Einleitung
Erwachsene reden und urteilen über die junge Generation oft so, als hätten sie mit dieser gar nichts zu tun. Die Jugend wird dann als gewalttätig, politisch desinteressiert, konsumverwöhnt, schlecht gebildet und ichzentriert beschrieben. Dass jeder junge Mensch auf seine gesellschaftliche, soziale, familiäre Umgebung reagieren muss, um (über)lebensfähig zu werden - wir nennen das Enkulturation
Zugleich bürden wir der jungen Generation eine Menge auf. Ich meine nicht nur die hoch belastete ökologische Umwelt und das am Boden liegende ökonomische System. Wir halten die Jugendlichen auch - unter den Bedingungen von hoher soziokultureller Autonomie (etwa: Mediennutzung und Konsum) und gleichzeitigem sozioökonomischen Ausschluss (etwa: Arbeit) - länger in Abhängigkeit von (immer prekärer werdenden) institutionellen Sicherungssystemen. In der Jugendforschung wird in diesem Zusammenhang von einer Ausweitung des adoleszenten Moratoriums gesprochen.
Dessen ungeachtet wird hier und da damit begonnen, die Verantwortung für gesellschaftlichen Fortschritt an die Jugendlichen zu delegieren. Es gilt das Motto: Die Jugend nimmt ihre Geschicke selbst in die Hand.
Jugendliche haben das Recht, von Erwachsenen in eine sichere, lebenswerte Zukunft geleitet zu werden. Indem wir so tun, als sei die "desinteressierte" Jugend schließlich selbst für ihre Belange zuständig, versuchen wir uns aus der Verantwortung zu stehlen.
Es wäre selbstverständlich ein beeindruckendes Zeugnis "erwachsener" Souveränität und Weitsichtigkeit, wenn die älteren Generationen die Wünsche und Bedürfnisse der Heranwachsenden stärker berücksichtigten und aus deren Befindlichkeiten, Wünschen und Visionen Handlungsoptionen ableiten würden, die der Jugend eine lebensfrohe Zukunft versprächen. Man könnte dann von "zukunftsfähigem Handeln" sprechen.
Um eine Vorstellung von den Visionen der jungen Generation zu bekommen, habe ich im Zeitraum zwischen 1998 und 2000 Texte von Schülerinnen und Schülern aller Altersstufen und Schultypen in Kooperation mit 25 Schulen zusammengetragen sowie mittels eines Aufrufs in der Zeitschrift Bravo. Die im Folgenden zitierten O-Töne entstammen den rund 550 Texten, die aus diesem Projekt hervorgegangen sind.
I. Familie
Der Bereich, über den Kinder und Jugendliche wohl am aufschlussreichsten etwas sagen können, ist die Kindheit selbst bzw. darüber, wie sie ihre eigene Kindheit erleben und welche Gefühle und Empfindungen sie haben.
Die Möglichkeiten der Unterhaltung, der Freizeitgestaltung und des Konsums für Kinder, erst recht für Jugendliche, sind heute ausgesprochen vielfältig. Trotz all dieser Ablenkungen gilt Kindheit in unserer postmodernen Epoche als sehr anstrengend. So treten durch Stress bedingte psychosomatische Krankheiten zunehmend schon im Kindesalter auf.
