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Wählerwille und Wirtschaftsreform

Siegfried F. Franke

/ 23 Minuten zu lesen

Einen weiteren Faktor für den Reformstau bildet der Wählerwille: Weder Hiobsbotschaften aus der Wirtschaft noch der jüngste Wahlsieg der Unionsparteien werden tief greifende Reformen in Gang setzen.

I. Mit einem "Ruck" zu Reformen?

Roman Herzog hat während seiner Amtszeit als Bundespräsident und noch vor dem Bekanntwerden der PISA-Studie in seiner berühmten Rede im April 1997 die mangelnde Reformbereitschaft in Deutschland beklagt und einen "Ruck" gefordert, der durch Deutschland gehen müsse. Seine Mahnung hat er mehrfach - insbesondere in Bezug auf die Bildungspolitik - wiederholt.

Die von Herzog beklagten gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Probleme haben seit dem ersten Anschwellen der Arbeitslosenzahl auf etwas über eine Million im Jahre 1975, was einer damals unerhörten Quote von 4,7 Prozent gleichkam, stetig zugenommen. Die offizielle Zahl ist fortan kontinuierlich gestiegen und wird im Jahresdurchschnitt 2003 4,5 Millionen betragen, wobei noch rund zwei Millionen an verdeckter Arbeitslosigkeit hinzuzurechnen sind.

Die hartnäckig hohe Arbeitslosigkeit ist ursächlich für die zunehmende Steuer- und Abgabenquote, wobei die direkten Sozialabgaben, aber auch die ergänzenden Steuern (z.B. die Öko-Steuern) das Wirtschaftswachstum hindern oder gar stoppen, weil steigende Arbeitskosten und Steuern die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen und die Nachfrage mindern.

Arbeitslosigkeit, mangelndes Wachstum und hohe Steuer- und Abgabenlasten haben indessen bislang weder links- noch rechtsextreme Parteien begünstigt, weil das stark umverteilungsorientierte Sozialsystem viele Abfederungs- und Kanalisierungsmöglichkeiten bietet: Neben Umschulungsangeboten, ABM-Maßnahmen, Sozialhilfe, Wohngeld und vorgezogenem Altersruhegeld sind der Verzicht auf Schulgeld und Studiengebühren zu nennen.

Mittlerweile wird jedoch klar, dass die hohe Arbeitslosigkeit einerseits und die zu geringe Kinderzahl andererseits die Sozialsysteme erodieren lassen, weil die steigenden Ausgabeverpflichtungen im Wege des Umlagesystems (Rentenversicherung, Pflegeversicherung) und die Missachtung des Äquivalenzprinzips und des Wettbewerbsdenkens (Krankenversicherung) die Einnahmen laufend übersteigen.

Zudem ist die von Picht 1964 befürchtete "Bildungskatastrophe" inzwischen (fast) eingetreten; allerdings aus anderen Gründen, als vom Autor seinerzeit angenommen. Ohne auf die Frage einzugehen, ob es besonders klug ist, die Quoten des sekundären und tertiären Bildungssektors unreflektiert in die Höhe zu treiben, ist als wesentliche Ursache die unaufhörliche Regelungsvielfalt zu nennen, die die Schulen und Hochschulen seit Ende der sechziger Jahre heimgesucht hat. Klare Leistungs- und Werteorientierungen waren so kaum möglich und zum Teil auch nicht gewollt.

Ein zunehmendes Maß an Regulierungen ist zugleich kennzeichnend für die Reaktion der Politik auf die kurz umrissenen Probleme, die sich erst schleichend, aber inzwischen spürbar wie Mehltau über Menschen und Institutionen gelegt haben. Dies ist fatal, denn der von der Politik forciert eingeführte Euro hat den Zinsvorteil der DM beseitigt und so den Anpassungsdruck auf die Wirtschaft erhöht.

Die aufgelisteten Probleme belegen, dass zentrale gesellschafts- und wirtschaftspolitische Subsysteme dringender Reformen bedürfen. Sie lassen sich nicht gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung durchsetzen. Allerdings mehren sich inzwischen Stimmen, die eine zunehmende Bereitschaft der Bevölkerung zu einschneidenden Reformen am Arbeitsmarkt, im Bildungsbereich und hinsichtlich der Sozialsysteme erkennen wollen.

Daran lässt sich die Frage knüpfen, ob die Landtagswahlen vom 2.Februar 2003, wenn schon nicht eine Aufforderung zum "Ruck", so doch das Einverständnis der Bevölkerung zu radikalen Reformen signalisiert. Schließlich waren die Wähler schon länger unzufrieden mit der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der rot-grünen Regierung. Wenn es nur nach innenpolitischen Themen gegangen wäre, hätte die Regierung Schröder/Fischer den 22. September 2002 nicht überdauert. Und den Wählern war klar, was ein Wahlsieg der Union in Hessen und Niedersachsen bedeutet: den faktischen Zwang zu einer Art großen Koalition im Bundesrat, der die Möglichkeit zu einschneidenden Reformen einräumt.

Dieser Vermutung wird die Kernthese entgegengesetzt, dass weder die zunehmenden Hiobsbotschaften aus der Wirtschaft noch der jüngste Wahlsieg der CDU in Hessen und Niedersachsen vom Februar 2003 radikale Reformen in Gang setzen werden. Diese These bedarf einer differenzierten Begründung, die nicht nur darauf abstellt, dass bislang schon mit dem Hinweis auf drohende soziale Ungerechtigkeiten und dem verwässernden Einfluss der Verbände und des Bundesrates radikale Reformen nur auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner stattfanden und oftmals nur den Status quo zementierten oder die Situation gar noch verschlimmbesserten, sie muss auch dem Einwand begegnen, dass anderen europäischen Staaten, die ähnlichen Problemen gegenüberstanden, Reformen gelungen sind.

