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Tendenzen der sozialen Entwicklung Russlands Individualisierung einer vermeintlich kollektivistischen Gesellschaft

Nikolai Genov

/ 18 Minuten zu lesen

Innenpolitisch hat Russland einen Transformationsprozess durchlaufen, der noch nicht beendet ist. Immer neue Brüche und Unsicherheiten scheinen aber vorhandene Ansätze einer demokratischen und sozial gerechteren Gesellschaftsordnung zu überlagern.

I. Die Fragestellung

Die kollektivistischen Traditionen und Perspektiven der russischen Gesellschaft werden noch lange Gegenstand der Diskussion in Russland und darüber hinaus sein. Es gibt dafür viele Gründe in der Geschichte wie in der Gegenwart. Die Überreste der traditionellen russischen Dorfgemeinschaft (obscina) sind bis zum späten 19. Jahrhundert lebendig geblieben. Später wurden sie geistig und organisatorisch in den Kolchosen revitalisiert. Auch ist die Tatsache nicht zu unterschätzen, dass die Bemühungen, Russland zu modernisieren, stets von der Zentralmacht unternommen worden sind. Das gilt für die Reformen Peters des Großen, für die Abschaffung des Leibeigentums Mitte des 19. Jahrhunderts, für die sowjetische Industrialisierung und Kollektivierung wie auch für Gorbatschows Perestrojka und die tief greifenden sozialen Veränderungen nach 1990. Diese "von oben" determinierte und geleitete Entwicklung hat die entscheidende Rolle der Staatlichkeit, also der kollektiven Organisationsmuster, im russischen Alltag und Massenbewusstsein tief verankert. Deswegen hat die These von einer spezifisch russischen (oder "östlichen") institutionellen Matrize, die durch Kollektivismus gekennzeichnet sei und sich von dem "westlichen" individualistischen institutionellen Muster radikal unterscheide, viele Anhänger.

Diese These wird allerdings momentan dort problematisch, wo sie zu politischen Zwecken missbraucht wird. In Russland wird sie auf dem Banner der Nationalisten groß geschrieben. Im Westen stützen sich all jene auf sie, die sich von Russland distanzieren möchten. In beiden Fällen ist genau das zu hinterfragen, was als eine Selbstverständlichkeit angenommen wird, nämlich die fundamentale kollektivistische, wertnormative wie institutionelle Ausprägung der russischen Gesellschaft. Weiterhin wird eine andere These vertreten: Mit manchen Besonderheiten, die auch in vielen anderen Gesellschaften festzustellen sind, hat sich die russische Gesellschaft in der Richtung einer fortschreitenden Individualisierung entwickelt und wird sich auch weiterhin dahingehend entwickeln. Es kann auch nicht anders sein, da die Individualisierung einen globalen Trend darstellt, dem sich zu entziehen die russische Gesellschaft nicht imstande ist.

Es wäre aber falsch, die These so zu verstehen, als ob der globale Trend der Individualisierung sich in der russischen Gesellschaft erst mit den Reformen in den neunziger Jahren behauptet hätte. Schon die rasche Industrialisierung und Urbanisierung Russlands zu Sowjetzeiten ging Hand in Hand mit einer vielseitigen Erweiterung der autonomen Entscheidungs- und Handlungsoptionen des Individuums. Das mag erstaunlich klingen, da die Stereotypen einer total regulierten, kontrollierten und restriktiven sowjetischen Gesellschaft verbreitet und einflussreich sind. Sie unterschätzen aber die sich im Laufe der Jahrzehnte schnell erweiterte Palette von Bildungsmöglichkeiten, unter denen man in vielen Fällen frei wählen konnte. Zusammen mit der Modernisierung hat sich auch die Bandbreite der Berufe ständig erweitert. In den meisten Fällen konnte man den Beruf und den Arbeitsplatz auch in der UdSSR frei wählen. Nach der Landflucht in die Industriezentren waren die Migrationsmöglichkeiten zwar administrativ eingeschränkt, aber nicht versperrt. Die Arbeitsfluktuation war in den Großstädten vor 1989 recht hoch. Auch der soziale Raum für die individuelle Wahl von Freizeitaktivitäten war breit. So gesehen, war die sowjetische Gesellschaft - besonders in den achtziger Jahren - weitreichend individualisiert, da die Individuen viele Wahlmöglichkeiten und reale Handlungsoptionen hatten.