In zahlreichen der vorliegenden Texte rufen die Jugendlichen dazu auf, dass Eltern sich nicht trennen oder scheiden lassen sollten - was bei jährlich 200 000 Scheidungen gegenüber 400 000 Eheschließungen nicht verwundert. Da nützt alle Theorie nichts, wonach wir es heute mit "Patchwork-Familien" zu tun haben. Für Kinder ist die Trennung ihrer Eltern schlicht ein Albtraum. Deshalb lautet eine entschiedene Schlussfolgerung: "Scheiden lasse ich mich nicht, denn ich habe am eigenen Leib erfahren, wie es ist, wenn der Vater weggeht." (Benjamin, 14 Jahre)
So mancher Wunsch für die Zukunft entsteht denn auch vor dem Hintergrund eines Gefühls der Bedrohung. Tayse (15) wünscht sich für die Zukunft, dass "Kinder () endlich zufrieden leben können, ohne Angst werden sie spielen, lachen. ,Missbraucht` und ,gequält` - diese Worte werden sie nur aus den Geschichten kennen, die wir ihnen von >damals< erzählen". Und noch deutlicher: "Ich möchte selbst mal Kinder haben, aber so wie die Kriminalität heutzutage ist, muss man Angst haben, dass die eigenen Kinder vergewaltigt oder sogar umgebracht werden." (T., 14)
Hinter solchen Vorzeichen klingen die folgenden Aussagen schon wie Beschwörungen: "Mit Kindern sollten Eltern nicht so streng sein und sich für ihre Hobbys interessieren, sie sollten die Kinder respektieren und fördern." (Jochen, 14) Oder: "Erwachsene sollten lockerer und verständnisvoller sein, wenn man mal was falsch gemacht hat." (Tanja, 15) Noch deutlicher und allgemeiner formuliert: "Kinder möchte ich natürlich auch, denn Kinder sind die schönste Sache der Welt. Kindern soll es viel besser gehen als jetzt. Sie sollen ohne Schläge aufwachsen und leben wie die Könige, denn sie sind unsere Zukunft." (Marco, 14) Und der 13-jährige Andreas nimmt sich vor: "Ich möchte später mal mehr Zeit für meine Kinder haben und jedes Mal, wenn schönes Wetter am Wochenende ist, einen Familienausflug machen. Ich möchte mich mehr in die Kinder hineinversetzen, mit ihnen über Probleme in der Schule oder auf der Arbeit sprechen."
Das letzte Zitat deutet bereits auf eine strukturelle Besonderheit hin. In visionären Texten findet sich immer eine doppelte Struktur: Alles Erdachte wurzelt in der Gegenwart (philosophisch exakter: im jüngst Vergangenen) und wächst in den Zukunftshimmel. Lässt man nun Jugendliche Visionen anstellen, wie sie in dem Alter sein wollen, in dem ihre Eltern jetzt sind, dann erhält diese Doppelstruktur interessante Ausformulierungen. Die Jugendlichen reflektieren nämlich sowohl die Rollen der Eltern als auch ihre eigene als Kinder.
Über drei Viertel der Kinder und Jugendlichen wollen eigene Kinder, und zwar am liebsten zwei: einen Jungen und ein Mädchen. Die meisten verfolgen traditionelle Ehevorstellungen und entwickeln in ihren Texten geradezu Familienidyllen - selbstverständlich mit einem technisch perfekt ausgestatteten Haushalt, in dem die Arbeit minimiert ist:
"Mit meiner Familie will ich in einem schönen, großen Anwesen mit großem Haus wohnen. Im Garten einen kleinen Swimmingpool, viele Blumen, einen Brunnen und viele Rosen." (Marco, 14) Und: "Für mich stelle ich mir noch vor, verheiratet zu sein mit dem Traummann meines Lebens. Wir würden in einem schönen Haus mit unseren Kindern wohnen. Die Kinder könnten immer im Garten spielen." (H., 17)
Es sei angemerkt, dass keineswegs alle Kinder und Jugendlichen mit der Erziehung ihrer Eltern unzufrieden sind. Viele sind sogar sehr zufrieden: "Ich würde meine Kinder ganz genau so erziehen oder es zumindest versuchen, denn ich finde, meine Eltern haben bei mir nichts falsch gemacht." (Stefanie, 17) Und so manches Kind kann sich erfrischend selbstkritisch äußern. Zwei Beispiele: "Irgendwie will ich später gar keine Kinder haben, wenn ich merke, wie frech ich zu Mama bin." (Stephanie, 11) "Heiraten möchte ich eventuell, außerdem zwei Kinder, die ich strenger erziehen möchte, denn ich tanze meiner Mutter auf der Nase rum." (Benjamin, 14)
II. Schule
Neben der Familie ist die Schule der dominierende lebensweltliche Bereich von Kindern und Jugendlichen. Nicht erst seit die Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudien TIMSS und PISA für Aufregung gesorgt haben, sehen sich die deutschen Schulen und das Bildungssystem unter massiver Kritik. Die strukturelle Erneuerung steht noch aus.
Für die leistungsschwächeren Jugendlichen scheint Schule oft völlig bedeutungslos für das spätere Leben zu sein. Das ist sicher nicht überraschend, denn die rund 1,1 Millionen Kinder, die unsere Hauptschulen besuchen, erzielen mit ihrem Schulabschluss kaum einen Statusgewinn. Für die jährlich 350 000 Abgänger - unter ihnen befinden sich etwa 90 000 ohne Schulabschluss (das sind insgesamt zehn Prozent aller Abgänger eines Schuljahres!) - stellt die Hauptschule wohl eher eine Sackgasse dar.