II. Die Landtagswahlen vom 2. Februar 2003

1. Das bipolare Mehrparteiensystem

Die Dominanz zweier Volksparteien

Das theoretische Konzept geht von zwei Volksparteien aus, und zwar der SPD und der CDU/CSU. Beide Parteien haben historisch-weltanschauliche Wurzeln, die bis heute nachwirken. Diese liegen für die SPD im Großkonflikt zwischen Arbeit und Kapital, der als Folge der Industrialisierung im 19.Jahrhundert aufbrach, während die christlich-interkonfessionelle Ausrichtung der CDU/CSU auf den Nationalsozialismus, aber auch auf die rüde Art und Weise reagierte, mit der den liberalen, christlichen und konservativen Parteien bereits unter Bismarck mitgespielt worden war.

Volksparteien wollen sich allen Schichten der Bevölkerung öffnen und für alle gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Probleme Lösungen anbieten. Dies geschieht im Dialog mit maßgeblichen Gruppenrepräsentanten. Auch wenn die Parteien ohne ideologische Berührungsängste um jede Stimme kämpfen, dürfen sie keiner grenzenlosen Beliebigkeit frönen; sie sind dem jeweiligen thematischen Großkonflikt, dem sie ihre Entstehung verdanken, in gewisser Weise verhaftet. Bei der SPD ist das ganz besonders deutlich am Beharren auf den "erkämpften Arbeitnehmerrechten" und der starken Betonung der normierten Solidarität (Zwangsversicherung) im Rahmen der sozialen Sicherung zu erkennen, während das weltanschauliche Moment der CDU/CSU bei der Empörung über den so genannten Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts deutlich wurde.

Allerdings ist den meisten Wählern bewusst, dass Demokratie Konsens bedeutet und dass es vor allem im Konflikt zwischen Arbeit und Kapital nicht um den absoluten Vorrang für die eine oder andere Seite geht, sondern um einen vernünftigen Ausgleich, der letztlich allen dient. Ein wesentliches Element dieses Ausgleichs ist der mit Verfassungsrang versehene Sozialstaat (Art. 20 Abs. 1 GG). So gesehen wird die Einschätzung verständlich, dass nicht nur die SPD, sondern auch die CDU/CSU mittlerweile sozial-demokratische Integrationsparteien sind.

Aus dem empirisch erhärteten Befund, wonach die Wählerdichte in Deutschland einer linksschiefen, unimodalen Verteilungskurve folgt, ergeben sich einige Folgerungen, die für das deutsche bipolare Mehrparteiensystem typisch sind.

Die politische Mitte, und damit die meisten Wähler (Modus), ist auf einer Skala aller politischen Einstellungen links der rein mathematischen Mitte (Median) verortet. Je weiter man auf der Ideologieskala nach rechts oder links vom Modus abweicht, umso geringer wird das Wählerinteresse, um an den ausgesprochenen Rändern schließlich extrem abzuflachen.

Die Volksparteien können allein mit ihrer Stammwählerschaft die zur Regierungsübernahme erforderliche absolute Mehrheit kaum erlangen. Zudem ist nicht einmal sicher, ob es zur strategischen Mehrheit - d.h., ohne sie ist keine Regierungsbildung möglich - reicht. Sie sind vielmehr darauf angewiesen, die Stammwählerschaft zu pflegen und den jeweiligen Rand nicht völlig zu vernachlässigen (weil sonst die Gefahr besteht, Stammwähler an aufkommende extreme Parteien abzugeben). Vor allen Dingen müssen sie danach trachten, sich von der politischen Mitte ein gehöriges Stück des Wählerkuchens abzuschneiden.

Beide Volksparteien stehen vor der permanenten Aufgabe der Integration verschiedener Wählerschichten, aber eine linksschiefe Wählerverteilung führt dazu, dass es die aus historischen Gründen eher rechts verortete CDU/CSU besonders schwer hat, weil sie ein breiteres Spektrum politischer Positionen integrieren und für sich zu gewinnen versuchen muss, als dies bei der linksbasierten SPD der Fall ist. So nimmt es nicht wunder, dass sich gerade diese Partei stärker auf die traditionellen Werte der sozialistisch geprägten Arbeiterbewegung beziehen und damit eine größere Profiltreue aufweisen kann. Folgerichtig pocht die SPD nach wie vor auf die normierte Solidarität, auf ein größeres Maß an staatlicher Planung und auf die Verteilungsgerechtigkeit, während sich die CDU/CSU neben diesen Werten auch der Subsidiarität, den Produktionsbedingungen und dem Bedürfnis nach nationaler Identität widmen muss. Das lässt sie - wie der Bundestagswahlkampf zeigte - in den Augen der Wähler zum Teil recht diffus erscheinen.

Das Streben der beiden Volksparteien zur stark besetzten politischen Mitte hin bewirkt, dass Randgruppen und weniger stimmenträchtige Interessen, auch wenn sie - wie etwa das Umweltproblem oder die Sorgen des Mittelstandes - von großer langfristiger Bedeutung sind, keine hinreichende Berücksichtigung finden oder gar im noch zu beschreibenden Prozess der Politik zwischen den Mühlsteinen der Großakteure vollständig zerrieben werden. Es ist Aufgabe der kleineren Parteien, solche Interessen aufzugreifen, zu bündeln, zu artikulieren und in die Politik einzubringen: Auf diese Weise halten sie nicht nur das Parteiensystem, sondern zugleich das politische System insgesamt funktionsfähig. Während sich die FDP zum einen nachhaltig für rechtsstaatliche Belange einsetzt, denen die großen Parteien vielfach unsensibel gegenüberstehen, und zum anderen die Einkommensinteressen jener Klientel im Auge hat, die beim Ringen zwischen der Großindustrie, den Gewerkschaften und der stets an Einnahmen orientierten Regierung oft unter den Tisch zu fallen droht, pflegen Bündnis 90/Die Grünen Umweltinteressen und Randgruppen.

