I. Vorbemerkungen zur Studie
Die folgenden Ergebnisse stammen aus der Sächsischen Längsschnittstudie. Dabei handelt es sich um eine in ihrer Anlage ungewöhnliche, weil systemübergreifende sozialwissenschaftliche Langzeitforschung. Sie wurde bereits 1987, noch zu DDR-Zeiten, gestartet und begleitete über die Wende im Herbst 1989 hinweg den politischen Mentalitätswandel bei jungen Ostdeutschen des Geburtsjahrganges 1972/73 zwischen ihrem 14. und (im Jahr 2002) 29. Lebensjahr.
In ihrer ersten Phase vor der Wende (drei Befragungswellen zwischen 1987 und Frühjahr 1989) dokumentierte die Studie den zunehmenden Verfall des politischen Bewusstseins der Panelmitglieder (siehe Kapitel II.1.), ihre wachsende Distanz und Enttäuschung gegenüber der Politik der SED.
In ihrer zweiten Phase (13 Befragungswellen seit Frühjahr 1990) begleitet sie den Weg dieser jungen Ostdeutschen aus dem Gesellschaftssystem der DDR in das der Bundesrepublik: vom DDR-Bürger zum Bundesbürger. Sie ist damit die einzige (ost)deutsche Längsschnittstudie, die dank ihrer Anlage in einer hinreichend großen, identischen Population den Auswirkungen des Systemwechsels auf das Denken und Fühlen junger Leute im Osten nachgehen kann.
Die zentrale Forschungsfrage lautet, ob mit der zunehmenden Dauer der Lebensspanne in dem neuen Gesellschaftssystem auch eine politische Identifikation mit diesem System entsteht und welche Einflussfaktoren eine solche Bindung fördern bzw. hemmen. Die Untersuchungspopulation ist für solche Langzeitanalysen geradezu prädestiniert: Zur Wendezeit waren die TeilnehmerInnen bereits 16/17 Jahre alt, hatten die zehnklassige polytechnische Oberschule als letzter Jahrgang voll durchlaufen und waren damit über ein Jahrzehnt vom Bildungs- und Erziehungssystem der DDR, mehr oder weniger nachhaltig, geprägt worden. Zugleich waren sie noch jung genug, um sich nach dem Zusammenbruch des Sozialismus neu zu orientieren, die Werte des jetzigen Gesellschaftssystems zu übernehmen oder aber sich kritisch mit ihnen auseinander zu setzen.
In die Untersuchungen vor der Wende waren 1 281 SchülerInnen aus den damaligen Bezirken Leipzig und Karl-Marx-Stadt einbezogen. Sie gehörten 72 Klassen aus 41 Schulen an, die nach dem Zufallsprinzip ausgewählt wurden. Die Population war DDR-repräsentativ.
Im Frühjahr 1989 erklärten sich 587 TeilnehmerInnen schriftlich bereit, auch nach Schulabschluss weiter an ähnlichen Untersuchungen mitzuarbeiten. Durch Wohnortwechsel (vor allem in den Westteil) reduzierte sich dieser Kreis in der Wendezeit auf 485 Personen. Von ihnen beteiligte sich ein hinreichend großer Teil an den bisher 13 (postalischen) Befragungen nach der Wende.
Die 16. Welle der Untersuchung fand überwiegend im Zeitraum Mitte April bis Mitte Juli 2002 statt. 420 TeilnehmerInnen schickten ihren Fragebogen ausgefüllt zurück. Das sind 72 Prozent derer, die sich 1989 zur weiteren Mitarbeit bereit erklärt hatten bzw. 87 Prozent jener, deren aktuelle Adressen bekannt sind.
Das Durchschnittsalter betrug zum Befragungszeitpunkt 29,0 Jahre. Die Anteile der Geschlechtergruppen liegen bei 47 (männlich) bzw. 53 Prozent (weiblich). Von den TeilnehmerInnen leben 92 in den alten Bundesländern (22 Prozent) bzw. 6 im Ausland (1 Prozent).
Die dargestellten Ergebnisse können mit hoher Wahrscheinlichkeit für junge Ostdeutsche dieser Altersgruppe verallgemeinert werden, ähnliche Relationen sind vermutlich in den benachbarten höheren Altersgruppen zu erwarten. Repräsentativität für junge Ostdeutsche insgesamt wird aber ausdrücklich nicht beansprucht. Die 16. Welle der Studie wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert.