Die Schule erscheint in den Texten der Kinder beinahe als ein toter Raum. So plädieren viele für den Unterricht per Computer: "Heutzutage gibt es keine Schulen mehr. Jedes Kind unter 18 Jahren bekommt Privatunterricht per Computer." (Anonym) "Wenn die Kinder in die Schule müssen, loggen sie sich in einen Internet-Konferenzraum ein, und zusammen mit anderen werden sie von einem pädagogischen Programm unterrichtet." Übrigens werden in diesem Text die Maßnahmen der Disziplinierung schon mitgedacht: "Wer schwänzt, oder besser gesagt: sich nicht einloggt, kriegt nicht einen Brief, sondern Stromverbot." (Alexander, 14) Und Jessica meint: "Auch die Schule macht jetzt Spaß. An drei von fünf Schultagen werden die Schülerinnen und Schüler von Computern unterrichtet. Hausaufgaben gibt es nur einmal pro Woche."
Zuweilen allerdings wird das Lernen überhaupt abgeschafft: "Schulen gibt es ebenfalls nicht mehr, denn alle wichtigen Informationen und Angelegenheiten werden auf Chips gespeichert und in die Köpfe der Menschen programmiert oder den kleinen Kindern in den Kopf gepflanzt." (Kerstin)
Nach Aussagen vieler Pädagogen hat die Gewaltbereitschaft von Kindern und Jugendlichen in der Schule zugenommen. Eine häufiger auftauchende Vision - auch bei den Jugendlichen selbst - betrifft eine Befriedung der Schule. "In den Schulen darf kein Terror und keine Unterdrückung herrschen. Die stärkeren Schüler sollten die schwächeren Schüler nicht provozieren und terrorisieren. () Auch die Lehrer und die Schüler sollten zusammenhalten." (Edin, 14)
III. Arbeit
Bereits die Shell-Jugendstudie von 1997 zeigte, dass die gesellschaftlichen Krisen nun auch die Jugend erreicht haben. Neben der Arbeitslosigkeit stellt sogar die Angst vor der fehlenden Alterssicherung eine psychische Belastung für die Jugendlichen dar.
Dass nach knapp drei Jahrzehnten struktureller Arbeitslosigkeit mit stetig wachsendem Sockel - in der Bundesrepublik sind mehr oder weniger konstant weit über vier Millionen Menschen betroffen - kaum alternative Modelle für Sinn gebende Tätigkeiten entwickelt wurden bzw. durchgesetzt werden konnten, ist erschreckend und prägt Jugendliche in den hoch industrialisierten Ländern. Seit vielen Jahren liegt die Zahl der unter 20-jährigen Arbeitslosen bei jährlich rund 100 000. Das entspricht ca. fünf Prozent dieser Altersgruppe. Ungeachtet aller Ausbildungsinitiativen der vergangenen Jahre hat sich dieser Prozentsatz nur wenig verringert.
Rund eine Million der unter 18-Jährigen in Deutschland ist von Sozialhilfe abhängig. Das sind 37 Prozent aller Leistungsempfänger bzw. rund sieben Prozent der unter 18-Jährigen. Die Altersgruppe ist damit eindeutig überrepräsentiert, denn gemessen an der Gesamtbevölkerung sind nur 3,5 Prozent Sozialhilfeempfänger. Knappe 50 Prozent dieser Kinder und Jugendlichen wachsen in Haushalten von Alleinerziehenden auf.
Arbeitslosigkeit löst bei Kindern und Jugendlichen dementsprechend große Ängste aus: "Die Arbeitslosigkeit steigt immer höher, so dass man sogar schon ins Ausland gehen muss, um Arbeit zu kriegen", vermutet Marcus (12) für die Zukunft. Manche der Jüngeren verlagern die Arbeitssuche gleich auf den Mars.
Positiv gewendet bedeutet die Verknappung der Arbeit für die Kinder und Jugendlichen, dass menschliche Arbeit bald ohnehin unnötig sein wird, weil Maschinen und Roboter alles übernehmen. Oder Arbeit wird zu einer Möglichkeit unter anderen: "Arbeit sollte es geben für jeden Menschen von uns, der auch arbeiten möchte." (H., 17) Noch besser: "Ich möchte mein Geld arbeiten lassen und mit meiner Familie auf einer Insel in einer Villa wohnen", schreibt Christof (14).
