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Russlands muslimische Ethnien und Nachbarn | Russland und Europa | bpb.de

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Russlands muslimische Ethnien und Nachbarn

Uwe Halbach

/ 21 Minuten zu lesen

Mit der Beteiligung Russlands am internationalen "Kampf gegen den Terrorismus" verdeckt Moskau sein Vorgehen in Tschetschenien. Insgesamt ist das Verhältnis der Russen zu den muslimischen Ethnien im eigenen Land sehr gespannt.

Einleitung

Wie in vielen Ländern Europas bilden Muslime in Russland die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft, und zwar nach der Russisch-Orthodoxen Kirche vor dem Judaismus und dem Buddhismus, die als die traditionellen Religionen auf dem Territorium der Russischen Föderation (RF) gelten. Ihre im Vergleich zur russischen Bevölkerungsmehrheit wachsende Zahl wird in russischen Quellen mit zwischen acht und mehr als 20 Millionen angegeben. Dazu zählen Angehörige von etwa 40 Völkern - wie etwa die Tataren, die größte muslimische Nationalität des Landes (5,5 Mio.), die mit dem gleichen Recht wie die Russen ihre historische Heimat auf dem Territorium der Russischen Föderation erblicken -, aber auch Migranten aus GUS-Staaten, wie u. a. Aserbaidschaner, Usbeken, Tadschiken, die den wirtschaftlichen Problemen ihrer Heimatländer entfliehen und Arbeit in dem ökonomisch besser gestellten Russland suchen, dabei aber auf wachsende antimuslimische und antikaukasische Ressentiments in der russischen Öffentlichkeit stoßen.

Muslime leben auf dem gesamten Territorium der Russischen Föderation, von St. Petersburg bis zum Fernen Osten, in größerer Zahl in Moskau und einigen anderen Städten in zentralen und südlichen Landesteilen. Die relativ kompakten "Muslimregionen" sind die Wolga-Ural-Region sowie der Nordkaukasus am Südrand des Landes. Diese beiden "islamischen Massive" Russlands sind denkbar unterschiedlich, was ihre Integration in die Staatlichkeit und Wirtschaft Russlands, ihre sozialökonomische Entwicklung und sozialkulturellen Bedingungen betrifft.

Überhaupt bilden Muslime in Russland keine homogene, organisatorisch geschlossene Gemeinschaft. Das kommt schon in der starken Zersplitterung der offiziellen islamischen Verwaltungsstrukturen zum Ausdruck. Existierten in sowjetischer Zeit auf dem Territorium der heutigen Russischen Föderation zwei Geistliche Verwaltungen (Muftiate) - eine in Ufa für die Muslime im europäischen Teil Russlands und in Sibirien sowie eine im Nordkaukasus -, so entstanden beim Zerfall der Sowjetunion in den nationalen Teilrepubliken und Regionen der Russischen Föderation Dutzende Muftiate auf regionaler, lokaler und ethnischer Basis. Aber nicht nur auf der Verwaltungsebene spiegelt sich die Heterogenität der "russländischen Muslime" wider. Der Islam bei den Tataren hat eine andere Prägung als bei den dagestanischen und anderen nordkaukasischen Völkern. Identifizieren sich tatarische Muslime mit Europa und verweisen dabei auf die bedeutendste Modernisierungsbewegung unter Muslimen des Zarenreichs: auf die Djadiden(Erneuerer)-Bewegung unter den Krim- und Wolgatataren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, so stand Dagestan bis an die Schwelle zur Sowjetzeit eher in kultureller Verbindung zur arabisch-islamischen Welt des Vorderen Orients. Ist die Wolga-Ural-Region bei aller Autonomiebestrebung der Republik Tatarstan mit der Staatlichkeit und Wirtschaft Russlands eng verbunden, so galt der Nordkaukasus schon in der zaristischen und sowjetischen Vergangenheit als eine mit dem Rest des Landes nur schwach verbundene Kolonialperipherie. Die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Russland und seinen Muslimen wird seit der Mitte der neunziger Jahre zunehmend dadurch bestimmt, dass das Bild, das sich die russische Öffentlichkeit von Muslimen macht, immer stärker "vom Rand her" geprägt wird - von den gewalthaften Krisenlagen im Nordkaukasus und insbesondere vom andauernden Krieg in Tschetschenien.

I. Der Nordkaukasus: islamische Krisenperipherie Russlands

Geht es um Probleme innerer und äußerer Sicherheit, um die Wahrung territorialer Integrität sowie um Einflussmacht an seiner Südflanke und nicht zuletzt um die Entwicklung des Islam in seinem eigenen Hoheitsbereich, fällt für Russland kein anderer Landesteil so ins Gewicht wie der Nordkaukasus. Diese zwischen der kaspischen Küste im Osten und der Schwarzmeerküste im Westen gelegene Region besteht geografisch aus den nördlichen Hoch- und Vorgebirgszonen des Kaukasus und den sich anschließenden Steppenzonen und politisch - von Osten nach Westen gesehen - aus den Teilrepubliken Dagestan (2,12 Mio. Einwohner), Tschetschenien (laut Volkszählung im Jahr 2002 1,1 Mio., was aber nach zwei verlustreichen Kriegen unglaubwürdig ist), Inguschetien (rd. 300000), Nordossetien (660000), Kabardino-Balkarien (800000), Karatschai-Tscherkessien (436000) und Adygien (450000) sowie aus den Gebieten und Regionen Stawropol (2,68 Mio.), Krasnodar (5 Mio.) und Rostow (4,4 Mio. Einwohner). Diese Region bildet den größten Teil des Südlichen Föderalbezirks, der unter den neu geschaffenen sieben so genannten "Gouvernements" der Russischen Föderation eine herausgehobene Bedeutung hat.