Zusammen mit der Steigerung des Bildungsniveaus der Bevölkerung hatte sich auch die Kompetenz der Individuen für autonome Entscheidungen und autonomes Handeln erhöht. Es gab ferner Möglichkeiten, mit der institutionellen Bevormundung unter den damaligen Umständen fertig zu werden. Und das ging so weit, dass die sowjetischen Institutionen unter anderem deswegen nicht richtig funktionieren konnten, weil viele Individuen Kompetenzen entwickelt hatten, sie zu umgehen oder zu missbrauchen. Gleichzeitig wurde das Potenzial für Konflikte immer größer, da der staatliche Interventionismus in das ökonomische und kulturelle Leben üblicherweise der persönlichen Initiative und Verantwortung doch enge Grenzen setzte. Mehr noch: Die formalisierten organisatorischen Muster des offiziellen Kollektivismus höhlten graduell die gemeinschaftlichen Bindungen der sowjetrussischen Gesellschaft aus. Deswegen wollten die wenigen russischen Dissidenten meistens die Wiederherstellung der Solidargemeinschaft eines reformierten Sozialismus. Neben ökonomischer und politischer Unzufriedenheit war die Suche nach gemeinschaftlicher Bindung die treibende Kraft der Umweltschutzbewegungen und Menschenrechtsgruppen. Sie verkörperten die Suche nach Gemeinschaft in der sich entwickelnden Zivilgesellschaft. Die Idee der Zivilgesellschaft beinhaltete auch in Russland Ende der achtziger Jahre eine ideologische und politische Botschaft: Freiwillige Vereinigungen von Individuen in Wirtschaft, Politik und Kultur sollten die formalisierten Organisationen des Staatssozialismus ersetzen. Die gemeinschaftlichen Strukturen der Zivilgesellschaft sollten den sozialen Raum für freie Entwicklung und Selbstverwirklichung der Individuen stellen.

So gesehen, war die sowjetrussische Gesellschaft kaum effektiv integriert. Auf der Oberfläche der offiziellen "großen Wahrheit" war sie ideologisch und institutionell von kollektivistischen Mustern dominiert. Auf der Ebene der alltäglichen Interaktionen dominierte aber die individualistische "kleine Wahrheit". Die Entwicklung in den achtziger Jahren zeigte auf allen Ebenen des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens klar, dass die "kleine" individualistische Wahrheit dabei war, die "große" Wahrheit der offiziellen kollektivistischen Ideologie und Politik zu besiegen. Es soll aber betont werden, dass diese Ideologie und Politik auch im Alltag tiefe Wurzeln hatten und sich gar nicht einfach besiegen ließen. Es gab Millionen von Menschen, die sich mit diesen traditionell-russischen und auch sowjetisch geprägten kollektivistischen Mustern identifizierten. Diese vererbte Widersprüchlichkeit lässt sich an den gravierenden Problemen der Privatisierung, an der Bildung demokratischer politischer Institutionen und Pluralisierung der Kultur in Russland nach 1990 ablesen.

Manche von diesen Problemen waren vorauszusehen, da die Suche nach Gemeinschaft auf das vorrangige Ziel der postsozialistischen Transformationen - die Privatisierung des Eigentums - prallen musste. Die rasche, millionenfache Gründung privater Unternehmen ist eine beeindruckende Demonstration des Ausmaßes dieses Prozesses. Es ist nun an der Zeit, einen detaillierteren Blick auf diese Dimension der Veränderungen der russischen Gesellschaft zu werfen.

II. Die sozialen Konsequenzen der Privatisierung

Die verbreitete Annahme einer vollen Verstaatlichung des wirtschaftlichen Lebens in der Russischen Föderation vor 1990 ist weit von den damaligen Realitäten entfernt. Die private wirtschaftliche Initiative war zwar kaum erlaubt, florierte aber in verschiedenen, oftmals illegalen Formen. Die individualistisch funktionierende Schattenwirtschaft war ein unvermeidliches Pendant der ineffizienten staatlich-kollektivistischen Planwirtschaft.

Es gab prinzipiell zwei Möglichkeiten, den Weg einer rational-individualistischen Wirtschaftlichkeit zu beschreiten und damit die Engpässe der Planwirtschaft zu überwinden: Die erste Möglichkeit wurde in China schon seit 1979 ausprobiert und hat positive Resultate gezeigt. Das war die Möglichkeit einer schrittweisen Öffnung der wirtschaftlichen Prozesse in Richtung privater Initiative und Wettbewerb. Die Voraussetzung dafür ist die Beibehaltung einer Rechtsordnung, welche die Interessen der Gesellschaft garantiert. Man kann heute argumentieren, der sowjetische und später der russische Staat sei nicht konsolidiert genug gewesen, um eine solche legalistische Wende zur individualistischen Marktwirtschaft effektiv zu steuern. Diese These ist durchaus berechtigt, aber sie stellt nur einen - den kleineren - Teil der Wahrheit über die russische Privatisierung dar. Der zweite Weg einer stürmischen, kaum rechtlich abgesicherten oder gar kriminell durchgesetzten Privatisierung des staatlichen Eigentums ist in Russland deswegen möglich geworden, weil sie von den Machthabern als der direktere und einfachere Weg für eine Individualisierung qua Privatisierung angesehen wurde und zu deren Gunsten ausfiel.