Während leistungsschwächere Jugendliche auf die schlechte Arbeitsmarktsituation eher pessimistisch reagieren, sind die leistungsstärkeren hinsichtlich ihrer Berufsaussichten vergleichsweise optimistisch. Zuweilen sehen sie zwar die gesellschaftliche Zukunft in recht düsterem Licht, die persönliche Karriere indes erscheint ihnen davon nicht betroffen.
Im Wesentlichen wird die künftige Berufstätigkeit in drei Bereichen verortet: im eher diffusen Bereich der Computerarbeitsplätze, im Bereich sozialer Dienstleistungen sowie in der Unterhaltungsbranche. Das Handwerk kommt als Berufsziel fast gar nicht vor, hie und da wird die Landwirtschaft genannt.
Insgesamt sind die Vorstellungen, die Kinder und Jugendliche von der Arbeit haben, sehr vage, wenig plastisch und kaum sinnlich: So wie in ihrer Phantasie die eigenen Kinder am PC sitzen und spielen, so sitzen sie selbst vor dem Bildschirm und arbeiten. Die Tätigkeiten werden oft gar nicht benannt, Arbeit stellt sich dadurch dar, dass man sich in einem Büro befindet: "Ich stehe gerade an meinem Bürofenster und sehe nur schwebende Autos und Häuser aus Metall." (Anja, 14) Oder: "Kurze Zeit später sitze ich in meinem computergesteuerten Büro und spreche mit meinem Arbeitskollegen über alte Zeiten." (Jessica, 12)
Verwunderlich ist, dass sich die Computerarbeitsplätze in der Phantasie der Kinder und Jugendlichen so gut wie nie in der eigenen Wohnung befinden. Man geht oder fährt immer noch morgens zur Arbeit und kehrt spät abends völlig "erschöpft" - vom Partner und den Kindern erwartet - in die heimeligen vier Wände zurück.
Eine ebenfalls große Gruppe von Kindern und Jugendlichen strebt Berufe wie den des Arztes, Anwalts, Politikers, Lehrers oder auch Polizisten an. Auffällig ist, dass sie sich häufig ausdrücklich für soziale Belange, Sicherheit, Frieden und Gerechtigkeit einsetzen wollen. Etwa: "Ich möchte von Beruf Polizist werden: ein Vorbild für die Gesellschaft, eine treue Hand des Gesetzes" (Patryk, 15), oder: "Mein Traumberuf ist Richterin oder Staatsanwältin." (Stefanie, 14)
Populär sind auch Sport-, Musik- und Entertainmentkarrieren: Der 12-jährige Marcus, in seiner Phantasie später ein sehr erfolgreicher Basketball-Spieler in Amerika, Jahresverdienst 20 Millionen Dollar, schreibt: "Ich lade meine ganze ehemalige 5. Klasse zu meinem Spiel mit Seattle gegen die Chicago Bulls ein. Mein Freund Alexander ist Bankdirektor in Italien, Ole ist Chef einer Einkaufskette, Sebastian ist Basketballprofi und Dennis ist Weltfußballer geworden."
IV. Multikulturelles Zusammenleben
Für Kinder und Jugendliche gehört das Zusammentreffen mit Gleichaltrigen aus anderen Kulturkreisen zum Alltag. In Deutschland leben immerhin rund 7,5 Millionen Ausländer (darunter allein zwei Millionen Türken). Das sind etwa 10 Prozent der Gesamtbevölkerung. Über 20 Prozent aller Ausländer sind hier geboren, oder anders ausgedrückt: Zwischen 10 und 15 Prozent aller in Deutschland geborenen Kinder sind "Ausländer".
Dass dieses Zusammenleben nicht konfliktfrei verläuft, ist allgemein bekannt und spiegelt sich auch in den Texten der Kinder und Jugendlichen wider. Abgesehen von einem kleinen Anteil von vielleicht drei bis fünf Prozent fanden sich in den Texten jedoch keine rassistischen Äußerungen. Die junge Generation erwartet von ausländischen Mitbürgern allerdings, dass sie sich an den Gesetzen und Wertvorstellungen dieses Landes orientieren. Andernfalls sollten sie ausgewiesen werden.