In der internationalen Wahrnehmung bezieht sich das problematische Verhältnis Russlands zu seiner kaukasischen Peripherie auf den andauernden Krieg in Tschetschenien, der für die Zivilbevölkerung in der kleinen Kaukasusrepublik die Hölle, für Russland eine Schande, für die gesamte, ohnehin instabile kaukasische Region einschließlich der unabhängigen Staaten des Südkaukasus eine Destabilisierungsgefahr und für Europa eine Herausforderung darstellt, die nicht länger verdrängt werden darf. Das Geiseldrama vom Oktober 2002 hat die Gewaltausstrahlung verdeutlicht, die von diesem schmutzigen Krieg am Rande Europas ausgeht. Aber die nordkaukasischen Krisen- und Konfliktlandschaften sind nicht auf Tschetschenien beschränkt. Das Heidelberger Konfliktbarometer für das Jahr 2002 lokalisiert hier die größte Verdichtung akuter gewalthafter Krisen in Europa nach der Deeskalation der Balkankonflikte.

Die Hervorhebung dieser Region ist begründet:

- Geostrategisch durch die Tatsache, dass sie nach dem Zerfall der Sowjetunion zu der am stärksten exponierten Grenzregion Russlands geworden ist. Die Staatsgrenze zwischen der RF und unabhängig gewordenen ehemaligen Sowjetrepubliken - in diesem Fall Georgien und Aserbaidschan - verläuft hier in einer Region, in der sich Moskau in besonderem Maße einer Einflusskonkurrenz durch extreme Mächte ausgesetzt fühlt. Dabei korrespondieren Konfliktzonen beiderseits dieser Staatsgrenze, nördlich und südlich des kaukasischen Hauptgebirgskammes, miteinander. In Südkaukasien bilden Sezessionsgebilde wie Abchasien und Südossetien oder andere zentrifugale Landesteile Georgiens wie das im letzten Jahr zu Weltbekanntheit avancierte Pankisi-Tal Scharnierstellen gegenüber den Krisen- und Konfliktlandschaften im Nordkaukasus; umgekehrt strahlt der Tschetschenienkrieg auf die ohnehin instabile Lage im Südkaukasus aus.

- Geoökonomisch durch die Transitfunktion für den Export kaspischer Energie-Rohstoffe über das Territorium Russlands.

- In Hinsicht auf Konfliktbearbeitung durch die Tatsache, dass sich hier mehrere interethnische und territoriale Konflikte entfaltet haben, die von den Kriegen in Tschetschenien in den Hintergrund gedrängt wurden. Ein Beispiel für die komplizierten und konfliktanfälligen ethnischen, politischen, sozialökonomischen und religiös-politischen Verhältnisse bietet die größte nordkaukasische Teilrepublik Dagestan.

- In sozialökonomischer Hinsicht durch die hohe Abhängigkeit lokaler Haushalte vom föderalen Budget und durch eine weitgehende Verarmung besonders in den östlichen Teilen des Nordkaukasus; ganz abgesehen von der immensen Zerstörung, die zwei Kriege in Tschetschenien angerichtet haben. Diese Bedingungen bilden den Nährboden für die Verbreitung extralegaler Wirtschaftstätigkeiten, die im Kaukasus zudem traditionelle Wurzeln haben.

- Schließlich durch den kolonialgeschichtlichen Hintergrund, der das Verhältnis zwischen Russland und den nordkaukasischen Muslimvölkern bestimmt: Bei seiner Expansion in ihm fremde Kulturzonen ist Russland nirgendwo ein so anhaltender Widerstand entgegengesetzt worden wie hier. Nirgendwo war die Unterwerfung fremder Völker und Regionen unter russische Oberherrschaft so stark von kolonialer Gewalt und Gegengewalt geprägt wie in diesem Fall.

In dieses Spannungsfeld aus geopolitischen, interethnischen, sozioökonomischen, kulturellen und historischen Faktoren ist die Entwicklung "islamischer Wiedergeburt" in nachsowjetischer Zeit und die Wahrnehmung dieses Prozesses durch Russland einzuordnen. Die nationalen Teilrepubliken des Nordkaukasus bilden die muslimische Südperipherie der Russischen Föderation. Bis auf die Osseten, die nur teilweise der islamischen Glaubensgemeinschaft und zum anderen Teil der Russisch-Orthodoxen Kirche angehören, sind die Hauptnationalitäten hier Muslime, die allerdings unterschiedlich stark - mit deutlichem Ost-West-Gefälle - in islamischer Tradition verankert sind. Die russische Bevölkerung wandert aus diesem Gürtel zunehmend aus. Ihr Anteil an der Bevölkerung Dagestans ist von zwölf auf sechs Prozent gesunken. In Tschetschenien gibt es nur noch winzige Restbestände russischer Bevölkerung (einige Zehntausend), die hier vor Ausbruch der "tschetschenischen Revolution" und des ersten Tschetschenienkriegs noch 400000 Personen zählte. Die vorgelagerten südrussischen Gebiete und Regionen Krasnodar und Stawropol haben zwar deutliche russische Bevölkerungsmehrheiten. Diese Pufferzone zwischen Russland und seinem islamischen "inneren Ausland" im Kaukasus wird aber in zunehmendem Maße zu einer Bühne für Konflikte zwischen der slawischen Bevölkerung und kaukasischen Zuwanderern und Flüchtlingen.

