausewang hat dies auf den Punkt gebracht: "Die Verwaltung ist zwar dezentralisiert, aber sie wird von der Partei zentral kontrolliert."
III. Fallstricke des staatszentrierten Ansatzes und Konsequenzen für die Praxis des "state-building"
Konsolidierung und Reform von Staaten wurden bis Ende der achtziger Jahre in der Entwicklungszusammenarbeit vernachlässigt, weil sie als zu "politisch" galten. Die Debatte der zurückliegenden Jahre wie auch bereits angelaufene Programme sind als Fortschritt zu werten, wird nunmehr doch eine zentrale Ursache für die Zunahme organisierter Gewalt und für Entwicklungsblockaden angegangen. Allerdings birgt, wie die bisherigen Fallbeispiele schon andeuteten, ein staatszentrierter Ansatz auch Gefahren in sich, die zur Vorsicht gemahnen und Korrektive erforderlich machen. Derartige Probleme potenzieren sich, wenn es um die Rekonstitution regelrecht kollabierter Staaten geht.
1. Fallstricke des staatszentrierten Ansatzes
Ich möchte vier Fallstricke hervorheben: Erstens kann die Unterstützung von Regierungsinstitutionen zur Stärkung demokratisch nicht legitimierter Machthaber führen und von politischen oder militärischen Oppositionsgruppen wie auch von gesellschaftlichen Kräften als Parteinahme interpretiert werden. Im Extremfall läuft ein State-building-Projekt Gefahr, "den Bock zum Gärtner zu machen", d.h. den für Repression und gewaltsamen Konfliktaustrag mitverantwortlichen Staatsapparat auch noch aufzuwerten. Vor diesem Hintergrund darf die Unterstützung von Staatsfunktionen keine "exklusive Unternehmung" zwischen Regierungen sein, sondern muss sowohl auf Geber- als auch auf Nehmerseite durch öffentliche und parlamentarische Kontrolle flankiert werden. Zweitens sind externe Akteure in der Regel auf Anlaufstellen in den Hauptstädten orientiert und suchen sich Ansprech- und Kooperationspartner im Establishment bzw. bei urbanen Gegeneliten. Dadurch können implizit Tendenzen zur Zentralisierung befördert werden oder auch - bei einer übermäßigen Delegation von originär staatlichen Aufgaben an Nichtregierungsorganisationen - hybride Strukturen geschaffen werden. Die reale Lage breiter Bevölkerungsschichten gerät so allzu leicht in den Hintergrund. Als Konsequenz muss die Projekt- und Programmplanung von vorneherein die regionale und lokale Ebene als integrale Elemente von Staatlichkeit einbeziehen.
Das dritte Problem ist damit eng verbunden. In vielen Krisenregionen ist der Staat in weiten Landesteilen de facto nicht präsent. Sobald der "moderne Staat" versucht, diese Gebiete zu durchdringen, wird er als Instrument der Ausbeutung und Repression wahrgenommen. Ein Mindestmaß an menschlicher Sicherheit und Erwartungsverlässlichkeit können unter solchen Bedingungen - v. a. in Subsahara-Afrika und Zentralasien - traditionelle Institutionen und Streitschlichtungsverfahren leisten. Gerade in Situationen von Staatsverfall oder gar -kollaps haben solche Strukturen in den vergangenen Jahren eine Wiederbelebung erfahren und zum Teil funktionale Äquivalente für Staatlichkeit geschaffen. Entwicklungspolitik muss dieser Realität "geschichteter Staatlichkeit" Rechnung tragen. Von daher sollte es kurz- und mittelfristig darum gehen, die Vielfalt von Rechts- und Herrschaftsräumen aneinander "anschlussfähig" zu machen und zu verschränken. Bei Ziel- und Wertekonflikten muss die Einhaltung menschenrechtlicher Mindeststandards im Sinne eines "kleinsten gemeinsamen Nenners" als Orientierungspunkt dienen. Eine völlige Integration erscheint in Fällen von Staatsverfall oder -kollaps erst in einem längeren Prozess sinnvoll und machbar. Viertens muss die Konsolidierung, Reform und Rekonstitution von Staaten durch sozioökonomische Maßnahmen flankiert werden. Ohne die Beseitigung von Armut wird es keine Loyalität der Bevölkerung gegenüber dem Staat geben. Perspektivlosigkeit treibt junge Männer zudem fast zwangsläufig in Gewaltökonomien, die angesichts weit verbreiteter Arbeitslosigkeit und zerfallender Sozialstrukturen eine sehr nahe liegende und rationale Option darstellen.
2. Der Wiederaufbau kollabierter Staaten: Afghanistan als Probe aufs Exempel
Standardmodelle zur Konsolidierung, Reform und Rekonstitution von Staaten, die ohne Bezug auf regionale und kulturelle Besonderheiten konzipiert sind, laufen angesichts der eben skizzierten Probleme geradezu zwangsläufig ins Leere oder gar in die Irre. Statt dessen kommt es auf die Bereitschaft an, für jeden Einzelfall eine gesonderte Strategie zu entwickeln und diese kritisch mit bisherigen Erfahrungen abzugleichen. Was dies konkret bedeuten kann, soll abschließend am Beispiel eines kollabierten Staates veranschaulicht werden: Afghanistan. Dort findet derzeit die Probe aufs Exempel für den Wiederaufbau eines Staates statt. Probleme und Dilemmata des "state-building" lassen sich in solch einem Fall quasi im Brennglas beobachten.
Ende des 19. Jahrhunderts als Pufferstaat zwischen Britisch-Indien und Russland etabliert, entwickelte Afghanistan sich nach und nach zu einem "Rentierstaat", der sich kaum auf produktive Tätigkeiten im Inland stützte, sondern beispielsweise in den siebziger Jahren 40 Prozent des Staatshaushalts aus Entwicklungsgeldern bestritt.
Marina Ottaway und Anatol Lieven von der Carnegie Endowment for Peace haben vor diesem Hintergrund die westlichen Handlungsoptionen provokativ auf zwei Alternativen hin zugespitzt.
Das Konzept der "geordneten Anarchie" ist sehr brüchig: Welche Akzeptanz soll eine Zentralregierung erreichen, die über keinerlei Sanktionsmittel verfügt? Lassen sich die Kriegsfürsten durch Kooperationsangebote ohne weiteres "einkaufen"? Eröffnet ein politisches Vakuum externen Mächten nicht Spielräume zur Destabilisierung? Meine These: Die Konsolidierung und Rekonstitution von Staaten muss in Ländern wie Afghanistan einem dritten Weg folgen. Dabei sollte die internationale Gemeinschaft - so es einigermaßen vertrauenswürdige Kooperationspartner gibt - Kernfunktionen des Staates fördern, sprich: Polizei, Militär, Justiz, Erziehung und Gesundheit. Zugleich darf das Motto "Staatsbildung zuerst"
Flankierend zum politischen Prozess sind schließlich sozioökonomische Maßnahmen unerlässlich.
Als Quintessenz für externe Akteure lässt sich festhalten: Terminologie und Maschinerie der Entwicklungspolitik dürfen nicht dazu verführen, den Prozess des "state-building" als "technokratisches Projekt" misszuverstehen.