Stimmengewinne bei Vermeidung von Stimmenverlusten und das Potential für kleinere Parteien

Der bislang vorgetragene Befund wird mit dem Konzept der Verlustfunktion näher beschrieben: Das machtbedingte Streben der Volksparteien, es mehreren Wählerschichten zugleich recht zu machen, führt zu Verärgerungseffekten bei jenen Wählern, denen ihre Partei zu weit nach links bzw. rechts abgedriftet ist. Hinzu kommt eine beträchtliche und - wegen der mittlerweile sinkenden Bindungskraft der beiden großen Parteien - zunehmende Zahl von Wählern der Mitte, die unentschlossen zwischen den Angeboten dieser beiden schwanken. Verärgerte und unentschlossene Wähler, die der Wahl fernbleiben, könnten die Parteien kalt lassen, wenn sie das Parteibildungsmonopol hätten. Da dies jedoch - trotz des Schutzes der recht hohen Zutrittsschranke von fünf Prozent der Wählerstimmen - nicht der Fall ist, bildet das Potential jener, die sich nicht für eine der beiden großen Parteien entscheiden können oder wollen, zugleich jenes Reservoir, aus dem die kleineren Parteien, wie die FDP, Bündnis 90/Die Grünen und die PDS, aber auch extreme oder neu aufkommende Parteien schöpfen können.

Die Neigung eines Wählers, sich aufgrund des Verhaltens seiner (Volks-)Partei der Stimme zu enthalten oder womöglich gleich eine andere Partei zu wählen, wird als "Wählerbeweglichkeit" bezeichnen. Deren Determinanten, die kurz beschrieben werden, sind mithin zugleich die Determinanten der Verlustfunktion einer Volkspartei. Mit ihrer Hilfe kann im Rahmen einer auf Zohlnhöfer zurückgehenden Einteilung des politischen Prozesses in die Stufen der Grobsteuerung und der Feinsteuerung näher begründet werden, vor welchen Durchsetzungsproblemen wirtschafts- und sozialpolitische Reformen in Deutschland stehen.

Eine erste Ausrichtung ergibt sich sowohl aus der Identifikation der Wähler mit einer Partei als auch aus der Intensität, mit der sie ihre eigenen politischen Standpunkte vertreten. Generell gilt: Je stärker ihre Identifikation mit einer Partei ausgeprägt ist und je geringer sie die Intensität des eigenen Standpunktes empfinden, umso weniger Stimmenthaltungen oder gar Wechselwähler muss die betreffende Partei fürchten.

Wähleridentifikation und Standpunkteintensität sind mit dem Homogenitätsgrad der Parteiprogramme verknüpft, der danach fragt, in welchem Ausmaß sich die Parteien in der Sache unterscheiden. Ist der Homogenitätsgrad hoch, sind sich also die Parteien in ihren programmatischen Aussagen recht ähnlich geworden, so steigt ceteris paribus die Zahl der verärgerten oder unentschlossenen Wähler. Gerade wegen dieser thematischen Nähe kommt es verbal zu heftigen Auseinandersetzungen. So läßt der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Franz Müntefering, keine Gelegenheit aus, um der CDU/CSU und einigen ihrer besonders markanten Repräsentanten, wie Roland Koch und Friedrich Merz, zu unterstellen, dass sie den Sozialstaat abschaffen wollten. Natürlich ist diese Unterstellung absurd, denn die CDU/CSU wird nicht die Mitte, der sie als Volkspartei verpflichtet ist, mit zu weitgehenden Sozialreformen verprellen.

Informierte Wähler, d.h. solche Wähler, die über Kenntnisse der Sachzusammenhänge verfügen, wollen von den Parteien präzise Aussagen und plausible Zusagen für die Verbesserung der eigenen Situation. Der Informationsgrad der Wähler ist im Allgemeinen jedoch nicht ausgeprägt, weil die Komplexität moderner Gesellschaften einen enormen Aufwand an Zeit, Kosten und Mühen für Informationsgewinnung bedeutet, ohne dass diesem Aufwand ein messbarer Vorteil gegenübersteht.

Entscheidender ist demgegenüber die Einkommenswirksamkeit geplanter oder bereits durchgeführter politischer Maßnahmen. Die Wähler verfügen nämlich über einen ausgeprägten Sinn dafür, ob eine politische Maßnahme ihr Einkommen kurzfristig beschneidet oder erhöht. Diese Sicht der Wähler ist verständlich, denn etwaige Einbußen oder Zuwächse sind sofort zu spüren, während ein erst langfristig wirksamer Nutzen von jetzt geforderten Einbußen wie auch die nachteiligen Folgen jetzt gewährter Zuwächse oder Privilegien von den Einzelnen weder hinreichend genau erfasst noch in ihrer Wirkung auf die persönliche Situation bezogen werden können. Daraus erklärt sich die Dominanz der Sozialpolitik.

Die FDP, die berechtigte Einkommensinteressen des Mittelstandes vertritt, tut allerdings gut daran, das Einkommensinteresse geräuschlos im Rahmen der - noch zu erläuternden - Feinsteuerung zu verfolgen. Es hat ihr nachhaltig geschadet, sich öffentlich als Partei der "Besserverdienenden" zu positionieren. Dabei ist das Thema der Einkommenswirksamkeit auch für Bündnis 90/Die Grünen nicht zu unterschätzen: Ihr Plan von 1998, den Benzinpreis im Laufe von zehn Jahren auf DM fünf anzuheben, hat sie vorübergehend in die Nähe der bedrohlichen Fünf-Prozent-Grenze gebracht.