Der Nordkaukasus - insbesondere sein Ostabschnitt von Dagestan bis Inguschetien - bildete eine Zone mit hoher sozialkultureller Resistenz gegen die Sowjetisierung und ihre antireligiöse Politik. Die islamische Tradition war und ist hier stark von sozialen Organisationsformen aus dem sufitischen Bruderschafts- oder Ordenswesen geprägt. Für diese Strukturen bürgerte sich in der russischen Publizistik der Terminus "Tarikatismus" ein, ausgehend von "tariqa" (Methode und Organisationsform einer Sufi-Bruderschaft). Ebenso wurde dieses Phänomen von der Lehrer- bzw. Schülerseite her als "Scheichismus" oder "Muridismus" bezeichnet. 1975 konstatierte ein sowjetischer Regionalexperte, gut die Hälfte der erwachsenen Muslime in der Tschetscheno-Inguschischen ASSR seien in Muridengruppen organisiert. Dieses religiöse Organisationswesen verschränkte sich mit ethnischen und tribalen Zuordnungen und ragte bis in die Partei und die sowjetischen Machtorgane hinein.

In nachsowjetischer Zeit erfuhr dieses religiöse Organisationswesen noch einen deutlichen Aufschwung. Es erwuchs ihm nun aber auch ein dogmatischer Gegner in Gestalt fundamentalistischer Strömungen, die in der russischen Publizistik pauschal mit dem Schlagwort "Wahhabismus" bezeichnet werden, worauf noch einzugehen sein wird. Besonders in Dagestan kollidierten "Tarikatismus" und "Wahhabismus". Der tradierte Brauchtumsislam mit seinen lokalen Riten und sufitischen Einschlägen wurde von Propagandisten eines "reinen Islam" in Frage gestellt, die dieses Brauchtum als "heidnisch" denunzierten. Das zunehmend grelle Islambild in der russischen Öffentlichkeit wurde jedoch weniger von der besonders intensiven, aber auch kontroversen "islamischen Wiedergeburt" in Dagestan bestimmt als von den ideologisch-propagandistischen Instrumentalisierungen des Konflikts, der sich zwischen dem russischen Machtzentrum und dem abtrünnigen Tschetschenien entfaltete.

II. "Islamisierung" des Tschetschenienkriegs und "Tschetschenisierung" der russischen Islamperzeption

Der Blick Russlands auf seine zweitgrößte, aber heterogene und in ihrer Mehrheit politisch kaum aktive Glaubensgemeinschaft geht seit Mitte der neunziger Jahre durch das Prisma der Gewalteskalation im Nordkaukasus: Islam und Muslime werden immer einseitiger im Zusammenhang mit dem "Anti-Terror-Kampf" gegen "Moslemrebellen" in Tschetschenien wahrgenommen. Eine russische Publizistin warnte daher vor dem verzerrten Bild, das sich die russische Öffentlichkeit von dem ihr kaum bekannten muslimischen Bevölkerungsteil ihres Landes macht: "In diesem Vakuum an Kenntnis über eine zwischen einem Dutzend und Zigmillionen schwankende Zahl an Mitbürgern lassen sich grelle Klischees wie das von den Wahhabiten sehr gut verbreiten. Weitgehend bildet dieser Bevölkerungsteil eine schweigende Minderheit - in krassem Gegensatz zum Bild des religiösen Fanatikers und radikalen Aktivisten, das der islamische Boom in den Medien in den letzten Jahren erzeugt hat. 90 Prozent der Aussagen in der russischen Publizistik über das Thema Islam beziehen sich auf Extremismus. Gäbe es nicht die so genannten Wahhabiten in Tschetschenien, würde sich für die Muslime in Russland kaum jemand interessieren." Islamische Intellektuelle wie der Rektor der Moskauer Islamischen Universität, Marat Murtasin, beklagen die islamophobe Darstellung des Tschetschenienproblems in russischen Medien sowie in der offiziellen Politik als eine ernsthafte Gefahr für das bislang noch weitgehend intakte Zusammenleben unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften in Russland.

Die beiden Kriege in Tschetschenien haben wie kein anderes Ereignis das Islambild in Russland beeinflusst. Sie haben einerseits für die "Islamisierung" eines Konflikts gesorgt, der eigentlich mit Islam wenig zu tun hat, andererseits für eine "Tschetschenisierung" des Bildes, das sich die russische Öffentlichkeit vom Islam und vom Islamismus macht. Zu Beginn des Konflikts spielte die islamische Identifikation nur eine untergeordnete Rolle auf der Seite der tschetschenischen Separatisten. Erst in der militärischen Konfrontation mit Russland wuchs diese Rolle, wurde die Widerstandsideologie der "bojewiki" in Richtung "dschihad" verschoben. Der "Sezessionsführer" Dudajew sagte kurz vor seinem Tod 1996 sinngemäß, erst Russland habe durch seine Militärmaßnahmen die "tschetschenische Revolution" in den Islam hineinkatapultiert. Zudem öffneten die beiden Kriege auf ähnliche Weise Schleusen für Einflüsse aus dem islamischen Ausland wie in sowjetischer Zeit der Afghanistankrieg. Inwieweit auch immer Verbindungen zwischen tschetschenischen Akteuren und internationalen islamistischen Netzwerken bestehen - in jedem Fall fügt sich insbesondere der zweite Tschetschenienkrieg in ein mittlerweile etabliertes Bild: Zwischen den Philippinen und dem Balkan gibt es wohl kaum noch einen Konflikt mit Beteiligung einer muslimischen Konfliktpartei und mit separatistischem oder anderem Hintergrund, an dem nicht das Element international vernetzter Dschihad-Bewegungen "andockt". Das Wesen und die Genese des jeweiligen Konflikts macht dieser Vorgang freilich nicht aus.