Im Rahmen dieses Beitrages
II. Ausgewählte Trends
1. Ein Blick zurück: Enttäuschung über die Politik der SED, jedoch ein starker Glaube an eine gesicherte Zukunft in der DDR
Die ersten drei Jahre der Studie fielen mit der Endphase der DDR zusammen. Die bei den Panelmitgliedern zwischen 1987 und (Frühjahr) 1989 erhobenen Daten spiegeln den in diesem Zeitraum bei der DDR-Jugend generell beobachteten massiven Rückgang des politischen Bewusstseins wider, der an anderer Stelle ausführlicher dargestellt wurde.
Die Trends sind eindeutig: Die Überzeugung von der Bedeutung des Marxismus-Leninsmus als Lebenshilfe (schon 1987 nur noch schwach ausgeprägt), die politische Identifikation mit der DDR, der Glaube an den Sieg des Sozialismus zerfielen in dieser Zeit mehr und mehr - eine Widerspiegelung massiver Enttäuschungen über die Politik der SED. Ein "Nullpunkt" war allerdings selbst kurz vor der Wende nicht erreicht. Ablesbar ist aber auch: Das Vertrauen darauf, in der DDR eine "gesicherte Zukunft" zu haben, blieb faktisch bis kurz vor der Wende erhalten. Im Frühjahr 1989 glaubten noch immer 94 Prozent an eine gesicherte Zukunft in der DDR, darunter 61 Prozent ohne Einschränkung. Selbst jene Panelmitglieder, die sich von der DDR politisch distanzierten, gingen mehrheitlich davon aus, dass sie ihnen eine gesicherte Zukunft biete.
Diese Zuversicht hatte vorwiegend sozialpolitische Grundlagen, war kein ideologisches Bekenntnis zur DDR. Ein wesentlicher Grund dafür war, dass zu diesem Zeitpunkt für faktisch alle von ihnen (97 Prozent) feststand, wie es nach der Schulzeit weitergeht. Für berufliche Zukunftsängste bestand damals kein Anlass.
Wie die Ergebnisse der Studie nach dem Systemwechsel belegen, wirken diese sozialen Erfahrungen der damals 16/17-Jährigen mit der DDR bis in die Gegenwart nach, bilden den Kern einer noch immer bestehenden emotionalen Verbundenheit mit der DDR. Insofern sind diese und andere vor der Wende gewonnenen Daten sehr aufschlussreich für das Verstehen teilweise überraschender Reaktionen der Panelmitglieder auf das gegenwärtige Gesellschaftssystem. Die Möglichkeit solcher biografischer Zusammenhangsanalysen bieten nur Längsschnittstudien.
2. Ja zur Wende und zur deutschen Einheit
Zu den aussagekräftigsten Ergebnissen der Studie gehören die Trends der Einstellung zur politischen Wende bzw. zur deutschen Einheit, d.h. zu den Ereignissen, die das Leben der TeilnehmerInnen dieser Untersuchung von Grund auf veränderten. Wie die ausführlichen Stellungnahmen der befragten Jugendlichen im Rahmen der ersten Befragungswelle nach der Wende im Frühjahr 1990 - sie waren damals etwa 17 Jahre alt - zeigten, wurde diese politische Zäsur von fast allen grundsätzlich positiv bewertet.
In den folgenden Jahren ist die überwiegende Mehrheit der TeilnehmerInnen bei ihrer Bejahung der Wende geblieben, die meisten davon sogar ohne Einschränkung (s. Abbildung 2).
Erkennbar ist, dass nur eine Minderheit der Panelmitglieder die früheren politischen Verhältnisse zurückwünscht, im Jahr 2002 betrifft das lediglich 7 Prozent. Allerdings stimmen im Jahr 2002 nur 28 Prozent der Aussage zu, dass die damaligen Ziele der "friedlichen Revolution" heute verwirklicht seien. 14 Prozent verneinen das; mit 58 Prozent meinen die meisten, dass diese Ziele teilweise verwirklicht seien. Auffällig viele Panelmitglieder betonen in ihren zusätzlichen Notizen, dass die Schließung vieler Betriebe und die Massenarbeitslosigkeit im Osten damals nicht zu den Zielen gehört habe.
Bemerkenswert ist auch, dass es bei den TeilnehmerInnen zwischen 1994 und 1998 vorübergehend zu einem signifikanten und durchaus relevanten Rückgang dieser politischen Grundeinstellung gekommen war, Ausdruck ihrer zunehmenden Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Situation im Osten in der Endzeit der Regierung unter Helmut Kohl (s. u.).Vom Frühjahr 1990 an, also noch vor ihrem Vollzug, wurde auch die Einstellung zur deutschen Einheit erfasst (s. Abbildung 3).