Als weitere Determinanten sind das Wahlrecht und die Staatsorganisation zu nennen. Das deutsche Verhältniswahlrecht mit der erwähnten Fünf-Prozent-Sperrklausel führt in der Regel zu Koalitionsregierungen, wobei dann beide Partner damit rechnen müssen, dass ihnen ihre Wähler vorhalten, die eigenen Interessen nicht genügend durchgesetzt zu haben. Die Frage nach der Staatsorganisation stellt darauf ab, inwieweit Parlament und Regierung eines Landes bei der Gesetzgebung auf die Mitwirkung der nachstehenden Staatsebenen angewiesen sind. Bekanntlich hat der Bundesrat als Vertretung der Länder diesbezüglich eine starke Stellung, die bei gegensätzlichen Mehrheiten in Parlament und Bundesrat zur Blockade der Bundespolitik führen kann.

Eine Spezifizierung der Determinanten der Verlustfunktionen kann den Volksparteien Ansatzpunkte dafür liefern, Stimmenverluste zu minimieren. Die Determinanten der Verlustfunktionen der beiden Volksparteien sind jedoch nicht nur wechselseitig miteinander verbunden, sondern sie sind auch dem Einfluss der kleineren Parteien zugänglich. Das heißt nichts anderes, als dass die Art und Weise, in der die Parteien die Determinanten zu beeinflussen versuchen, zugleich Rückwirkungen auf das Wählerpotential der anderen Parteien hat. Die Kunst eines gelungenen Wahlkampfes, der ja - nicht zuletzt wegen der durchschnittlich viermal pro Jahr stattfindenden Landtagswahlen, die oft einer Abstimmung über die Bundespolitik gleichkommen - latent stets vorhanden ist, besteht darin, gegenüber den standpunktebewussten Wählern traditionelle Werte zu pflegen und dem Potential der politischen Mitte, also jenen, die tendenziell wechselwillig sind, intelligente oder moderne Konzepte anzubieten. Dies haben Gerhard Schröder und die SPD im Wahlkampf 1998 mit ihrer Formel, "nicht alles anders, aber vieles besser machen zu wollen", erfolgreich vorgeführt.

Grob- und Feinsteuerung der Politik

Das politisch-administrative System Deutschlands, verstanden als die Verknüpfung von Regierung, Parteien, Parlament und Bundesrat, bildet ein offenes System. Es wird dominiert vom Überlebensziel der Gubernative, also der Regierung im engeren Sinne und der mit ihr nahezu symbiotisch zusammenarbeitenden obersten Ebene der Ministerialbürokratie. Da die Gubernative Gesellschafts- und Wirtschaftsprozesse nur indirekt durch rechtliche Regeln steuern kann, kommt es für sie darauf an, durch die Pflege geeigneter Schnittstellen zu den beteiligten Akteuren in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft und zu den unteren Ebenen der eigenen Administration jene Informationen zu erhalten, die sie für eine zielführende Politik braucht. Dabei kann es natürlich zu Konflikten zwischen dem langfristig Gebotenen und der kurzfristigen Sicherung des eigenen "Überlebens" kommen. Es ist verständlich, dass die Gubernative in solchen Fällen stärker am Gewinn der nächsten Wahl interessiert sein muss. Das ist nicht abschätzig gemeint: Es kann von ihr nicht erwartet werden, das langfristig Gebotene zu propagieren und tatkräftig umzusetzen und dabei Gefahr zu laufen, durch eine Partei oder Parteienkoalition abgelöst zu werden, die sich populistisch gebärdet und notwendige Änderungen daher schon überhaupt nicht mehr ins Auge fasst.

Die Knappheit an Mitteln und Zeit und die begrenzte Aufnahme- und Verarbeitungskapazität der Politiker und Bürokraten führen dazu, dass nur einem Bruchteil der Probleme Beachtung geschenkt werden kann. Die oben erläuterten Determinanten der Wählerbeweglichkeit bzw. der Verlustfunktionen geben eine erste Antwort darauf, welche der Probleme in den Blickkreis der Politiker geraten: In erster Linie sind dies jene Probleme, denen eine hohe Wählerbeweglichkeit anhaftet. Die damit verbundenen Interessen können durchaus mit dem langfristigen Interesse an einer effizienten Umgestaltung bestehender gesellschaftlicher Regelsysteme, also mit notwendigen Wirtschafts- und Sozialreformen einhergehen. Der Regelfall ist dies freilich nicht.

Die Auswahl der Probleme hängt jedoch auch von Faktoren wie dem schieren Zufall, dem Einfluss der Medien und dem beharrlichen Einsatz von Fach- und Machtpromotoren ab. So konnte z.B. niemand voraussehen, dass die Frage des Einsatzes militärischer Gewalt gegen den Irak und die Flutkatastrophe in Teilen der neuen Bundesländer die Endphase des Bundestagswahlkampfes 2002 thematisch beherrschen würde, während die so genannte Homoehe ohne die Promotion homosexueller Parlamentarier (z.B. Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen) kaum so forciert betrieben worden wäre. Aus den fünfziger Jahren ist der engagierte Einsatz von Ludwig Erhard zu nennen, der als Fach- und Machtpromotor auch mit einer Rücktrittsdrohung als Wirtschaftsminister Bundeskanzler Konrad Adenauer schließlich die Zustimmung zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung (GWB) abtrotzte.

Die sich so herauskristallisierenden Probleme bilden nur eine erste Vorstrukturierung, die als Grobsteuerung bezeichnet wird. Ihr schließt sich eine Phase der eigentlichen Ziel- und Mittelkonkretisierung in einem sehr verästelten Prozess der Feinsteuerung zwischen internen und externen Entscheidungsträgern an. In diesem Prozess wird von den verschiedenen Entscheidungs- und Willensträgern der Politik nacheinander, aber auch gleichzeitig auf gleicher Ebene und auf verschiedenen Ebenen an Lösungsansätzen gearbeitet, die zum Teil diametral sein können. In dem oftmals verblüffenden Ergebnis spiegeln sich der Zwang zum Konsens und die relative Stärke der verschiedenen Einflussgruppen wider.