Die Entwicklung in Tschetschenien seit 1996 hatte dazu beigetragen, dass die komplexen Probleme, mit denen Russland im Nordkaukasus konfrontiert wird, in der publizistischen Darstellung auf "islamistische Gewalt" reduziert wurden und Russland sich als ein Frontstaat im Kampf gegen den internationalen Islamismus präsentierte. Nach dem Ende des für die tschetschenische Seite zunächst siegreich erscheinenden ersten Kriegs wurde im November 1996 der Islam zur Staatsreligion der "Tschetschenischen Republik Itschkerija" deklariert. Schon zuvor hatte der Nachfolger des getöteten Sezessionsführers Dudajew im Amt des Präsidenten, Selimchan Jandarbijew, die Gerichtsbarkeit auf die Basis der Scharia gestellt und den Strafrechtskodex des Sudan eingeführt, obwohl die nordkaukasischen Rechtstraditionen nichts mit der in jenem Land vorherrschenden islamischen Rechtsschule zu tun haben. Auch der 1997 gewählte Präsident Maschadow - alles andere als ein eifernder Islamist - konnte sich dem Islamisierungsprozess nicht versagen, war der Islam doch potenziell ein Faktor der Einigung für das mit immensen wirtschaftlichen, politischen und humanitären Problemen konfrontierte Nachkriegs-Tschetschenien.

Außer an der massiven Verhinderung von außen - Russland wachte mit Argusaugen über die internationale Isolation der abtrünnigen Republik und kam seinen ihr gegenüber eingegangenen Wiederaufbauverpflichtungen nicht nach - scheiterte eine tschetschenische Nationsbildung an inneren Faktoren, an stark pränationalen, partikularistischen, eigensüchtigen Kräften. Auch der Islam wurde nicht zum Ferment für Nationsbildung, sondern zur Waffe im innertschetschenischen Machtkampf, der in schillernder Gemengelage aus Regierungs- und Oppositionskräften, staatlichen und kriminellen Strukturen, nationalistischen und islamistischen Strömungen ausgetragen wurde. Die Opposition gegen Maschadow und das von ihm repräsentierte, aber nicht implementierte Gewaltmonopol des Sezessionsregimes wurde von autonom handelnden Kriegsherren wie Schamil Bassajew, Bandenführern wie Arbi Barajew und ausländischen "Wahhabiten" wie Chattab verkörpert.

Die so genannten "Wahhabiten" in Tschetschenien lieferten mit Übergriffen auf die Nachbarrepublik Dagestan zur Unterstützung dortiger Gesinnungsgenossen im Kampf gegen dagestanische und russische Machtstrukturen im August 1999 Moskau einen Anlass für die - wohl schon zu einem früheren Zeitpunkt geplante - Wiederaufnahme von Militärmaßnahmen gegen die abtrünnige Republik. Dabei hatten sie das Potenzial für einen pankaukasisch-muslimischen Aufstand völlig falsch eingeschätzt: In Dagestan stand die Bevölkerungsmehrheit gegen die islamistischen Abenteurer auf. Von einem islamistisch-separatistischen Domino-Effekt im Nordkaukasus oder gar in anderen Muslimregionen Russlands konnte nicht die Rede sein. "Dschihad" und "islamischer Staat" waren auch nie die Option der Bevölkerungsmehrheit Tschetscheniens. Bei Umfragen bildeten die Anhänger eines religiös begründeten Staatswesens und einer Orientierung an strenger, weltliche Rechts- und Staatsgrundlagen ausschließender Gesetzesreligion eine sehr kleine Minderheit. Die "Wahhabiten" wurden als Fremde angesehen, im Zusammenhang mit Gewalt, Fanatismus und krimineller Wirtschaftstätigkeit wahrgenommen und waren der Bevölkerung verhasst. Dass religiöse Motive die islamistische Position eines Schamil Bassajew oder anderer Kriegsherren bestimmte, wird mit Recht bezweifelt.

Doch mehr als die lokalen und internationalen Gewaltakteure in Tschetschenien trafen die erneuten Kriegsmaßnahmen der föderalen Streitkräfte die Zivilbevölkerung. Die kombinierten Truppen des Verteidigungs- und Innenministeriums sowie der Geheimdienste kamen angeblich, um Recht und Ordnung in Tschetschenien wiederherzustellen und die Zivilbevölkerung vor Terrorismus zu schützen. Der ehemalige Ministerpräsident Tschernomyrdin bezeichnete das Vorgehen sogar als "humanitäre Mission" - zu einem Zeitpunkt, als die angeblich gezielte "Anti-Terror-Operation" bereits zu einem Krieg ausgeartet war, der mit Aerosol- und Vakuumbomben, schwerer Artillerie und Flammenwerfern gegen Grosny und die am dichtesten bewohnten Siedlungsgebiete Tschetscheniens ausgetragen wurde. Dieser massiven Kriegsphase folgten die so genannten "Säuberungs-" und "Sonderaktionen", die unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung ein unfassbares Ausmaß staatlichen Terrors gegen die Zivilbevölkerung entfesselten. In dieser Hölle von Gewalt am Rande Europas können sich nun wirklich Elemente von "Dschihad" und islamischem "Märtyrertum" entfalten, wie das Geiseldrama in Moskau und Terrorakte in Tschetschenien im letzten Jahr gezeigt haben. Moskaus Propagandadeutung des Tschetschenienkriegs als "Kampf gegen islamistische Gewalt" könnte so zur "selffulfilling prophecy" werden. Und damit würde Russland letztlich auch Europa gefährden - und nicht schützen, wie es ein Dmitrij Rogosin behauptet, wenn er im Europarat verkündet, Russland wehre im Nordkaukasus eine islamistische Aggression gegen das Abendland ab.