Ablesbar ist, dass sich der Anteil der Einheitsbefürworter zwischen Mai 1990 und Sommer 2000, d.h. mit wachsendem zeitlichem Abstand zum Beitritt, deutlich erhöht hat, wenn auch meist mit der Einschränkung "eher dafür als dagegen". Im Frühjahr 2002 ist dieses hohe Niveau der Zustimmung erhalten geblieben.
Das vereinte Deutschland ist für diese jungen Ostdeutschen inzwischen zu einer Selbstverständlichkeit geworden, die - von einer Minderheit abgesehen - nicht in Frage gestellt wird. Sie haben von ihm Besitz ergriffen, nutzen die sich aus der Vereinigung ergebenden Vorteile pragmatisch für ihre Persönlichkeitsentwicklung, vielfach (wenn auch meist unfreiwillig) für ihre berufliche Karriere, vor allem aber dafür, die neu gewonnene Reisefreiheit zu praktizieren. Diese steht bei den verbalen Angaben über die positiven Seiten der Vereinigung von Anfang an klar an erster Stelle, allerdings fast ausnahmslos durch die so oder ähnlich formulierte Einschränkung "Reisen ist nur möglich, wenn man auch das nötige ,Kleingeld` hat, sprich eine Arbeit besitzt und Geld verdienen kann" ergänzt.
Trotz der verbreiteten generellen Zustimmung zur Einheit werden ihre Folgen ambivalent beurteilt. Die überwiegende Mehrheit der Panelmitglieder reflektiert seit 1992 sowohl positive als auch negative Veränderungen (s. Abbildung 4).
Der bis 2000 erkennbare Trend einer Zunahme der Auffassung, es gebe mehr positive Veränderungen, scheint im Jahr 2002 abgebrochen zu sein, vermutlich vor dem Hintergrund der immer deutlicher zu Tage tretenden wirtschaftlichen Misere in Ostdeutschland. Hinzu kommt, dass die Verwirklichung der Einheit immer weiter in die Zukunft verlagert wird. Das geht aus zwei offenen Fragen (ohne Antwortvorgaben) danach hervor, wie lange es wohl dauern wird, bis es den Ostdeutschen "wirtschaftlich so gut geht wie jetzt den Westdeutschen" bzw. bis Ostdeutsche und Westdeutsche "zu einer richtigen Gemeinschaft zusammengewachsen sind". Tabelle 1 informiert über die Mittelwerte zum jeweiligen Zeitpunkt der Befragung sowie über die prognostizierten Jahre (vom jeweiligen Zeitpunkt aus betrachtet):
Im Mittel gehen die Panelmitglieder 2002 davon aus, dass es noch 16 Jahre dauern wird, bis die wirtschaftlichen Verhältnisse in Ostdeutschland denen im Westen angeglichen sind (das wäre im Jahr 2018). Im September 1990, kurz vor der Vereinigung, wurde im Ergebnis einer identischen Frage für die Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen ein Durchschnittswert von nur 6,2 Jahren berechnet (das wäre 1996 gewesen!).
Noch wesentlich mehr Zeit wird den Vorstellungen der Panelmitglieder zufolge vergehen, bis Ostdeutsche und Westdeutsche zu einer "richtigen Gemeinschaft" zusammengewachsen sein werden: im Durchschnitt 20,6 Jahre (d.h. im Jahre 2023). 1990 wurde hierzu ein Mittelwert von nur 8,2 Jahren ermittelt (das wäre 1998 gewesen!).
Der Zeithorizont des Zusammenwachsens beider Landesteile hat sich demnach seit der Vereinigung enorm vergrößert. Diese Vorstellungen sind keine Zahlenspielereien, sondern widerspiegeln wie kaum ein anderes Ergebnis sehr anschaulich die ursprünglichen Hoffnungen dieser jungen Leute auf das vereinte Deutschland und ihre nachfolgenden massiven Enttäuschungen angesichts der Realitäten des Vereinigungsprozesses.
3. Gegenüber dem jetzigen Gesellschaftssystem überwiegen Skepsis und Kritik
Zahlreiche Ergebnisse unserer Studie lassen den Schluss zu, dass die überwiegende Bejahung der Wende und der deutschen Einheit nicht gleichbedeutend ist mit der Zustimmung zum neuen Gesellschaftssystem. Dieses System wird auch zwölf Jahre nach dem Systemwechsel mehrheitlich skeptisch oder kritisch betrachtet.