Das Resultat ist klar und eindeutig: Die Durchsetzung der individuellen wirtschaftlichen Initiative ist in Russland in der ersten Hälfte der neunziger Jahre auf Kosten des Gemeinwohls gegangen, weil sie von extremen individualistischen Wertvorstellungen und Handlungsmustern geleitet wurde. Es gibt viele Gründe für den Verfall der russischen Wirtschaft - der wichtigste ist aber gerade die Art und Weise, wie die Privatisierung durchgesetzt wurde. Trotz der wirtschaftlichen Belebung in den letzten Jahren lag die Industrieproduktion der Russischen Föderation 2001 immer noch bei nur 59,9 Prozent des Niveaus von 1989, während das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in demselben Zeitvergleich lediglich 67,4 Prozent ausmachte. (s. Abb. 1).

Wie haben sich diese wirtschaftlichen Prozesse auf die Optionen für individuelle Entwicklung und Verwirklichung in Russland ausgewirkt? Man kann als erstes feststellen, dass als Resultat der gezielt intransparenten Privatisierung in den Jahren 1992 bis 1994 die russische Gesellschaft eine wirtschaftlich tief gespaltene Gesellschaft geworden ist. Vor den Reformen war sie - trotz aller Abweichungen - eine ausgesprochen egalitäre Gesellschaft. Der Gini-Koeffizient, der die wirtschaftliche Ungleichheit misst, lag bei 0,26. Nach den Reformen ist dieser Wert auf 0,47 angestiegen, was dem typischen Niveau der ökonomischen Ungleichheit in lateinamerikanischen Gesellschaften entspricht. Vor den Reformen waren hohe Einkommen in Russland eine Seltenheit, dagegen lag 2001 das Verhältnis der zehn Prozent höchsten Einkommen und der zehn Prozent niedrigsten schon bei 13,8:1.

Die kombinierte Auswirkung des Rückganges des BIP und der raschen sozialen Differenzierung hat weitreichende Folgen für viele Gruppen in der russischen Gesellschaft. In Russland führte die Individualisierung durch Privatisierung zu Armut, ethnischen Konflikten und zu neuen Formen individueller Entfremdung. Die erhoffte Wiederbelebung von Gemeinschaften ist ausgeblieben. Noch hat sich der universelle Respekt vor den Rechten und Freiheiten des Individuums nicht materialisiert. Für 2001 belief sich das staatlich kalkulierte Existenzminimum auf rund 1500 Rubel pro Monat. In demselben Jahr betrug die durchschnittliche monatliche Rente 1024 Rubel und das durchschnittliche Monatsgehalt 3240 Rubel. Unter diesen Einkommensbedingungen lebten 39,9 Millionen Menschen in Russland unter dem offiziellen Existenzminimum. Eine verallgemeinerte Charakteristik der sehr schwierigen finanziellen Situation der russischen Bevölkerung liefert die Tatsache, dass 45,9 Prozent aller Ausgaben der Haushalte für Lebensmittel getätigt wurden. Unter solchen Umständen ist es verständlich, warum die relative Verbesserung der wirtschaftlichen Lage nach 1999 gemischte Gefühle in der öffentlichen Meinung hervorruft (s. Abb. 2).

So verdeutlicht schon der erste Blick auf die postsozialistische Wirklichkeit Russlands, dass die Individualisierung typischerweise auf Kosten des Gemeinwohls gegangen ist. Zweifelsohne war der sowjetische Staat nicht mehr in der Lage, die Produktionsmittel einer zunehmend differenzierten Gesellschaft effektiv zu verwalten. Daher war die Einführung von Marktmechanismen unvermeidbar. Das wirkliche Problem liegt aber in der Art und Weise des Transfers von Staatseigentum in private Hände. Dabei wurde die russische soziale Gemeinschaft eher nur bescheiden oder gar nicht entschädigt. Die Mechanismen des ungerechten Transfers waren vielfältig: Sie reichten vom legalisierten Verkauf des Staatseigentums an das Management zu günstigen Preisen bis hin zu Fällen krimineller Ausplünderung. Die Flut von wirtschaftlicher Kriminalität im Laufe der Transformation spiegelt genau eine dramatische Pathologie der Individualisierung wider.