III. "Wahhabitische Expansion" vom Kaukasus bis an die Wolga?

Schon vor dem 11. September 2001 gipfelte die Entwicklung eines Bedrohungsbildes aus Islamismus, Separatismus und Terrorismus in plakativen Aussagen russischer Politiker: "Wenn extremistische Kräfte die Oberhand im Kaukasus gewinnen, wird sich diese Infektion über die Wolga ausbreiten auf andere Republiken. Wir haben dann entweder die vollständige Islamisierung Russlands oder müssen uns mit seiner Teilung in verschiedene unabhängige Staaten abfinden", so Präsident Putin im Jahr 2000.

In dieser Entwicklung wurden die Schlagworte "Wahhabit" und "Wahhabismus" zur Chiffre für alle als radikal, militant und extern gesteuert wahrgenommenen Strömungen in der "islamischen Wiedergeburt" im postsowjetischen Raum. Der Terminus verweist auf einen frühen Fall islamischen Fundamentalismus, der besondere politische Wirkung entfaltete: die am "reinen Islam" der Frühzeit orientierte, extrem puristische Lehre des Ibn Abd al Wahhab (18. Jahrhundert). In geographischer Hinsicht weist er auf die arabische Halbinsel hin, wo der Wahhabismus zur ideologischen Grundlage der saudischen Dynastie und der Staatsbildung wurde.

Das Schlagwort hat in Russland eine diffuse Bedeutung angenommen, die über den historischen Wahhabismus und den Bezug auf die religiös-politischen Verhältnisse im heutigen SaudiArabien weit hinaus getreten ist. Während in Zentralasien ideologisch radikale oder gar militärisch aktive islamistische Bewegungen mit ihrer Eigenbezeichnung identifiziert wurden (Islamische Bewegung Usbekistans, Hizb ut Tahrir u. a.), steht in Russland die Fremdbezeichnung "Wahhabiten" (die damit etikettierten Personenkreise bezeichnen sich selbst nicht so) für religiösen Fundamentalismus und Islamismus im weitesten Sinne. Der Terminus wird im Kontext mit Terrorismus und krimineller Gewalt benutzt. Er ist zu einem pejorativen Kampfbegriff geworden, ähnlich dem Schimpfwort "Faschist" in sowjetischer Zeit. Er wird dabei besonders auf den Nordkaukasus bezogen, greift aber bereits über diese Region hinaus.

Ein russischer Islamexperte unterzog das in Russland verbreitete "wahhabitische" Schrifttum einer gründlichen Analyse. Es handelt sich um russische Übersetzungen von Büchern und Broschüren, die schon in hohen Auflagen im Mittleren Osten, aber auch in Europa und den USA verbreitet worden sind. Das Hauptprinzip dieser Literatur besteht in der Anpassung islamischer Dogmen und Termini an ein radikal-islamistisches Weltbild: zum Beispiel die Einengung des Dschihad-Begriffs auf den bewaffneten Kampf gegen Ungläubige und die maßlose Ausdehnung des Begriffs "kufr" (Unglaube) auf alle, die der eigenen militanten Islamauffassung nicht folgen. Hervorstechend ist die Anfeindung ritueller Formen des "Alltags-" oder "Brauchtumsislam", der das Überleben islamischer Tradition in sowjetischer Zeit gewährleistet hat. Keine Frage, im Auftreten solcher Prediger des "reinen Islam" steckt Konfliktpotenzial für Regionen, wo nach sieben Jahrzehnten sowjetischer Herrschaft "religiöser Analphabetismus" herrschte und deren "religiöse Wiedergeburt" leicht von außen zu beeinflussen war und ist.

Umso wichtiger wäre die präzise Identifizierung radikal-religiöser Akteure. "Wahhabismus" wird als Schlagwort in der politischen Publizistik und Alltagssprache aber so inflationär verwendet, dass ein Kritiker in einer nordkaukasischen Zeitung kürzlich meinte: "Bei uns ist schon jeder Verkehrspolizist und Milizionär ein Experte für Wahhabismus." Oft genügt die Barttracht, um einen "Wahhabiten" auszumachen. Russische Islamwissenschaftler haben auf die Fragwürdigkeit dieses "Wahhabitengespensts" hingewiesen, ohne dabei in Frage zu stellen, dass es im Prozess "islamischer Wiedergeburt" ernst zu nehmende islamistische Strömungen und Einflüsse von außen gibt. Tatsächlich konnten sich islamistische Einflüsse nach der Aufhebung des "Eisernen Vorhangs" durch bestimmte Kanäle entfalten - so über das Auslandsstudium junger Muslime aus Russland und die Entsendung religiösen Lehrpersonals aus dem Ausland nach Russland. Unter den als "Wahhabiten" etikettierten Personen begegnen einem Gläubige mit einer für exsowjetische Muslime untypisch konsequenten islamischen Lebensführung. In Usbekistan ist der Staat im Kampf gegen "religiösen Extremismus" über die strafrechtlich gebotene Verfolgung von Gewaltakteuren weit hinaus gegangen und hat Tausende observanter Muslime ins Gefängnis geworfen.