Diese Sicht äußert sich sehr deutlich in der schwachen Zufriedenheit mit dem politischen System der Bundesrepublik und mit der jetzigen Wirtschaftsordnung - zwei sehr aussagekräftige Kriterien (s. Abbildung 5).
Der Anteil der jungen Frauen und Männer, die mit der jetzigen Wirtschaftsordnung mehr oder weniger zufrieden sind, liegt im gesamten Zeitraum meist weit unter der Hälfte; noch erheblich kleiner ist der Anteil derer, die mit dem politischen System zufrieden sind. Sehr auffällig ist außerdem der zeitlich parallel verlaufende Einbruch zwischen 1994 und 1998 (die Erhebung 1998 fand vor dem Regierungswechsel statt): In den letzten Jahren der Regierung unter Helmut Kohl kam es bei den Panelmitgliedern zu einem massiven Rückgang der Zufriedenheit mit der jetzigen Wirtschaftsordnung und - als Folge davon - zeitgleich zu einem gravierenden Rückgang der Zufriedenheit mit dem politischen System sowie - hier nicht dargestellt - zu einem ebenso deutlichen Rückgang des Vertrauens zu den damals regierenden Koalitionsparteien CDU/CSU (die Quote derer, die zu ihnen Vertrauen äußerten, sank von 25 auf 16 Prozent). Nach dem Regierungswechsel (hier ab 2000) deutete sich bei beiden Aspekten zwar zunächst eine Trendwende an, die jedoch im Frühjahr 2002 bereits wieder abgebrochen ist, insbesondere im Hinblick auf die Zufriedenheit der Panelmitglieder mit der Wirtschaftsordnung. Entsprechend dem bekannten Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit des Systems einerseits und Systemakzeptanz der Bürger andererseits
Im erwähnten Zeitraum zwischen 1994 und 1998 schwächte sich, wie erwähnt, sogar die Bejahung der Wende signifikant ab. Vor allem aber stürzte die Zukunftszuversicht der Panelmitglieder für die Entwicklung in Ostdeutschland krass ab: Äußerten sich 1994 noch 60 Prozent mehr oder weniger stark zuversichtlich, so ging dieser Anteil bis 1998 erdrutschartig auf 28 Prozent zurück! Andererseits nahmen in diesem Zeitraum existenzielle Bedrohungsängste wie die Angst vor (erneuter) Arbeitslosigkeit und vor einer persönlichen Notlage erheblich zu. Diese frappierende Parallelität massiver Veränderungen in den Reflexionen der Panelmitglieder über die gesellschaftliche Realität in diesen Jahren ist unseren Daten zufolge kein Zufall, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit Widerspiegelung der Politik in Bezug auf Ostdeutschland in den letzten Jahren der Regierung Helmut Kohl. Diese hat sich erkennbar dämpfend auf die ohnehin schwach entwickelte Identifikation der Panelmitglieder mit dem jetzigen Gesellschaftssystem ausgewirkt.
Ein weiterer Beleg für die bestehende Distanz gegenüber dem jetzigen Gesellschaftssystem ist die äußerst geringe Bereitschaft zum politischen Engagement. Dazu liegen aufschlussreiche Daten aus der Zeit vor und nach der Wende vor (s. Abbildung 6).
Die Orientierung der TeilnehmerInnen dieser Studie auf eine aktive Beteiligung am politischen Leben hatte bereits vor der Wende drastisch abgenommen - Folge ihrer sich verstärkenden Enttäuschung von der Politik der SED. Erkennbar ist aber auch, dass dieser Abwärtstrend nach der Wende weitergegangen ist, sich sogar enorm verstärkt hat. Dieser Trend hat nichts mit dem Alter der Panelmitglieder zu tun, sondern kann nur als Ausdruck einer erneuten Enttäuschung und Verweigerung eines großen Teils dieser jungen Leute auch gegenüber dem neuen gesellschaftlichen System betrachtet werden.
Die Skepsis der meisten TeilnehmerInnen gegenüber dem jetzigen Gesellschaftssystem kulminiert in weit verbreiteten Zweifeln an seiner Zukunftsfähigkeit (s. Tabelle 2).