Einfluss auf diesen Prozess nehmen die Ministerialbürokratie, die Verbände, die politischen Parteien - hier ist insbesondere die Opposition zu nennen - und der Bundesrat. Hinzu kommen supranationale (z.B. die EU-Kommission) und gebietsfremde Träger der Politik (z.B. Nicht-EU-Staaten beim Abschluss von Doppelbesteuerungsabkommen). Gelegentlich wird wissenschaftlicher Rat begehrt. Das kann etwa sein, wenn verschleppte Probleme einen Druck aufgebaut haben, dem mit bisherigen, von der Ministerialbürokratie bevorzugten "bewährten" Lösungen nicht mehr begegnet werden kann. Ein beredtes Beispiel dafür ist die Berufung der so genannten Rürup-Kommission, um Lösungen für den Bereich der gesetzlichen Krankenkassen vorzulegen. In der Regel ist der Einfluss der Wissenschaft freilich gering, weil die modelltheoretisch ausgerichtete Denk- und Arbeitsweise der Wissenschaft häufig mit der Welt der wahlabhängigen Politiker und derjenigen der auf Sicherung ihres Bereichs bedachten Bürokraten kollidiert.

Von ungleich größerer Bedeutung ist demgegenüber auch im Bereich der Feinsteuerung der Medieneinfluss. Die Beteiligten nutzen nämlich die Medien, um gezielt einen medial vermittelten Druck aufzubauen, der in die nichtöffentlichen Detailverhandlungen eingebracht werden kann. Außerdem kann es vorkommen, dass Erörterungen aus nichtöffentlichen Sitzungen publik werden, um auf diese Weise einen Lösungsansatz zu testen oder von vornherein zu diskreditieren. Auch hierfür bietet die Rürup-Kommission Beispiele. So wurde aus der - angeblich vertraulich tagenden - Runde die Überlegung von Bernd Raffelhüschen, selbst Kommissionsmitglied, bekannt, wonach Zahnersatzleistungen aus dem Katalog der Pflichtversicherung gestrichen werden sollten. Wenig später kursierten Meinungen, dass die Pflegeversicherung nicht mehr zu halten sei.

Die so genannte Hartz-Kommission, von Bundeskanzler Gerhard Schröder selbst im Frühjahr 2002 eingesetzt, diente dagegen weniger dem Wunsch nach wissenschaftlicher Beratung (so war bezeichnenderweise in der Kommission, die erklärtermaßen nach Lösungen zum Abbau der Arbeitslosigkeit suchen sollte, kein [Arbeits-]Ökonom vertreten), sondern sie war vielmehr ein Beispiel dafür, wie medienwirksam mit symbolträchtiger Politik ein koalitionsfreundliches Klima erzeugt werden sollte. Von der viel zitierten "Eins-zu-eins-Umsetzung" war bald nach der Wahl nichts mehr zu spüren.

Die analytische Einteilung in die Grob- und die Feinsteuerung der Politik bedeutet nicht, dass beide Phasen sequentiell aufeinander folgen. Die beiden Phasen sind vielmehr miteinander verschränkt, und Teilabschnitte können von unterschiedlichen Akteuren zu unterschiedlichen Zeitpunkten oder auch gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen im Rahmen der Grobsteuerung präsentiert oder wieder in Erinnerung gerufen werden, während zugleich im Rahmen der Feinsteuerung ebenfalls auf verschiedenen Ebenen zeitgleich oder versetzt von mehreren Akteuren an einer ihnen genehmen Lösung gearbeitet wird.

Dieses facettenreiche Agieren bedeutet, dass die wahlabhängigen Politiker die aufgegriffenen Probleme, aber auch öffentlich präsentierte Lösungsansätze daraufhin abklopfen, wie diese sich auf ihr Wählerpotential auswirken, während die Detaillösungen so gestaltet werden können, dass gezielt einigen Gruppen Wohltaten beschert und zugleich die Lasten möglichst geschickt und unmerklich auf alle verteilt werden.

2. Durchsetzungsprobleme von Wirtschafts- und Sozialreformen

Die Soziale Marktwirtschaft als akzeptiertes ordnungspolitisches Leitbild?

Die drängenden Probleme sind freilich derart, dass sie mit dem beschriebenen Muster nicht bewältigt werden können. Das erforderliche radikale Umsteuern belastet nahezu alle Gruppen der Gesellschaft, während die Früchte erst in etwa zehn Jahren, im Falle der Rentenversicherung gar erst nach vielen Generationen sichtbar werden. Der von Herzog angemahnte "Ruck" bedeutet nach seinen eigenen Worten, dass es zunächst "eines neuen Gesellschaftsvertrags zugunsten der Zukunft" bedarf. Einem solchen Gesellschaftsvertrag muss eine Ordnungsvorstellung zugrunde liegen, die als Leitbild für alle Subsysteme dienen kann, die diese nach einheitlichen Kriterien steuert und missbräuchliche Ausnutzungen verhindert.

Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft kann nach Überzeugung des Verfassers Basis für eine solche zukunftstragende Orientierung sein. Allerdings sind die abstrakten Ordnungsprinzipien der Marktwirtschaft ungeheuer schwer zu vermitteln. Wenn auch die Mehrheit der Bevölkerung keine Planwirtschaft nach dem Muster der ehemaligen sozialistischen Staaten herbeisehnt, so ist ihr doch das stete Eingreifen des Staates willkommen, um (angebliche) Auswüchse der Marktwirtschaft zu lindern und um soziale Härten, die ein wirklicher Wettbewerb mit sich brächte, abzufedern. Regierung und Administration wiederum nehmen diesen Wunsch gerne an, weil er ihnen die Verfügungsgewalt über zahlreiche Hebel einräumt, mit denen sie fallweise soziale Wohltaten verteilen und so ihre Position festigen können. Kein Wunder also, dass das Adjektiv "sozial" in der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft schon bald als Einfallstor für ein staatliches Handeln fungierte, das von notwendigen Korrekturen und Rahmensetzungen zum überdehnten Sozialstaat und schließlich zum interventionistischen Wohlfahrtsstaat mutierte.