IV. Die außenpolitische Dimension

Russlands nähere und fernere islamische Nachbarschaft besteht aus sechs Staaten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit im GUS-Raum sowie aus Staaten im Mittleren Osten, die einmal bevorzugte Adressaten sowjetischer Orientpolitik waren. Gemeinsame Bekämpfung islamistischer Terrorgruppen ist für Moskau zu einem bevorzugten Thema für bi- und multilaterale Kooperation mit zentralasiatischen Staaten geworden. Nachdem im Sommer 1999 islamistische Kampfaktivitäten in Grenzregionen Mittelasiens mit dem "Wahhabitenaufstand" in Dagestan und dem Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs zusammenfielen, gewann dieses Thema für die sicherheitspolitische Kooperation etwa im Rahmen des GUS-Sicherheitspakts und der Shanghai Organisation - in der Russland mit zentralasiatischen Staaten und China kooperiert - an Aktualität. Nach dem 11. September 2001 schien Russland zunächst die sicherheitspolitische Initiative in Zentralasien an die USA zu verlieren. Doch seit 2002 unternahm es wieder deutliche Bemühungen, seinen strategischen Einfluss in der Region zu festigen - zwar nicht in offener Konfrontation zu seinem neuen Kooperationspartner USA, aber doch in der Absicht, Zentralasien nicht vorwiegend westlicher Sicherheitspolitik zu überlassen.

Ein Hauptthema dabei ist wiederum die Gefahr islamistischer Unterwanderung postsowjetischer Gesellschaften und Staaten. Es stößt auf offene Ohren bei zentralasiatischen Regierungen, die in islamistischer Oppositionsbildung eine Herausforderung für ihre nur schwach legitimierte, von Demokratisierung weit entfernte Herrschaft erblicken. Dieser Tage nahm Moskau die beiden islamistischen Organisationen, die von den Regimen in Zentralasien als Todfeinde angesehen werden - die propagandistisch aktive "Hizb ut Tahrir" und die auch militärisch aktiv gewordene "Islamische Bewegung Usbekistans" -, in seine eigene Liste von Terrororganisationen auf, obwohl beide bislang nicht auf dem Territorium Russlands tätig geworden sind. Umgekehrt vermittelt es den Tschetschenien-Konflikt als einen zentralen Ausschnitt aus einem globalen, zumindest aber eurasischen islamistischen Aktionsbogen und ist bemüht, tschetschenische Rebellen mit Al-Qaida-artigen Netzwerken in Verbindung zu bringen. In ihrem Bemühen, Russland in der Irakfrage auf ihre Seite zu bringen, kommen ihm amerikanische und europäische Rezipienten dabei entgegen.

Wie aber beeinflusst das Thema "Muslime in Russland" und "Kampf gegen islamistischen Terrorismus in Tschetschenien" die außenpolitischen Beziehungen zum Mittleren Osten? 1988 hatte der iranische Revolutionsführer Chomeini einen Brief an Gorbatschow gerichtet, in dem die Aufgabe der atheistischen Ideologie und der respektvolle Umgang mit den eigenen Muslimen als unabdingbare Voraussetzung für eine Verbesserung der sowjetischen Position gegenüber der islamischen Welt dargestellt wurde. Als sich in den folgenden Jahren für die "vergessenen Muslime" der Sowjetunion der "Eiserne Vorhang" hob, erwartete man in Moskau und Washington unliebsame ideologische Einflüsse aus der islamischen Welt auf Tataren, kaukasische Muslime, Usbeken und Tadschiken am ehesten von der Islamischen Republik Iran. Mittlerweile richten sich diesbezügliche Vorwürfe weit stärker an den sunnitischen und vorwiegend an den arabischen Teil der islamischen Welt. Der Iran hat sich eher als pragmatischer Akteur gegenüber dem postsowjetischen Raum erwiesen.