Der Anteil derer, die das jetzige Gesellschaftsmodell als das einzige menschenwürdige Zukunftsmodell ansehen, ist sehr gering. Er stieg zwar Ende 2001 (d.h. nach den Ereignissen vom 11. September) leicht an (signifikant), ging 2002 jedoch wieder zurück; die Befürworter bleiben eine Minderheit. Die Hoffnung, dass das jetzige Gesellschaftssystem für immer erhalten bleibt, haben im Frühjahr 2002 12 Prozent, 50 Prozent erhoffen das Gegenteil, 38 Prozent äußern sich ambivalent. Die meisten dieser jungen Leute betrachten das jetzige System offensichtlich nicht als das "Ende der Geschichte".
Die Unzufriedenheit des größten Teils der Panelmitglieder mit ihrem gesellschaftlichen Umfeld führte zu teilweise überraschenden Entwicklungen anderer politischer Grundeinstellungen. Wir führen hier nur zwei davon an.
4. Schon Bundesbürger, aber noch immer DDR-Bürger
Die Skepsis der meisten jungen Frauen und Männer gegenüber dem jetzigen Gesellschaftssystem äußert sich auf spezifische Weise im Identitätswandel vom DDR-Bürger zum Bundesbürger, der sich als ein unerwartet langwieriger Prozess erweist (s. Abbildung 7).
Die Identifikation mit der Bundesrepublik hat sich zwischen 1992 und 2002 nicht verstärkt. Lediglich Ende 2001/Anfang 2002, d.h. kurz nach den Ereignissen vom 11. September, deutete sich ein leichter Zuwachs an, der jedoch im Frühsommer 2002 wieder verschwand. Die Identifikation mit der untergegangenen DDR war im Untersuchungszeitraum 1990 bis 1996 trotz des gewachsenen Abstandes zu ihrem Untergang nur tendenziell rückläufig, um danach wieder zuzunehmen. Im Jahr 2002 stimmen zwar die Prozentverteilungen bei Zusammenfassung der Antwortpositionen 1 und 2 völlig überein, einschränkungslos identifizieren sich jedoch signifikant mehr TeilnehmerInnen der Studie mit der DDR als mit der BRD: 42 Prozent gegenüber 34 Prozent.
Eine Kopplung beider Angaben (die Antwortskala wurde dafür dichotomisiert) ergibt im Jahr 2002: Bei 70 Prozent der Panelmitglieder ist eine "Doppelidentität" zu beobachten. Sie fühlen sich als Bundesbürger, ohne jedoch ihre Verbundenheit mit der DDR aufgegeben zu haben; 13 Prozent fühlen sich vorwiegend als Bundesbürger und nicht mehr als DDR-Bürger; ebenfalls 13 Prozent haben noch kein Zugehörigkeitsgefühl zur Bundesrepublik entwickelt, fühlen sich noch vorwiegend als DDR-Bürger. Die restlichen 4 Prozent fühlen sich weder als Bundesbürger noch als DDR-Bürger.
Das Zugehörigkeitsgefühl zur DDR ist offensichtlich tiefer verwurzelt, als bisher angenommen wurde. Es wird auch von jungen Menschen nicht in verhältnismäßig kurzen Zeiträumen als Ballast abgeworfen. Ausdrücklich betont sei, dass es sich dabei nicht um politische Bindungen an die untergegangene DDR handelt. Großes Gewicht haben dabei vielmehr tiefe lebensgeschichtliche Prägungen, vor allem das Erleben der DDR als Heimatland, die Erinnerung an eine meist sorgenfreie Kindheit und Jugend, die vielfach aufgewertet wird durch den Kontrast heutiger Alltagserfahrungen. Vor allem die Erinnerungen an die damals erfahrene Sozialpolitik, insbesondere die soziale Sicherheit, spielen bis in die Gegenwart eine große Rolle.
Faktisch unverändert hält die überwiegende Mehrheit der TeilnehmerInnen in ihren Erinnerungen an die DDR daran fest, dass diese "gute und schlechte Seiten" gehabt habe (s. Abbildung 8).
In ihren zusätzlichen Notizen vertreten zahlreiche TeilnehmerInnen die Auffassung, dass es ein grundsätzlicher Fehler der Vereinigungspolitik (gewesen) sei, faktisch keine der ihrer Meinung nach "guten Seiten" der DDR in das vereinte Deutschland zu übernehmen. Erwähnt werden in diesem Zusammenhang vor allem die Kindereinrichtungen in der DDR, häufig auch die Jugendklubs, Ferienlager, Polikliniken und in jüngster Zeit in zunehmendem Maße das Schulsystem. Oft wird kritisiert, dass "vieles im Osten bewusst plattgemacht wurde" und "nur der Grüne Pfeil übrig geblieben" sei. Absehbar ist, dass die Herausbildung einer von "Resten" der DDR-Verbundenheit freien Identität mit der Bundesrepublik noch längere Zeit dauern wird.