Die Wirkmächtigkeit der "sozialen Gerechtigkeit"

Radikale Reformen am Arbeitsmarkt und im Bereich der sozialen Sicherung bringen für die Mehrheit der Bevölkerung Einkommenseinbußen aus eigener Tätigkeit sowie den Rückgang von Transfereinkommen mit sich. Des Weiteren muten sie den Wählern ungewollte Freiheiten mit den damit verbundenen Risiken zu, von denen sie nach jahrzehntelanger Hätschelei und Bevormundung entwöhnt worden sind. Plakative Begriffe dafür sind das "angezüchtete Oblomow-Syndrom" und die "deformierte Gesellschaft".

Es kann indes unterstellt werden, dass der eingetretene Zustand weder von den Politikern noch von der Bevölkerung so gewollt war, und wahrscheinlich wird er in seiner vollen Tragweite aus Gründen der asymmetrischen Wahrnehmung von Nutzen und Kosten im Zeitablauf auch jetzt noch nicht begriffen. Eine wesentliche Ursache dafür liegt in den Risiken, Verlusten und Ängsten, die durch die Umwälzungen der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert veranlasst waren. Die gesicherte Existenz in traditioneller bäuerlicher oder handwerklicher Großfamilie löste sich innerhalb kurzer Zeit auf, und an seine Stelle traten kleinere Familienstrukturen im anonymen städtischen Bereich und der Zwang zur nicht selbst bestimmten und abhängigen Arbeit. Dies alles hat sich zusammen mit den verheerenden Folgen zweier verlorener Weltkriege tief in das kollektive Gedächtnis eingegraben. Diese Umwälzungen und Folgen haben zur Begründung und zum Ausbau der solidarischen Sozialversicherung für die abhängigen Arbeitnehmer geführt und ihnen mehrheitlich in der Tat ein großes Maß an sozialer Sicherheit gebracht. Kersting spricht daher mit Recht in Bezug auf das Solidarsystem von einem "auratischen Großbegriff".

Weil die Volksparteien um die Wirkmächtigkeit des Begriffs der "sozialen Gerechtigkeit" und um die Folgen, die radikale Reformen auf die Wählerbeweglichkeit hätten, wissen, halten sie strikt an den bisherigen Regeln des Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherung fest. Sie werden darin von den immer noch mächtigen Gewerkschaften, aber auch von den Kirchen unterstützt.

Sicher werden die Regeln hier und da nachjustiert; Radikalvorschläge sind bislang jedoch noch nicht erkennbar geworden. So ist es z.B. letztlich unerheblich, ob der erweiterte Kündigungsschutz schon bei sechs, elf oder erst bei 20 Mitarbeitern einsetzen soll. Zu fragen ist, warum es in einer freiheitlichen Gesellschaft - abgesehen vom berechtigten Schutz vor reiner Willkür - überhaupt eines solchen Schutzes bedarf. Auch ist nicht zu erkennen, dass das auf einer extensiven Interpretation der Tarifautonomie nach Art. 9 Abs. 3 GG beruhende Tarifkartell aufgebrochen und die Reichweite arbeitsgerichtlicher Reglementierungen zurückgeschnitten werden soll. Was die soziale Sicherung betrifft, so werden die Aspekte der Eigenverantwortung und der Selbstbeteiligung - wenn überhaupt - nur mit äußerst spitzen Fingern angefasst. Ebenso ergeht es den Vorschlägen, Sozialhilfebezieher zu gemeinnütziger Tätigkeit heranzuziehen (so genannte Workfare).

Die Gefahr, sich die Finger zu verbrennen, oder anders ausgedrückt: massive Stimmenverluste zu erleiden, ist einfach zu groß. Die Identifikation der Wähler mit den Volksparteien ginge weiter zurück, und der Homogenitätsgrad der Parteiprogramme stiege, jedenfalls, wenn die Parteien gleiche Vorschläge vorlegen würden. Dass sich die Wähler kundig machen, warum sie bzw. ihre Gruppe Einbußen hinnehmen müssen, ist sicher nicht zu erwarten, während die Einkommenssenkungen das Verärgerungspotential weiter steigern. Nach alledem ist zu befürchten, dass sich neue und womöglich extreme Parteien bilden, die die Sperrklausel überspringen und Koalitionsbildungen erschweren.

Der Gedanke, dass die drängenden Probleme nur in einer großen Koalition gelöst werden können, liegt nahe. Allerdings wittern die beiden Volksparteien - nach den Erfahrungen der Großen Koalition (1966 - 1969) - die Gefahr, dass es am rechten oder linken Rand zum Aufleben radikaler Parteien kommen könnte. Verbindet sich eine solche Entwicklung mit massiven Wahlenthaltungen in der Mitte, so käme es zu großen politischen Schwierigkeiten. Nicht zuletzt dürfte die Vorstellung eines gemeinsamen Regierens Widerwillen bei den beiden Volksparteien erzeugen, weil sie sich die lukrativen und einflussreichen Posten ungefähr hälftig teilen müssten. Das wird viele treue "Parteisoldaten" verbittern. Angenehmer ist es da schon, mit einer kleineren Partei, die erheblich weniger an Posten beanspruchen kann, zu koalieren.