III. Die Entwicklung demokratischer Politik

Die große Zahl registrierter politischer Parteien oder die noch größere von Nicht-Regierungsorganisationen in Moskau und Sankt Petersburg wäre nicht möglich ohne die Initiative von Individuen, die nach neuen Formen der Selbstverwirklichung und des Engagements suchen. Diese Entwicklung könnte als Triumph der Individualisierung bezeichnet werden. Vorherige, vom Staat auferlegte Beschränkungen der Mobilität, der Meinungsäußerung und der Kommunikation zwischen Individuen fielen weg. Viele russische Intellektuelle hegten sogar die Hoffnung, dass der Schlüssel aller Veränderungen in institutioneller wie in kultureller Hinsicht in der Anerkennung und praktischen Achtung der unbeschränkten Entfaltung des Individuums liege.

Die Effekte des globalen Trends der Individualisierung spiegeln sich am deutlichsten in der Veränderung der Gesetzgebung wider. Die neue Verfassung der Russischen Föderation hat einen für Russland gänzlich unüblichen Schwerpunkt, nämlich die individuellen Menschenrechte. Der strategische Unterschied zwischen der staatssozialistischen und der neuen Verfassung verdeutlicht die weitgehende Verschiebung von einem kollektivistischen institutionellen Arrangement zu einem institutionalisierten Individualismus. Deswegen war die Versuchung stark, anzunehmen, dass damit zugunsten der Eröffnung neuer Möglichkeiten für die persönliche Entfaltung in Russland entschieden worden sei. Die heutigen Realitäten sehen aber ganz anders aus.

Der einflussreichste Faktor, der die Besonderheiten des Individualisierungsprozesses in Russland nach 1990 bestimmt, ist die institutionelle Instabilität, die den Transformationsprozess charakterisiert. Die Situation hat sich in dieser Hinsicht nach der Wahl von Putin zum Präsidenten zweifellos verbessert. Immer noch besteht aber das größte Problem Russlands heutzutage in der hohen Intensität objektiver Risiken und in dem institutionellen Unvermögen, ihnen effektiv zu begegnen. Der sich daraus ergebende Mangel an Vertrauen in die öffentlichen Institutionen ist eine wichtige Dimension dieser Situation. Die typische individuelle Reaktion nimmt Formen eines anomischen Verhaltens an, das viele Ursachen und Gründe hat. Die plötzlichen Liberalisierungen der Binnenpreise und des internationalen Handels waren z.B. geleitet von der - naiven - Hoffnung, dass der Big Bang die ökonomischen Beziehungen sofort wieder richten würde. Auf diese Weise sollten individuelle Initiative und Verantwortung freigesetzt werden.

Es wurde hingegen weit weniger konkret gedacht an ein marktorientiertes Bankensystem, an die Börse, an Versicherungs- und Rentensysteme oder an Arbeitslosenhilfe. Andererseits wurde die Restrukturierung der Industrie hinsichtlich technologischer und marktwirtschaftlicher Prioritäten sowie ökologischer Erwägungen immer wieder verschoben. Die destruktiven Folgen des unbeschränkten Imports von Lebensmitteln aus der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten auf die wenig produktive russische Landwirtschaft wurden auch nicht weiter berücksichtigt. Die Auflösung der Kolchosen und Sowchosen entwickelte sich zu einer illegalen Enteignung und Zerstörung der Produktionsmittel. Die Erwartungen einer schnellen Revitalisierung der privaten Landwirtschaft waren von Anfang an unrealistisch. Es gab unvermeidbare Probleme bezüglich des Eigentums an Grund und Boden. Die vorhandene Technologie und landwirtschaftliche Infrastruktur waren für die Massenproduktion gedacht - nicht für kleine landwirtschaftliche Produktionsbetriebe. Der Mangel an Krediten und der Einfluss einer Vielzahl anderer organisatorischer und kultureller Faktoren machte die Landreform in Russland kompliziert und schmerzhaft. Damit wurden sowohl die Industrie als auch die Landwirtschaft Faktoren der Verarmung.