5. Sozialistische Ideale sind nicht aus den Köpfen verschwunden
Ausdruck der verbreiteten Unzufriedenheit der Panelmitglieder mit dem jetzigen Gesellschaftssystem - gewissermaßen ihre Kehrseite - ist die Tatsache, dass ein beträchtlicher Teil von ihnen (noch oder wieder) an sozialistische Ideale glaubt (s. Abbildung 9).
Aus den Angaben zur Gegenwart geht hervor, dass im Jahr 2002 mehr als die Hälfte der Panelmitglieder an sozialistische Ideale glaubt. Gegenüber 1993 ist ein leichter, aber signifikanter Zuwachs von 46 Prozent auf 53 Prozent zu beobachten. Sozialistische Ideale sind offensichtlich trotz des von den Panelmitgliedern "hautnah" als Zeitzeugen erlebten Zusammenbruchs des "real existierenden Sozialismus" keineswegs bei allen diskreditiert. Im Gegenteil: Diese Ideale erfahren zunehmend Zuspruch, was der Einzelne auch darunter verstehen mag. Das gilt in besonderem Maße für die jungen Frauen, von denen erheblich mehr an sozialistische Ideale glauben als bei den jungen Männern (2002: 59 Prozent gegenüber 47 Prozent).
Mit diesem Zuwachs geht ein deutlicher, signifikanter Anstieg beim Anteil jener Panelmitglieder einher, die sich in ihrer Erinnerung vor der Wende zu den sozialistischen Idealen bekannt haben: Von 56 Prozent 1993 auf 65 Prozent 2000 bzw. 63 Prozent 2002. Die zunehmende Bejahung sozialistischer Ideale in der Gegenwart hat dazu beigetragen, sich auch in der Erinnerung, sozusagen rückwirkend, wieder häufiger zu ihnen zu bekennen.
Mit rund 40 Prozent plädieren seit Jahren zwar weniger Panelmitglieder für eine reformsozialistische Alternative zur jetzigen politischen Ordnung. Dennoch lässt auch dieses Ergebnis erkennen, dass sozialistische Vorstellungen bei einem beträchtlichen Teil von ihnen noch oder wieder Einfluss auf ihr Denken und Fühlen nehmen.
III. Wesentliche Einflussfaktoren des politischen Mentalitätswandels
Die Anlage unserer Untersuchung als Längsschnittstudie macht es möglich, über charakteristische Trends hinaus auch Einflussfaktoren nachzuweisen, die hinter diesen Trends stehen, insbesondere hinter denen einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Kritik der Panelmitglieder am jetzigen Gesellschaftssystem.
Wie schon zu DDR-Zeiten ist für die Panelmitglieder auch gegenwärtig nicht politische Rhetorik entscheidend für ihre Identifikation mit dem Gesellschaftssystem, sondern das persönliche Erleben der gesellschaftlichen Realität. Diese Erfahrungen sind, wie die Daten belegen, hochgradig ambivalent, auch zwölf Jahre nach der Vereinigung. Seit 1995 zielt eine Frage auf die generellen Erfahrungen der Jugendlichen mit dem neuen Gesellschaftssystem (s. Tabelle 3).
Rund ein Viertel (27 Prozent) verweist 2002 auf überwiegend positive Erfahrungen, nur 6 Prozent haben überwiegend negative Erfahrungen gemacht. Für die überwiegende Mehrheit (67 Prozent) sind jedoch ambivalente Erfahrungen charakteristisch, d.h., positive und negative Erfahrungen stehen nebeneinander. Das geht auch aus zahlreichen Notizen wie diesen zu den Folgen der Vereinigung hervor:
"Positiv: Wir verreisen sehr gerne, und ohne die Einheit wäre unser letzter Urlaub sicher nicht nach Grönland gegangen. Negativ: Ich habe vor 5 Tagen mein erstes Kind bekommen und wurde vor zweieinhalb Monaten wegen Liquidation der Firma gekündigt. Ohne die Einheit wäre das nicht geschehen!"
Auf einige wesentliche Erfahrungen unserer Panelmitglieder soll in gebotener Kürze eingegangen werden.