Bei diesem Thema gilt es natürlich zwei Perspektiven zu unterscheiden:
a) die Sicht der deutschen Jugendlichen und
b) die Sicht der ausländischen bzw. nach Deutschland immigrierten Jugendlichen (in der Textauswahl sind dies zwischen 10 und 15 Prozent).
"Ausländische" Kinder und Jugendliche gehören längst zum Erscheinungsbild unserer Gesellschaft. Der Ausländeranteil an den Grundschulen beträgt mit 390 000 Kindern 12 Prozent und an den Hauptschulen 17 Prozent (200 000). Diese Kinder und Jugendlichen in die Analyse einzubeziehen scheint mir überaus wichtig. Auch hier gilt es, positive Visionen einer zukünftigen Multikulturalität aufzugreifen und ihnen einen Weg "zu bahnen".
"Alles würde oder wird sich ändern, wenn die Menschen lernen, besser aufeinander einzugehen, und aufhören, sich wegen ihrer Herkunft die Köpfe einzuschlagen," meint die 17-jährige Stefanie.
"Ich hoffe, dass Rassisten im Jahr 2020 nur noch eine schlechte Erinnerung sind. Mit Politik kenne ich mich nicht so gut aus, aber ich hoffe, dass in Deutschland alle leben können und keiner den anderen hasst, nur weil er andere Sitten hat oder anders aussieht. Heute ist das noch anders: In Kasachstan waren wir Scheißdeutsche, hier sind wir Scheißrussen, und das gefällt mir nicht, weil wir alle gleich sind, finde ich zumindest. Aber ansonsten kann Deutschland so bleiben, wie es jetzt ist", ist die Meinung der aus Russland stammenden 15-jährigen Tanja.
"Ich hoffe sehr, dass die Menschen besser miteinander umgehen und dass es keine Ausländerfeindlichkeit mehr gibt. Ich als Ausländerin bin davon betroffen." (S., 16) Und: "In jedem Land soll es Ausländer geben. Auch in Deutschland, auch wenn jetzt so viele da sind." (Mirsade, 15)
Insbesondere Kinder und Jugendliche aus Krisen- und Kriegsgebieten scheinen ein hohes Bedürfnis nach einem friedfertigen Miteinander in sich zu tragen, jedenfalls drücken ihre Texte das überwiegend aus. "In Deutschland sollte Gerechtigkeit siegen. Die Fremden müssen sich gut benehmen, weil sie nicht in ihrem Heimatland sind." (Edin, 14)
Deutsche wie ausländische Kinder zeigen eine große Offenheit gegenüber allem Fremden. So gehen viele Jugendliche davon aus, dass sie früher oder später in ein anderes Land "auswandern", um dort zu arbeiten oder einfach nur zu leben. Das Zusammenleben mit Menschen fremder Kulturen wird von ihnen als Bereicherung empfunden.
Nicht selten schließen wir uns in der Phantasie der Kinder und Jugendlichen zukünftig auch mit anderen Nationen (oder "Wesen") zusammen: "Zusammengemischte Völker, zum Beispiel Deutsche mit Spaniern, Polen mit Außerirdischen, bilden eine große Mannschaft, die die ganze Zeit auf einem riesigen Raumschiff lebt." (Daniela, 14)
V. Fazit: Visionen als kreative Kritik und Lebenselixier
Wer Kinder und Jugendliche nach ihren Zukunftsvorstellungen, nach ihren Visionen fragt, wird in "offenen" Texten, wie sie diesem Beitrag zu Grunde liegen, auf Unterschiede - wenn auch manchmal nur in Nuancen - zur quantitativen Forschung treffen. So signalisiert die Hoffnung auf eine friedfertige, Sicherheit gebende, gesunde und Freude vermittelnde Lebensweise zum einen, dass hier offenbar heute ein großes Defizit empfunden wird; zum anderen geht damit die Erwartung einher, zukünftig eine positivere Haltung zum Leben in dieser Gesellschaft entwickeln zu können.
Kinder und Jugendliche wünschen sich für ihre Zukunft ein stabiles soziales Umfeld, in dem sie mit eigenen Kindern ohne existenzbedrohende oder traumatisierende Gefahren leben können. Sie wollen sich vor dem Hintergrund ihrer Defiziterfahrungen bemühen, viel Verständnis und Zeit für ihre Kinder aufzubringen. Die Wünsche nach einer Abschaffung der Schule und einer Computerisierung des Lernens lassen auf Wünsche nach einer radikalen Schulreform schließen. Die Kinder wünschen sich faire Bedingungen und Freude bereitendes Lernen - weniger standardisiert, dafür spielerischer.