Die politischen Reformen wurden im Kontext intensiver Konfrontationen und eines mangelnden Konsenses über strategische innen- und außenpolitische Fragen durchgeführt. Es gab deutliche Diskontinuitäten in der Politik. Dysfunktionale Beziehungen zwischen staatlichen Institutionen - z.B. zwischen der zentralen und den regionalen Regierungen - wurden zur alltäglichen Normalität. Demoralisiert durch ständige Reorganisation und niedrige Einkommen sowie durch mangelnde Kontrolle, verloren Beamte auf allen Ebenen die Anreize, effektiv zu arbeiten. Korruption war das unvermeidbare Ergebnis, das hier auch durch die kulturelle Tradition legitimiert wurde. Wegen der schnellen Verarmung breiter Schichten und der Schwächung staatlicher Institutionen wurde auch die Kriminalität insgesamt zu einer realen Bedrohung: So wurden 1990 15600 Morde und Raubmorde registriert, 2001 bereits 33600. Die erfassten Drogendelikte stiegen im gleichen Zeitraum von 16300 auf 241600. Angesichts dieser Entwicklung beurteilt die öffentliche Meinung auch in den letzten Jahren die Effizienz der Sicherheitsorgane wie die eigene Sicherheit negativ (s. Abb. 3).

IV. Die neue pluralistische Kultur

Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass die Destabilisierung des institutionellen Rahmens der russischen Gesellschaft zu weit verbreiteter Verunsicherung führte. In der ersten Hälfte der neunziger Jahre - zeitgleich mit der Durchsetzung des privaten Unternehmertums und der politischen Demokratisierung - wurden die Prinzipien der (relativen) individualistischen Ethik übernommen. Ihre Entwicklung hin zu den Aktivitäten von Schwarzmarkt und anderer Kriminalität, zusammen mit der schmerzhaft empfundenen Schwächung der Institutionen, die das Gemeinwohl repräsentieren und sichern, förderte traditionelle antiindividualistische Haltungen. Die Bejahung der universellen Werte der Menschenrechte kollidierte mit eklatanten Beispielen von Verfolgung individueller und partikularer Interessen in Wirtschaft und Politik auf Kosten des Gemeinwohls. Diese Verunsicherung konkretisiert sich in der sehr eindeutigen Bewertung der Auswirkungen der neuen wirtschaftlichen Organisation auf die Gerechtigkeit der Verteilung in der russischen Gesellschaft (s. Abb. 4).

Angesichts der institutionellen und wert-normativen Unordnung ist es nicht weiter verwunderlich, dass für die Probleme der Transformation individualistische Lösungen gesucht werden. So scheint der Individualismus - in einer Zeit der andauernden ökonomischen, politischen und kulturellen Unsicherheit - in Russland die Überhand zu gewinnen. Zweifelsohne ist der individualistische Liberalismus unter solchen Bedingungen praktisch effektiv. Da stellt sich aber sofort die Frage: Kann eine stabile Sozialordnung etabliert und aufrechterhalten werden durch die Bemühungen von extremen Individualisten? Mit anderen Worten: Bewegt sich die russische postsozialistische Gesellschaft von der Instabilität einer von kollektiver Rationalität nationaler Bedürfnisse und Ziele dominierten Sozialordnung hin zu einer anderen instabilen Sozialordnung, die von der Rationalität individueller Bedürfnisse und Ziele dominiert wird?

Die Frage kann noch nicht mit Klarheit beantwortet werden. Allgemein gesagt, sehnen sich die Russen einerseits nach der individualistischen Privatinitiative des "amerikanischen" Typs und andererseits nach der starken Regulierung des Einkommensniveaus "skandinavischen" Typs, um ökonomisch schwache Gruppen abzusichern. Das praktische Problem liegt nicht primär in der Illusion, paradoxerweise das zu verbinden, was nicht gleichzeitig erzielt werden kann. Vielmehr liegt die entscheidende Schwierigkeit darin, dass die russische Gesellschaft nicht so wohlhabend und institutionell gut organisiert ist wie ihre "amerikanischen" und "skandinavischen" Gegenstücke. Was in fortgeschrittenen Gesellschaften als soziale und psychologische Spannung, also als Risiko und individuelle Unsicherheit verstanden wird, wird in der russischen Gesellschaft durch einen starken "Stress-Faktor" vervielfacht. Er ist charakterisiert durch Intransparenz, Ineffizienz, Instabilität und Unzuverlässigkeit der wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen. Die gewaltige Öffnung des window of opportunities für die Individualisierung stößt in Russland also auf ebenso gewaltige Probleme bei der Verwirklichung dieser neuen Möglichkeiten.