1. Arbeitslosigkeit, Unsicherheit des Arbeits-/Ausbildungsplatzes
Die Erfahrung Arbeitslosigkeit geht wie ein Riss durch die Gruppe der Befragten. Sie wirkt sich deutlich auf viele Aspekte der Wahrnehmung und Bewertung der Gesellschaft aus. Der Anteil der Panelmitglieder, die schon die Erfahrung eigener Arbeitslosigkeit machen mussten, hat sich in den vergangenen Jahren deutlich vergrößert (s. Abbildung 10).
Im Jahr 2002 sind es bereits fast zwei Drittel (63 Prozent), die diese stark prägende Erfahrung machen mussten; diese Zahl spricht für sich.
Aus unseren Daten geht außerdem hervor, dass auch ein beachtlicher Teil der Eltern unserer TeilnehmerInnen von Arbeitslosigkeit betroffen ist: Seit 1992 gibt rund ein Drittel an, dass zumindest ein Elternteil arbeitslos ist. Außerdem ist bei mindestens zehn Prozent der TeilnehmerInnen der Lebenspartner/die Lebenspartnerin ohne Arbeit. Daraus ergibt sich, dass bis 2002 rund drei Viertel dieser jungen Ostdeutschen im sozialen Nahbereich direkt und/oder indirekt mit den Auswirkungen von Arbeitslosigkeit konfrontiert wurden - mit nachweislich erheblichen Konsequenzen für ihre politischen Einstellungen und ihre Befindlichkeit. So überrascht es nicht, dass 2002 jeweils rund drei Viertel dieser jungen Leute Arbeitslosigkeit für ein typisches Merkmal des jetzigen Gesellschaftssystems halten; meinen, dass Arbeitslosigkeit den Menschen das Selbstbewusstsein nimmt bzw. die Menschen krank macht; bejahen, dass Arbeitslosigkeit den Verlust an individuellen Freiheiten bedeutet. 83 Prozent von ihnen stimmen zu, dass Arbeitslosigkeit Angst vor der Zukunft macht.
Zur verbreiteten Erfahrung Arbeitslosigkeit kommt hinzu, dass seit 1993 das Gefühl, gegenwärtig einen sicheren Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz zu besitzen, zurückgegangen ist, insbesondere in seiner einschränkungslosen Ausprägung (s. Abbildung 11).
2. Geringe Möglichkeiten demokratischer Mitgestaltung
Die TeilnehmerInnen der Studie äußern sich seit Jahren mehrheitlich sehr kritisch über ihre geringen demokratischen Mitgestaltungsrechte, an die sie wie die Ostdeutschen generell in der Wendezeit große Erwartungen hatten (s. Abbildung 12).
Diese Daten sprechen für eine massive Enttäuschung: Nur jeweils etwa ein Drittel äußert sich positiv, die wenigsten davon ohne Einschränkung. Eine Tendenz zu größerer Zufriedenheit ist nicht auszumachen, auch nicht nach dem Regierungswechsel 1998. Weitere Daten unterstreichen die bedenkenswerte Situation: Seit 1996 beträgt z.B. die Quote derer, welche die Erfahrung gemacht haben, dass sich die Politiker für ihre Meinung interessieren, faktisch unverändert drei bis vier Prozent!
3. Erhebliche Defizite im Erleben sozialer Gerechtigkeit
Die verbreitete Unzufriedenheit mit dem politischen System und mit der Wirtschaftsordnung hat ihre Wurzeln in bedeutendem Maße darin, dass sich ein erheblicher Teil der Panelmitglieder um seinen Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand gebracht und ungerecht behandelt fühlt, eines der brisantesten Ergebnisse (s. Tabelle 4).
Zwar war bis 2000 ein leichter Zuwachs an Zustimmung zu erkennen. Dieser stammt aber überwiegend von jenen Panelmitgliedern, die von Arbeitslosigkeit verschont geblieben waren. Außerdem scheint der positive Trend 2002 unterbrochen zu sein.
4. Erfahrung, als Deutsche zweiter Klasse behandelt zu werden
Das Entstehen einer Bindung an das neue Gesellschaftssystem wird bei einem großen Teil der Panelmitglieder noch immer stark durch die Erfahrung beeinträchtigt, von vielen Westdeutschen als Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden (s. Tabelle 5).
Rund die Hälfte äußert 2002, solche Erfahrungen gemacht zu haben, 27 Prozent äußern sich ambivalent, nur 22 Prozent widersprechen. Von einer rückläufigen Tendenz kann nicht gesprochen werden.
5. Keine Zukunft im Osten!
Ein bemerkenswert deutlicher Einflussfaktor des politischen Mentalitätswandels ist das Maß an Zukunftszuversicht. Individuelle Zukunftszuversicht ist nicht nur eine Resultante gesellschaftlicher Prozesse, sondern zugleich ein gewichtiger Bestandteil jenes Faktorenbündels, das die Haltung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft so oder so beeinflusst (s. Abbildung 13).