Arbeit - der verfügbare Arbeitsplatz - hat auch in den Zukunftsvorstellungen junger Menschen große Bedeutung. Arbeit garantiert Existenzsicherung, soziale Integration, Selbstverwirklichung und ist die Voraussetzung für ein gemeinschaftsorientiertes Handeln.
Die multikulturelle Gesellschaft wird von jungen Menschen als "gegeben" akzeptiert. Alle ethnischen Gruppen wünschen sich eine friedliche und menschenwürdige Kooperation, wobei sich die Zuwanderer an den Werten unseres Landes orientieren sollen.
Gegenüber Politik und Wirtschaft zeigen die Kinder und Jugendlichen große Vorbehalte; sie diagnostizieren bei deren Vertretern einen Mangel an gesellschaftlicher Verantwortung. Politikern halten sie vor, sich nicht genügend für sozialökonomische Gerechtigkeit (nicht selten mit dem Hinweis, es ginge ihnen eher um die eigene Bereicherung) und für weltweiten Frieden einzusetzen. Der Wirtschaft werfen sie insbesondere den rücksichtslosen Umgang mit natürlichen Ressourcen (die Unglücke von Meerestankern prägen sich offenbar besonders ein) oder das Profitdenken bei hoher sozialer Unverantwortlichkeit (Personalentlassungen zur Renditesteigerung) vor.
Insgesamt scheint die Generation der in den achtziger Jahren Geborenen nicht viel von den Fähigkeiten der Erwachsenen zu halten, gesellschaftliche Probleme zu lösen. Möglicherweise handelt es sich bei dieser Einschätzung um einen Reflex auf die Krisenstimmung, die in der deutschen Gesellschaft in den vergangenen drei Jahrzehnten kultiviert worden ist. Dabei wird gern übersehen, dass Deutschland eines der reichsten Länder dieser Erde ist.
Die Reaktionen auf unser "Krisengerede" sind amüsant und verständlich zugleich: Der Blick der jungen Generation richtet sich nämlich ins All bzw. - wenn man so will - ins Jenseits. Die Erlösung von einer Welt voller Probleme und existenzieller, wohl gemerkt selbst verursachter Bedrohungen wird von Außerirdischen erwartet. Diese werden jedenfalls so gut wie nie als Bedrohung erlebt (entgegen der vorrangigen Sci-Fi-Tradition). Von ihnen werden im Gegenteil das Know-how und die Fähigkeiten zur Lösung unserer globalen Probleme erhofft.
"Toll wäre, wenn uns von Außerirdischen aus unserer zerstörten Welt herausgeholfen werden würde." (Daniela, 14) Entlastend wäre es nach Ansicht von Jessica aber schon, wenn wir wenigstens unter Dauerbeobachtung ständen: "So hat man zum Beispiel herausgefunden, dass die Erde von Außerirdischen bepflanzt und mit den ersten Lebensformen versehen worden ist, als eine Art Forschungsprojekt." (Jessica)
Menschliches Handeln ist ohne eine Antizipation der Zukunft unmöglich. Sinn bekommt eine Handlung erst dann, wenn wir von ihr einen Erfolg erwarten oder zumindest eine Problemlösung.
Die Gewissheit der Zukunft ist für jedes Individuum eine basale Annahme. Zum einen setzen wir das eigene (Über-)Leben voraus, sonst bräuchten wir nicht zu planen. Zum anderen kommen wir auch in unserer Identitätsbildung ohne Zukunftsperspektive nicht aus. Uwe Schimank
Für Jugendliche ist die Antizipation der (persönlichen) Zukunft besonders wichtig - und besonders schwierig. In der Zeit der Pubertät und des frühen Erwachsenseins entwickelt der Mensch erst allmählich eine Handlungsautonomie und eine "Kontrollüberzeugung", also die Sicherheit, über das weitere Leben eine gewisse Macht zu haben und gesteckte Ziele erreichen zu können. Da die Handlungsmöglichkeiten jedoch noch recht eingeschränkt sind, müssen die Erwachsenen den Jugendlichen authentischen Optimismus und einen Glauben sowohl an die Gesellschaft als auch an sich selbst vermitteln. Das kann aber in einer Gesellschaft, die offenbar einen Hang dazu hat, sich in der Krise zu sehen, nur eingeschränkt gelingen.
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