Diese These lässt sich vielfach belegen: Die Zahl der Studierenden z. B. hat in Russland zwischen 1990 und 2001 beträchtlich zugenommen: von 1,90 Prozent auf 3,32 Prozent der Bevölkerung. Es ist auch im Prinzip positiv zu bewerten, dass es private Hochschulen gibt. Doch eine genauere Einschätzung dieser Entwicklung zeigt, dass im Jahr 2001 629500 Studierende in 387 privaten Hochschulen eingeschrieben waren - aber 354500 von ihnen waren Fernstudenten. Die Qualität dieser Ausbildung ist oft und mit guten Gründen angezweifelt worden.

Dieselbe Vorsicht wäre bei der Einschätzung des Pressewesens geboten. In den letzten Jahren sind die höchsten Zahlen veröffentlichter Bücher, Broschüren und Zeitschriften zu verzeichnen. Sie tragen den differenzierten Interessen der Leserschaft Rechnung. Zugleich ist jedoch die Tatsache nicht zu unterschätzen, dass 1990 zehn Bücher und Broschüren und 34 Exemplare von Zeitschriften pro Kopf verkauft wurden, dagegen waren es 2001 nur noch je vier Bücher und Broschüren sowie sieben Zeitschriften. Das bedeutet, dass es in Russland Millionen gibt, die nicht mehr Bücher und Zeitschriften kaufen können oder offenbar keinen Sinn mehr im Lesen sehen.

V. Ausblick

Diese Erfahrungen institutioneller Instabilität und wertnormativer Verunsicherung werden einen langfristigen Einfluss auf die Einstellungen und Handlungsweisen breiter Schichten in der russischen Gesellschaft haben. Die instabile institutionelle Ordnung wird die Fähigkeit von Millionen bestimmen, angemessen auf die neuen Öffnungen für Individualisierung zu reagieren. Das soll nicht bedeuten, dass es in dieser Hinsicht keine positiven Entwicklungen in der russischen Gesellschaft gegeben hat. In den Meinungsumfragen werden beispielsweise die Verfügbarkeit von Gütern und die Meinungsfreiheit sowie die Reisefreiheit oft genannt. Gleichzeitig ist sich die öffentliche Meinung der Bedrohung durch Verarmung und Kriminalität wohl bewusst. Der Wandel bedeutet für die neuen Armen eine Einschränkung der Freiräume für die persönliche Verwirklichung und Entfaltung im Vergleich zu den achtziger Jahren.

Einige der Öffnungen und Schließungen, mit denen die Individuen in Russland konfrontiert sind, beziehen sich direkt auf die internationale Politik. Dies trifft beispielsweise auf die internationale Arbeitsmigration und auf die verschiedenen Visa-Regimes zu. Die osteuropäischen Länder, die eine Integration in die Europäische Union anstreben, haben z. B. Visa für die Bürger Russlands eingeführt. Interne Entwicklungen bestimmen andere Probleme. Man muss sich dabei an die Debatte der frühen neunziger Jahre erinnern. Damals war eines der wichtigsten und am weitesten verbreiteten Versprechen, dass sich die russische Gesellschaft von einer Situation, in der jeder gleich arm war, zu einer Situation entwickeln würde, in der jeder wohlhabend wäre, wenn auch nicht auf dem gleichen Niveau. Heute hat der Großteil der Bevölkerung Russlands einen niedrigeren Lebensstandard als vor den Reformen. Die Meinungsumfragen reflektieren Einschätzungen der finanziellen Lage der Haushalte, die charakteristisch sind für Länder mit Massenarmut, schweren ökonomischen Problemen und mit einer weit auseinander klaffenden Einkommensschere. Es ist daher wichtig zu fragen, in welchem Ausmaß sich Russland von dem egalitären Muster weg und zu dem lateinamerikanischen Muster scharfer Polarisierung von Einkommen und Vermögen hin bewegt. Für manche Regionen der Russischen Föderation kann man den Rückgang des Lebensstandards sogar als "Afrikanisierung" interpretieren. Was auch immer die Ursachen und Gründe der Armut sind, sie impliziert verschiedene Formen der sozialen Exklusion, die Zerstörung von Humankapital sowie das Potenzial für schwere soziale Spannungen und Konflikte.