Der Hinweis darauf, dass vieles von dem, was hier skeptisch gesehen wird, in anderen Ländern, z.B. in Großbritannien, Holland oder Dänemark, umsetzbar gewesen ist, geht ins Leere, weil die Bedingungen einer bevölkerungsreichen (82 Millionen), arbeitsteiligen, anonym und nach dem Modell des kooperativen Föderalismus organisierten Industriegesellschaft wie Deutschland nicht mit jenen in Holland oder Dänemark vergleichbar sind: Nur 15 bzw. 5,3 Millionen Einwohner, ländlichere Strukturen, kleinere Unternehmenseinheiten und eine stärkere Konzentration der Zentralgesetzgebung erleichtern es den Entscheidungsträgern, für die Notwendigkeit einschneidender Reformen zu werben und diese auch umzusetzen. Sieht man von der höheren Bevölkerungszahl ab und klammert den Großraum London aus, so gelten für Großbritannien ähnliche Strukturen, dennoch wäre den von Margaret Thatcher betriebenen Reformen kein Erfolg, von dem der jetzige Labourpremier Tony Blair noch profitiert, beschieden gewesen, wenn sie nicht vom Ruhm des Falklandkrieges (1982) hätte zehren können. Instinktsicher zog die Premierministerin die Unterhauswahlen vor und konnte sich so weitere Amtsperioden sichern. Schließlich erlaubt das Mehrheitswahlrecht stabile Regierungen selbst dann, wenn die absolute Stimmenmehrheit nicht erreicht wird. Diese Zusammenhänge lenken das Augenmerk auf Fragen der Staatsorganisation.

Reformnotwendigkeiten der Staatsorganisation

Aufgrund der Erfahrungen im "Dritten Reich" mit seinen Gleichschaltungsgesetzen haben die Grundgesetzväter und -mütter wie auch die Alliierten besonderen Wert auf eine föderale Ausgestaltung der Staatsform gelegt. Dass indessen die Konstruktion eines bei der Gesetzgebung beteiligten Bundesrates die Parteien - jedenfalls bei unterschiedlichen Mehrheiten - in das Dilemma bringt, auf der palamentarischen Ebene aufeinander einzuschlagen und auf der bundesstaatlichen Ebene miteinander zu kooperieren, haben sie ebenso wenig vorausgesehen wie die Entwicklung zur Konzentration der Gesetzgebung beim Bund und der Zunahme der Zustimmungsgesetze. Zum Teil war dies Folge der extensiven Interpretation "gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet" nach Art. 72 Abs. 2 GG, die auch zu einem völlig überzogenen, distributiv orientierten Länderfinanzausgleich geführt hat, der die Anreize, durch eine angemessene Wirtschaftspolitik zu vermehrten Steuereinnahmen zu kommen, nicht nur bei den "armen", sondern auch bei den "reichen" Ländern erheblich gemindert hat.

Bedenkenswerte Änderungen laufen zum einen darauf hinaus, die Bundesgesetzgebung zu stärken, indem den Ländern die Blockademöglichkeit aus der Hand genommen wird. Im Gegenzug dazu sind allerdings die Landeskompetenzen dadurch zu stärken, dass der Umfang der konkurrierenden Gesetzgebung, die dem Bund die Möglichkeit bietet, vieles an sich zu ziehen, erheblich reduziert wird. Die den Ländern dadurch eröffneten größeren Gestaltungsspielräume müssten sich insbesondere auch auf eine gewisse Steuergesetzgebungshoheit beziehen.

Wirklich wirksam wird eine solche "Entflechtung" und "Reföderalisierung" allerdings nur im Verbund mit weiteren konstitutionellen Reformen, die auf vikarische Funktionen bisher vernachlässigter Interessen, auf die Parteienorganisation, auf eine Begrenzung der Ämterpatronage und eine Quotierung von Staatsbediensteten im Parlament durch Nutzung des Art. 137 Abs. 1 GG sowie eine institutionelle Trennung der Aufgaben von einfacher Gesetzgebung und verfassungsändernder Gesetzgebung hinauslaufen. Auch eine Neuausrichtung des Wahlrechtes wäre ins Auge zu fassen.

III. Fazit

Die bundesdeutschen institutionellen Strukturen haben der Bevölkerung lange Zeit soziale Sicherheit garantiert und damit den kollektiv tief verwurzelten Ängsten entsprochen. Gleichzeitig ist der Mut zur Eigenverantwortung und zum Risiko nachhaltig gelähmt worden. Fatalerweise klammern sich die Wähler gerade in Zeiten notwendiger radikaler Reformen umso mehr an die politisch gegebenen Garantien. Das Janusgesicht dieser Garantien zeigt sich zum einen in den Fesseln, die eine Neuausrichtung des gesellschaftlichen Regelungssystems außerordentlich erschweren, zum anderen aber würde eine Neuorientierung dem politisch-administrativen System die Preisgabe eines großen Teil seiner bisherigen Machtausübung über die Bürger abverlangen.

Gerade darin liegt das Dilemma der Parteien: Sie müssen eigene Privilegien abgeben, die Bürger zu einem Mentalitätswandel ermutigen und ihnen Opfer abverlangen, ohne sicher zu sein, dass und wann die davon ausgehenden Früchte reifen und wer sie ernten wird. Daher ist die eingangs aufgestellte These begründet, dass der 2. Februar 2003 keinen "Ruck" zum radikalen Wandel bewirken wird. Nach Straubhaar bedarf es mehr als sieben fetter Jahre, um allein die Massenarbeitslosigkeit zu halbieren. Allerdings wird die lange Reifezeit dieser Früchte immer wieder durch kurzfristige Sachzwänge, Ausnahmen und Sonderinteressen gefährdet. Daher sieht Straubhaar nur die Möglichkeit, dass sich die Politik durch feste Regeln selbst bindet, um den Zwängen und Versuchungen widerstehen zu können; ein Gedanke, den schon Walter Eucken in das Prinzip von der "Konstanz der Wirtschaftspolitik" kleidete, ohne das der Marktwirtschaft kaum Erfolg beschieden sein würde.