Viel deutlicher wirkte sich also das Thema Islam und Islamismus auf die Beziehungen Russlands zu Saudi-Arabien aus. Nach der Wiederaufnahme der seit den dreißiger Jahren unterbrochenen diplomatischen Beziehungen und nach anfänglich hohen Erwartungen an bilaterale Wirtschaftsbeziehungen (saudische Investitionen in Russland, russische Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien) zu Beginn der nachsowjetischen Periode kühlte sich das bilaterale Verhältnis wieder ab. Dafür gab es verschiedene Gründe - u. a. die Konkurrenz auf dem Weltmarkt für Erdöl sowie die Revision der russischen Israelpolitik. Zu den entscheidenden Störfaktoren gehörten aber auch die Themen Islam und Islamismus. Saudi-Arabien stand im Mittelpunkt russischer Hinweise auf externe islamistische Einflüsse auf den postsowjetischen Raum. Auch andere Staaten - wie die übrigen arabischen Golfmonarchien oder auch Pakistan - werden von Moskau in diesem Zusammenhang genannt, aber Saudi-Arabien wird hier schon durch die pauschale Verwendung des Begriffs "Wahhabismus" zur Bezeichnung extremistischer Varianten "islamischer Wiedergeburt" hervorgehoben. Verstärkt weist Moskau nach dem 11. September 2001 auf Saudi-Arabien als ein Zentrum weltweiter Verbreitung des Islamismus hin - was sich mit einer veränderten Wahrnehmung des Königreichs in den USA deckt. Auch dort wird darauf hingewiesen, dass sich die Machthaber in Riad islamistischer Opposition im eigenen Land und des Vorwurfs, sie hätten sich vom "reinen Islam" weit entfernt, durch den Export ultrapuritanischer, radikalislamischer Bewegungen zu erwehren versuchen. Riad tritt solchen Vorwürfen entgegen und weist die Verwendung des Terminus "Wahhabismus" für radikalreligiöse Bewegungen in Muslimregionen der zerfallenen Sowjetunion als Beleidigung für Saudi-Arabien zurück. Islamische Stiftungen mit Sitz in Saudi-Arabien hätten Muslimen im exsowjetischen Raum mannigfache Hilfe erwiesen und auch tschetschenische Flüchtlinge humanitär unterstützt. Aufgrund dieser Tatsache könne man die saudische Regierung nicht beschuldigen, sich in den Tschetschenienkonflikt eingemischt oder subversive Bewegungen auf dem Territorium Russlands unterstützt oder gar gelenkt zu haben. Auch russische Quellen räumen ein, dass Riad möglicherweise nicht die volle Kontrolle über Handlungen religiöser Organisationen ausübe, weisen aber darauf hin, dass Stiftungen wie "Al Haramein", die immer wieder als Förderer islamistischer Dynamiken genannt werden, kaum gegen die Interessen der Regierung handeln würden. Die Grenzen zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Islamismusexporteuren seien also fließend.

Das Thema "Kampf gegen islamistischen Terrorismus in Tschetschenien" wirkte sich auf die russische Mittelostpolitik unterschiedlich aus. In einigen Fällen wurde der Tschetschenienkrieg zum Störfaktor in den bilateralen Beziehungen Russlands zu muslimischen Nachbarn, auch wenn keine Regierung der islamischen Welt - mit Ausnahme des einstigen Taliban-Emirats in Afghanistan - die Sezession Tschetscheniens und die Eigenstaatlichkeit der "Tschetschenischen Republik Itschkerija" anerkannt hat. Die meisten Regierungen im Mittleren Osten, so die iranische, hielten sich mit Kritik an den 1999 wieder aufgenommenen Kriegsmaßnahmen Moskaus stärker zurück als westliche Regierungen. Gleichwohl warfen russische Medien die Frage der Unterstützung separatistisch-islamistischer Bewegungen im postsowjetischen Raum durch mittelöstliche Länder auf. Offiziell gewährte das islamische Ausland den tschetschenischen Separatisten keinerlei finanzielle oder andere Hilfe: Die Regierungen im Mittleren Osten durften mit Blick auf eigene innerstaatliche Konfliktpotenziale nicht daran denken, eine Sezessionsbewegung zu unterstützen. Aus nichtstaatlichen Quellen gingen jedoch durchaus Finanzhilfen und andere Unterstützungsleistungen an Tschetschenien. Darunter nennen russische Quellen Organisationen in Kuwait (Organisation islamischer Rettung Tschetscheniens, Gesellschaft für Sozialreform u. a.), Katar (Wohltätigkeitsgemeinschaft Katars, Stiftung Id Ben Muhammad u. a.), Bahrain (Versammlung für Reform), Jemen (Organisationen im Umfeld der Al-Islah-Partei), in den Vereinten Arabischen Emiraten u. a. Besondere Erwähnung finden Länder mit Bevölkerungsteilen nordkaukasischer Herkunft wie die Türkei und Jordanien. Laut russischen Angaben brachten allein die jordanischen "Moslembrüder" seit 1999 mehr als 20 Millionen Dollar für die bedrängten Glaubensbrüder in Tschetschenien auf.

In der Türkei leben zwischen fünf und sieben Millionen Nachfahren von Flüchtlingen aus der Zeit der Kaukasuskriege des 19. Jahrhunderts und des Bürgerkriegs nach 1917. Zahlreiche nordkaukasische Kulturvereine riefen dort 1994 und 1999 zur Solidarität auf mit den vom Krieg bedrängten Tschetschenen. Auf der Problemliste russisch-türkischer Beziehungen stand daher der Verdacht gegenseitiger Einflussnahme auf separatistische Kräfte - hier das Problem tschetschenischer Separatisten, dort das der kurdischen Nationalbewegung. Insgesamt waren und sind diese bilateralen Beziehungen von starker Ambivalenz zwischen Wirtschaftsinteressen und Geopolitik geprägt. Einerseits ist die Türkei ein Haupthandelspartner Russlands, andererseits konkurriert sie mit Russland um Einfluss im kaukasisch-kaspischen Raum als ein enger Verbündeter amerikanischer Politik in dieser Region. Spannungen in den bilateralen Beziehungen haben Wurzeln in jahrhundertelanger geopolitischer Konfrontation. Gleichwohl traten Reizthemen wie Tschetschenien und PKK in den letzten Jahren hinter positiven Entwicklungen im Handel, im Tourismus, im Austausch militärischer Güter und in der Energiepolitik zurück. Mit dem Geiseldrama von Moskau im Oktober 2002 wurde das Tschetschenien-Thema aber wieder für die bilateralen Beziehungen aktuell - zumindest für einige Wochen. Türkische Medien verurteilten das Vorgehen der russischen Sicherheitskräfte besonders scharf. Daraufhin erließ der russische Botschafter in Ankara eine diplomatische Note mit einer Beschwerde über "antirussische Tendenzen". Moskau bezichtigte die kaukasischen, besonders die tschetschenischen Vereine in der Türkei, Unterstützung für den "tschetschenischen Terrorismus" organisiert zu haben, und machte der Regierung in Ankara den Vorwurf, gegenüber pro-tschetschenischen Akteuren zu nachsichtig zu sein.