Vor dem Hintergrund der Probleme im Alltag ist auch die Verringerung der Ansprüche in den persönlichen Strategien bei der Diagnose der Situation der russischen Gesellschaft von vorrangigem Interesse. Im Kontext der massenhaft verbreiteten Armut sind die individuellen Ansprüche ebenso massenhaft minimiert. Dies betrifft Bürger der großen Städte Russlands weniger, da hier die Bevölkerung ein signifikant höheres Bildungsniveau hat als im Landesdurchschnitt. Auch die Altersstruktur beeinflusst die Lebensstrategien. Diese zeigen einen negativen Trend in ländlichen Regionen, weil hier vorrangig ältere Menschen leben. Ein wichtiger Faktor, der die Unterschiede erklärt, ist außerdem die Verfügbarkeit mehrerer Optionen für persönliche Initiative und Selbstverwirklichung in urbanen Zentren, besonders in Moskau und Sankt Petersburg. Trotz dieser Unterschiede ist das Gesamtbild geprägt von einer Verringerung der Ansprüche, die sich aus der Beschränkung der realen Wahlmöglichkeiten und der Chancen zur Selbstverwirklichung ergibt. Darüber hinaus stabilisierte sich der reduzierte Zeithorizont des Großteils der Bevölkerung Russlands.

Der enge Horizont der persönlichen Planung steht sich in einem scharfen Kontrast zu den Erfordernissen einer bewussten Beherrschung der persönlichen Entwicklung und Verwirklichung. Das große Ausmaß an persönlicher Desorientierung und Unsicherheit verweist auch darauf, dass die gesellschaftliche Transformation in Russland eine Auflösung der gemeinschaftlichen Bande impliziert. Es stellt sich die Frage, ob eine nachhaltige soziale Ordnung in der russischen Gesellschaft auf der Basis dieser Individualisierung etabliert werden kann. Die Antwort ist noch unklar. Die Notwendigkeit einer neuerlichen gemeinschaftlichen Integration der russischen Gesellschaft ist akut. Berücksichtigt man die Erfahrungen aus früheren Zeiten, ist es genauso dringend notwendig, diese Reintegration zu erzielen, ohne zu autoritären Mustern einer politischen Über-Integration zurückzukehren.

Von einem anderen Blickwinkel betrachtet, war die große Mehrheit der Bevölkerung der Russischen Föderation auf die Herausforderungen der Transformation unvorbereitet. Dies ist nicht verwunderlich, da es sich um einen Übergang von einer Gesellschaft mit eingeschränkten, aber klar formulierten Wahlmöglichkeiten zu einer Gesellschaft handelt, in der Orientierungen, Wahlmöglichkeiten und Selbstverwirklichung ein hohes Ausmaß an Eigenverantwortung unter den Bedingungen unklarer normativer Regelung erfordern. Dies ist eine Situation, in der die moralischen und die institutionellen Rahmenbedingungen des gemeinschaftlichen Lebens untergraben werden. Solche Entwicklungen, die einen Großteil der Bevölkerung unter den für Industriegesellschaften typischen Standards leben lassen, wirken sich negativ auf die internationale Konkurrenzfähigkeit aus. Wenn man z.B. die Lebenserwartung als einen sehr aussagekräftigen Indikator der sozialökonomischen Situation betrachtet, dann ist ihr Rückgang in Russland von 69,2 (1990) auf 65,3 Jahre (2001) ein deutliches Zeichen der Krise der Gesellschaft. Die Lebenserwartung der Männer betrug 2001 59 Jahre und ist besonders bedenklich, da sie mit der Situation in vielen typischen Entwicklungsländern vergleichbar ist. Ein anderer Indikator ist die Verbreitung von armutsbedingten Krankheiten. So wurde Tuberkulose 1990 in 34200 und 2001 in 88500 Fällen registriert. Die destruktiven Tendenzen schlagen sich auch im Anstieg der Drogenabhängigkeit nieder: 1990 gab es offiziell 3100 Abhängige, 2001 bereits 43700. Unter diesen Umständen sind die Resultate der Meinungsforschung zur Einschätzung der medizinischen Versorgung nicht verwunderlich.

Die Schlussfolgerung aus dieser Einschätzung für die Organisation des Gesundheits- und Bildungswesens ist einleuchtend:

Diese Schlüsse wirken sich auch auf die Wahlpräferenzen aus. Wenn Parlamentswahlen zwischen dem 24. und 28. Januar 2003 abgehalten worden wären, wären sie wie folgt ausgefallen:

Kurz gefasst lässt sich sagen, dass die fortgeschrittenen westeuropäischen und nordamerikanischen Gesellschaften in der Lage sind, die Herausforderungen der Individualisierung zu meistern, weil sie eine organisatorische Integration in und zwischen den Handlungssphären entwickelt haben. Darüber hinaus - und im Gegensatz zur liberalen Rhetorik - gab es in diesen Gesellschaften genug Bemühungen zur Revitalisierung der gemeinschaftlichen Formationen, d. h. jener Gruppen und Bewegungen, die durch affektive Bindungen zwischen ihren Mitgliedern sowie durch eine gemeinsame Kultur gekennzeichnet sind. Angesichts dieser Erfahrung haben die anomischen Entwicklungen, die im Laufe der beschleunigten Individualisierung in Russland aufgetreten sind, vorrangig zwei Determinanten: Die eine war und ist die Instabilität der formellen Organisationen wegen des simultanen Wandels von organisatorischen Strukturen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Die Anomie ist aber, zweitens, auch Resultat der tiefen Verunsicherung über alte und neue kollektive Identitäten - z.B. über die Angehörigkeit zur sowjetischen Gesellschaft.