In den Jahren 1987 bis 1989 ging die Zuversicht, in der DDR eine gesicherte Zukunft zu haben, nur wenig zurück; wir sind eingangs darauf eingegangen. Nach der Wende stürzte diese Zukunftszuversicht, nun bezogen auf Ostdeutschland, geradezu ab und hat vermutlich ihren Tiefpunkt noch nicht erreicht. Immer weniger junge Frauen und Männer verbinden ihre Zukunft mit Ostdeutschland! Wie die Studie zeigt, hat die bittere Erfahrung so vieler junger Leute, dass ihre Heimat ihnen keine Zukunft bietet, auch einen hohen politischen Preis. Längsschnittanalysen belegen z.B. eindeutig, dass der regressive Trend der Zukunftszuversicht zeitgleich zu einem Rückgang der Systemzufriedenheit geführt hat.
Dieser Absturz hat auch wesentlich dazu beigetragen, dass ziemlich viele TeilnehmerInnen der Studie nach der Wende in den Westen abgewandert sind. Den Ergebnissen der jüngsten, 16. Welle im Frühjahr 2002 zufolge gilt das für 92 junge Frauen und Männer, die inzwischen in den alten Bundesländern leben, bzw. für sechs, deren Fragebögen sogar aus dem Ausland zurückkamen. Weitere fünf Prozent derer, die im Osten geblieben sind, sitzen offenbar bereits auf ihren Koffern.
Bei der jüngsten Befragung 2002 stellte sich auch heraus, dass mit einer Rückkehr der abgewanderten TeilnehmerInnen kaum zu rechnen ist: Nur acht Prozent bejahten eine entsprechende Frage! Aus zahlreichen weiteren Antworten geht hervor, dass sie sich mittlerweile in ihrer neuen Heimat eingerichtet haben und die Trennung von den Eltern und Freunden, von der "alten" Heimat insgesamt nur sehr wenigen von ihnen Probleme bereitet. Rund drei Viertel von ihnen können sich vorstellen, dass auch ihre (künftigen) Kinder im Westen bzw. im Ausland leben werden - die sich damit potenzierenden demographischen Konsequenzen für Ostdeutschland sind evident.
IV. Schlussbemerkungen
Der Zeitraum von mehr als einem Jahrzehnt hat nicht ausgereicht, um einen größeren Teil der in die Untersuchung einbezogenen jungen Ostdeutschen politisch für das jetzige Gesellschaftssystem einzunehmen. Die meisten von ihnen sind innerhalb kurzer Zeit erneut von der Gesellschaft, in der sie leben, enttäuscht; sie halten dieses Gesellschaftssystem nicht für das "Ende der Geschichte". Die Kehrseite davon ist u.a. die Tatsache, dass der größte Teil der Panelmitglieder erstaunlich konstant an einer Doppelidentität festhält, d.h. sich schon als Bundesbürger, aber zugleich noch als DDR-Bürger fühlt. Über die Hälfte der TeilnehmerInnen identifiziert sich trotz des Zusammenbruchs des Sozialismus mit sozialistischen Idealen - Tendenz zunehmend.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, dass die Distanz vieler TeilnehmerInnen zum jetzigen Gesellschaftssystem sich nicht von allein erledigt, etwa als automatische Folge ihrer Enttäuschung vom politischen System vor der Wende. Ihre Haltung gegenüber der jetzigen gesellschaftlichen Ordnung wird vielmehr entscheidend davon abhängen, ob sie im Rahmen der notwendigen Veränderungen in Ostdeutschland jene individuellen Bedingungen vorfinden, die ihre berufliche Entfaltung fördern, frei von alltäglicher Sorge um den eigenen Arbeitsplatz bzw. den des Lebenspartners.
Von erheblichem Einfluss wird auch sein, ob sie sich sozial gerecht behandelt fühlen, und ob sie - wie in der Wendezeit erwartet - Demokratie spürbar als Politikform realer Mitwirkung und Mitentscheidung der Bürger erleben. Das sind allerdings keine spezifischen Jugendprobleme, sondern Herausforderungen an die Gesellschaft insgesamt.
Internetverweis: Deutsche Shell (Hrsg.), Jugend 2002. 14. Shell Jugendstudie, Hamburg 2002 unter:
Externer Link: https://www.shell-jugend- studie.de