In einem anderen Fall führte das Thema "Kampf gegen islamistischen Terrorismus in Tschetschenien" zur Intensivierung der bilateralen Beziehungen: Israel wurde während des zweiten Tschetschenienkriegs zum Partner Russlands im Mittleren Osten. Es unterstützte mit großem Nachdruck Moskaus "Anti-Terror-Operation" in Tschetschenien. Dafür nahm nach dem Ausbruch der Al-Aksa-Intifada die russische Regierung eine zunehmend proisraelische Haltung ein. Präsident Putin, sein tschetschenienpolitischer Sprecher Jastrschembski und der Verteidigungsminister Sergej Iwanow verglichen Terrorakte in Israel mit solchen in Tschetschenien. So auch die Duma, als sie mit großer Stimmenmehrheit nicht Israel, sondern extremistische Kräfte für die Gewalteskalation im Heiligen Land verantwortlich machte. Freilich gab es zu dieser Revision russischer Israelpolitik auch Opposition in Teilen der außen- und sicherheitspolitischen Eliten. Die Verbesserung der bilateralen Beziehungen wurde allerdings nicht allein durch die Übereinstimmung beim Thema Terrorismusbekämpfung vermittelt, sondern auch durch gegenseitige Interessen in Bezug auf Handel, Austausch militärischer Güter, Migration russischer Juden u. a. Dennoch ist es nicht zuletzt der durch den Tschetschenienkrieg vermittelten Verschlechterung des russischen Verhältnisses gegenüber Muslimen zuzuschreiben, wenn sich eine grundlegende Revision russischer Israelpolitik zu Ungunsten des Verhältnisses zur arabisch-islamischen Welt ohne größeren Widerstand vollziehen kann. Beobachter konstatieren, dass auf der aktuellen Liste russischer Xenophobien antimuslimische und antikaukasische Ressentiments bereits vor dem traditionellen Antisemitismus rangieren.

Die derzeit wohl spannendste Frage, wie sich Moskau gegenüber einem Krieg gegen den Irak verhält, hat mit Russlands Verhältnis gegenüber Muslimen auf den ersten Blick nichts zu tun, dafür umso mehr mit dem neuen russisch-amerikanischen Verhältnis und mit ökonomischen Interessen Moskaus im Irak. Aber dass die öffentliche Meinung in Russland einem Krieg gegen den Irak bis vor kurzem auch weniger kritisch gegenüberstand als die in vielen westlichen Ländern, dass sie insgesamt eine veränderte Mittelostpolitik Moskaus akzeptiert, hat letztlich doch mit einer veränderten Einstellung gegenüber der gesamten islamischen Welt zu tun.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Heidelberger Institut für Konfliktforschung, Konfliktbarometer 2002, 11. Jährliche Konfliktanalyse, Dezember 2002, S. 8.

  2. Vgl. Voprosy maucnogo ateizma (Fragen des wissenschaftlichen Atheismus), Bd. 17, 1975, S. 316.

  3. Vgl. Alexandre Bennigsen/S. Enders Wimbush, Mystics and Commissars. Sufism in the Soviet Union, Berkeley 1985.

  4. Jaroslava Zabelo, in: http://www.russ.ru.politics/20020711-zab.html

  5. Vgl. Otto Luchterhand, Tschetscheniens Versuch nationaler Unabhängigkeit: innere Ursachen seines Scheiterns, in: IFSH (Institut für Friedenforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg), OSZE-Jahrbuch 2000, Baden-Baden 2000, S. 189-224.

  6. Zum Dagestan-Krieg vom Sommer 1999 vgl. ausführlich Johannes Rau, Der Dagestan-Konflikt und die Terroranschläge von Moskau 1999. Ein Handbuch. Bewaffnete Konflikte nach dem Ende des Ost-West-Konflikts (herausgegeben von Hans Krech), Band 10, Berlin 2002.

  7. Vgl. Karl Grobe Hagel, Tschetschenien. Russlands langer Krieg, Köln 2001, S. 144-148.

  8. Zitiert von Amy Waldman, Shackles Off. Russia's Muslims Are Still Chafing, in: New York Times.com Article, 9. 11. 2001.

  9. Vgl. Mark N. Katz, Saudi-Russian Relations in the Putin Era, in: Middle East Journal, Bd. 55, (Herbst 2001), S. 603-622.

  10. Vgl. John Corvett, Chechen Question Harms Turkish-Russian Relations, http://www.eurasianet.org/departments/insight/articles/eav110702a_pr.shtml

Dr. phil., geb. 1949; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

Anschrift: Stiftung Wissenschaft und Politik, Ludwigkirchplatz 3-4, 10719 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: uwe.halbach@swp-berlin.org

Veröffentlichungen u.a.: (Hrsg. zus. mit Olga Alexandrova und Roland Götz) Russland und der postsowjetische Raum, Internationale Politik und Sicherheit, Band 54, Baden-Baden 2003.