Welche auch immer die Ursachen und Gründe des auf Kosten der funktionalen Integration und der gemeinschaftlichen Bande gehenden Anstiegs der Individualisierung in Russland sein mögen - es ist offensichtlich, dass das erfolgreiche Management dieses Risikofaktors lange Zeit in Anspruch nehmen wird. Oberflächlich scheint es, dass die wertnormative Integration das erste ist, was angegangen werden müsste. Tatsächlich aber ist das Problem der organisatorischen Desintegration wichtiger. Unter den gegebenen historischen Bedingungen kann nur die Wiederherstellung der organisatorischen Integration der russischen Gesellschaft eine lang anhaltende Reaktivierung der gemeinschaftlichen Bande bewirken. Zwischenzeitlich stehen noch viele wichtige Entwicklungen der Individualisierung aus. Da bestünde die Möglichkeit, Individuen, Gemeinschaften, Organisationen und Nationalgesellschaften für die Bewahrung und Entwicklung des Gemeinwohls zu mobilisieren. In der Tat scheint die Aussicht einer Integration über die Mobilisierung für ein Risiko-Management die vielversprechendste zu sein, um Individuen, Gemeinschaften und Organisationen in Russland vor Anomie und pathologischen Zuständen zu bewahren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Vladimir A. Jadov, Nekotorye sociologiceskie osnovanija dlja predvidenija buduscege rossijskogo obscestva (Einige soziologische Prinzipien zur Prognose der Zukunft der russischen Gesellschaft), in: L. M. Drobizeva (Hrsg.), Rossija reformirujuscajasja (Das sich reformierende Russland), Moskau, S. 353.

  2. Vgl. Nikolai Genov, Four Global Trends: Rise and Limitations, in: International Sociology, 12 (1997) 4, S. 409-428.

  3. Vgl. UNECE, Economic Survey of Europe 2, New York - Genf 2002, S. 162-165.

  4. Vgl. Weltbank, Transition. The First Ten Years, Washington, D.C. 2002, S. 9.

  5. Vgl. Goskomstat, Social'noe polozenie i uroven' zizni naselenija Rossii (Die soziale Lage und das Lebensniveau der Bevölkerung Russlands), Moskau 2002, S. 24.

  6. Vgl. ebd.

  7. Vgl. ebd., S. 228.

  8. Vgl. A. A. Golov, Peremeny v zizni rossijan: 2000-2002 (Veränderungen im Leben der Bevölkerung Russlands). Moskau 2003; http://www.wciom.ru/vciom/new/public/public_own/030121_life.htm

  9. Vgl. O. N. Janickij, Rossija kak obscestvo riska: kontury teorii (Russland als Risikogesellschaft: Konturen einer Theorie), in: V. A. Jadov (Hrsg.), Rossija: transformiruyusceesja obscestvo (Russland: Eine sich transformierende Gesellschaft), Moskau 2001.

  10. Vgl. Goskomstat (Anm. 5), S. 394.

  11. Vgl. A. A. Golov (Anm. 8), S. 25.

  12. Vgl. ebd., S. 347.

  13. Vgl. ebd., S. 26.

  14. Vgl. ebd., S. 23.

  15. Vgl. ebd., S. 301.

  16. Vgl. ebd., S. 304.

  17. Vgl. WZIOM, Press-vypusk (Pressekommuniqué), 1, 16. 1. 2003. Moskau 2003, http://www.wciom.ru/vciom/new/press/press030120_01.htm

  18. Vgl. WZIOM, Press-vypusk (Pressekommuniqué), 3, 30. 1. 2003. Moskau 2003, http://www.wciom.ru/vciom/new/press/press030120_03.htm

Dr. sc., geb. 1946; Professor an der Freien Universität Berlin, Osteuropa-Institut und Institut für Soziologie.
Anschrift: Osteuropa-Institut, Garystr. 55, 14195 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: genov@zedat.fu-berlin.de

Zahlreiche Veröffentlichungen zur politischen und sozialen Struktur Russlands.