Theoretisch begründete Ratschläge zu Verfassungsänderungen gibt es reichlich, indessen ist noch niemandem ein praktikabler Weg eingefallen, wie man die politischen Entscheidungsträger für die notwendigen Zweidrittelmehrheiten im Parlament und im Bundesrat begeistern kann. Dramatisch aufgemachte Appelle allein werden nicht helfen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog im Hotel Adlon in Berlin am 26. 4. 1997, Aufbruch in das 21. Jahrhundert, S. 9, zit. nach der Fassung in: (http://www.glident-muc.de/herzog1.htm).

  2. Vgl. Georg Picht, Die deutsche Bildungskatastrophe, Olten 1964.

  3. Vgl. Mathias Döpfner im Gespräch mit Hans D. Barbier, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 25. 2. 2003, S. 35: Uns Deutschen wurde das Oblomow-Syndrom angezüchtet. Ordnung des Landes.

  4. Ausführlich dazu Hans-Werner Sinn, Die rote Laterne. Die Gründe für Deutschlands Wachstumsschwäche und die notwendigen Reformen, Ifo Schnelldienst, Sonderausgabe, (2002) 23; Werner Eichhorst, "Benchmarking Deutschland" - Wo stehen wir im internationalen Vergleich?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), B 46 - 47/2002, S. 22ff.

  5. Vgl. Thomas Straubhaar, Allianz der Vernunft, in: Handelsblatt vom 20. 2. 2003, S. 8; Stefan Immerfall, Ist es die Wirtschaft, Dummkopf?, in: PIN - Politik im Netz (www.politik-im-netz.com), 3. Jg., Ausgabe 17 im November 2002, Rubrik: National, S. 4. Auch R. Herzog (Anm. 1), S. 9, meinte, dass die Bürger jetzt Handlungen erwarten. Da sich allerdings im sechsten Jahr nach seiner Feststellung noch nichts Wesentliches getan hat, scheint es mit der Handlungserwartung der Bevölkerung nicht weit her zu sein.

  6. Vgl. Stiftung Marktwirtschaft - Frankfurter Institut, Deutschland im Reformstau. 3 Maßnahmenkataloge der Stiftung Marktwirtschaft. Maßnahmenkatalog II: Föderale Ordnung, Berlin, September 2002, S. 3; vgl. auch Elmar Rieger, Die sozialpolitische Gegenreformation. Eine kritische Analyse der Wirtschafts- und Sozialpolitik seit 1998, in: APuZ, B 46 - 47/2002, S. 3ff.

  7. Aus Vereinfachungsgründen werden die beiden Parteien, CDU und CSU, die sich territorial abgegrenzt haben und im Bundestag eine Fraktionsgemeinschaft bilden, als eine Einheit aufgefasst.

  8. Vgl. E. Rieger (Anm. 6), S. 7.

  9. Vgl. Erwin K. und Ute Scheuch, Noch ist es keine Rückkehr zu Weimarer Verhältnissen, in: Das Parlament vom 7. 1. 1994, S. 2.

  10. Zu den Begriffen "links - Mitte - rechts" Siegfried F. Franke, (Ir)rationale Politik?, Marburg 20002, S. 29.

  11. Vgl. ebd. S. 53ff.

  12. Vgl. Philipp Herder-Dorneich/Manfred Groser, Ökonomische Theorie des politischen Wettbewerbs, Göttingen 1977, S. 126.

  13. Vgl. Werner Zohlnhöfer, Die wirtschaftspolitische Willens- und Entscheidungsbildung in der Demokratie, Marburg 1999, S. 101ff.

  14. Vgl. ebd., S. 90ff., 149ff.; S. F. Franke (Anm. 10), S. 91ff.

  15. Vgl. Frank Decker, Zwischen Wahlen. Vorschläge für eine Reform des deutschen Bundesstaates an Haupt und Gliedern, in: FAZ vom 7. 2. 2003, S. 11.

  16. Vgl. W. Zohlnhöfer (Anm. 13), S. 144, 159ff.

  17. R. Herzog (Anm. 1), S. 5.

  18. Vgl. Werner Zohlnhöfer, Sozialpolitik - Achillesferse der Sozialen Marktwirtschaft?, in: APuZ, B 17/88, S. 40ff.

  19. Vgl. Anm. 3 sowie Meinhard Miegel, Die deformierte Gesellschaft, Berlin-München 2002.

  20. Wolfgang Kersting, Sozialstaat und Gerechtigkeit, in: Veröffentlichungen der Walter-Raymond-Stiftung, Band 35, Köln 1996, S. 246.

  21. Zit. in: F. Decker (Anm. 15).

  22. Vgl. Siegfried F. Franke, Finanzausgleich in der Demokratie, in: Dirk Ipsen/Helge Peukert (Hrsg.), Institutionenökonomie, Frankfurt/M. 2002, S. 181ff.

  23. F. Decker (Anm. 15).

  24. Vgl. S. F. Franke (Anm. 10), S. 220ff.

  25. Vgl. T. Straubhaar (Anm. 5).

  26. Vgl. Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen 1999(6), S. 289ff.

Dr. rer. pol. habil., geb. 1942; Ordinarius für Wirtschaftspolitik und Öffentliches Recht an der Universität Stuttgart.

Anschrift: Universität Stuttgart, Fakultät 10, Postfach 10 60 37, 70049 Stuttgart.
E-Mail: E-Mail Link: franke@sofo.uni-stuttgart.de

Veröffentlichungen zur politischen Willens- und Entscheidungsbildung in der konkreten Ausprägung als Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Drogen-, Ordnungs-, Steuer- und Umweltpolitik.