Einleitung
Die Bundesrepublik Deutschland gilt in der Forschung über Staatstätigkeit in den entwickelten westlichen Demokratien als ein Land, in dem es besonders schwierig ist, weitreichende Reformen durchzusetzen. Semisouverän sei die Bundesrepublik gerade auch in der Innenpolitik wegen der Vielzahl an institutionellen Hemmnissen, so argumentierte ein amerikanischer Deutschlandkenner;Vgl. Peter J. Katzenstein, Policy and Politics in West Germany. The Growth of a Semisovereign State, Philadelphia 1987. ja, es sei aufgrund des deutschen Institutionensystems gar fast unmöglich, nicht von einer formellen oder informellen Großen Koalition regiert zu werden, mit der Folge, dass allenfalls inkrementelle Reformen möglich werden - so der Befund eines führenden deutschen Staatstätigkeitsforschers.
In diesem Beitrag sollen diese institutionellen Hindernisse und ihre tatsächliche Wirkung auf den wirtschaftspolitischen Reformprozess ausführlicher diskutiert werden. Dabei soll unterschieden werden zwischen solchen Institutionen, die der Bundesregierung bestimmte Kompetenzen oder Ressourcen vorenthalten, die stattdessen von subnationalen, supranationalen oder anderen weisungsunabhängigen Institutionen ausgeübt werden, und solchen institutionellen Arrangements, die den Entscheidungsprozess auf Bundesebene strukturieren, also festlegen, ob die Zustimmung bestimmter Akteure notwendig ist, um Reformen durchzusetzen.
I. Kompetenz- und Ressourcenverteilung und die Wirtschaftspolitik des Bundes
Die deutsche Bundesregierung muss ihre Kompetenzen und Ressourcen mit einer Vielzahl anderer Institutionen teilen. Zentral für den Staatsaufbau der Bundesrepublik ist dabei zunächst natürlich der Föderalismus, der den Bundesländern eigenständige Kompetenzen und Ressourcen einräumt. Zusätzlich sind dem Bund jedoch noch andere, wirtschaftspolitisch überaus bedeutende Kompetenzen vorenthalten, so in der Geld- und der Lohnpolitik. Darüber hinaus hat der Bund gerade im Bereich der Wirtschaftspolitik auch der Europäischen Gemeinschaft
1. Die Politikverflechtung im deutschen Föderalismus
Eine wichtige Einschränkung der Fähigkeit deutscher Regierungen, weitgehende Kurswechsel zu vollziehen, stellt der Föderalismus dar. Die Politikwissenschaft charakterisiert den deutschen Föderalismus mit dem Begriff der "Politikverflechtung"
Wichtiger als die Gesetzgebungs- und auch die Verwaltungskompetenz der Länder ist jedoch die Ressourcenverteilung innerhalb des deutschen Bundesstaates. Der Anteil des Bundes am Gesamtsteueraufkommen lag im Jahr 2000 nur bei 42,5 Prozent,
Doch der deutsche Föderalismus hat noch eine weitere Konsequenz für die Staatstätigkeit hierzulande, die vor allem deutlich wird, wenn man den Parteienwettbewerb in die Überlegungen einbezieht. Der Parteienwettbewerb auf Bundesebene besitzt nämlich auch für die Landesebene eine erhebliche Bedeutung, so dass Landtagswahlen häufig als Stimmungstests für die jeweilige Bundesregierung betrachtet werden. Hinzu kommt, dass Landtagswahlen unmittelbar über die Zusammensetzung des Bundesrates entscheiden, der seinerseits wiederum großen Einfluss auf die Durchsetzbarkeit künftiger Reformen hat. Aus beiden Gründen wird die Bundesregierung bestrebt sein, bei Landtagswahlen möglichst gut abzuschneiden. Da die Termine der Landtagswahlen aber über die gesamte Legislaturperiode des Bundestages verteilt sind, stehen die Parteien fast permanent im Wahlkampf. Daher ist davon auszugehen, dass die Beschränkungen, die vom Kampf um Wählerstimmen auf die Wirtschaftspolitik ausgehen,
2. Lohnpolitik und Tarifautonomie
Die Bundesregierung muss ihre Kompetenzen aber nicht nur mit den Ländern teilen. Bestimmte Politikfelder sind mehr oder weniger exklusiv anderen Entscheidungsträgern übertragen, auf die die Regierung kaum Einfluss nehmen kann. Zu nennen sind hier die Lohn- und die Geldpolitik. Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes gewährleistet die Koalitionsfreiheit, also das Recht, "zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden", womit nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch die Tarifautonomie in einem Kernbereich geschützt ist.
Dieses Arrangement ist folgenreich: In Tarifverhandlungen wird einerseits über die Verteilung des größten Teils des Volkseinkommens, andererseits aber auch über die Entlohnung für Arbeit, und damit den wichtigsten Kostenfaktor, entschieden. Ihr Ausgang hat daher erheblichen Einfluss auf die Möglichkeiten, bestimmte wirtschaftspolitische Ziele, nicht zuletzt Vollbeschäftigung, zu erreichen. Viele Ökonomen argumentieren, dass die Tarifautonomie systematisch zu überhöhten Lohnabschlüssen und in deren Folge zu Arbeitslosigkeit führe.
Es hat in der Geschichte der Bundesrepublik jedoch immer wieder Versuche gegeben, die Sozialpartner einzubinden und so auch auf die Lohnpolitik einzuwirken. Das gilt etwa für die "Konzertierte Aktion", die erstmals 1967 zusammentrat und auf eine Abstimmung des wirtschaftspolitischen Handelns von Regierung und Sozialpartnern zielte. Dabei wurde zunächst vergleichsweise erfolgreich eine zurückhaltende Lohnpolitik gegen aktive Arbeitsmarktpolitik und vollbeschäftigungsorientierte Wirtschaftspolitik "getauscht".
3. Die Unabhängigkeit der Bundesbank und die Währungsunion
Doch die Bundesregierung muss nicht nur auf die Beeinflussung der Lohnpolitik verzichten, auch die Geldpolitik, und damit ein weiterer zentraler Parameter staatlicher Wirtschaftspolitik, ist ihrem Zugriff entzogen. Die rechtliche und politische Unabhängigkeit der Bundesbank war im internationalen Vergleich ausgesprochen hoch, und als ihr zentrales Ziel war die "Sicherung der Währung" im Bundesbankgesetz verankert - ein Ziel, das dieBundesbank so erfolgreich verfolgte, dass Deutschland zwischen 1965 und 2000 das Land mit der niedrigsten Inflationsrate in der OECD war.
Ihre Unabhängigkeit hat die Bundesbank am 1.Januar 1999 eingebüßt, da sie nun vollständig indas Europäische System der Zentralbanken (ESZB) integriert ist. Die Möglichkeiten der Bundesregierung, die Geldpolitik zu beeinflussen, sind durch diesen Übergang aber keineswegs gestiegen: Die rechtliche Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und des ESZB ist eher noch größer als die der Bundesbank, und die Geldpolitik muss sich nun an den Bedürfnissen des gesamten Euro-Raumes und nicht allein an denen der Bundesrepublik orientieren. Daher ist festzuhalten, dass die Bundesregierung auf eine eigenständige Geldpolitik auch in Zukunft wird verzichten müssen.
4. Die Bedeutung der Europäischen Integration
Das Beispiel der Europäischen Währungsunion macht bereits darauf aufmerksam, dass die Bundesrepublik einen Teil ihrer Kompetenzen an die supranationale Ebene der Europäischen Gemeinschaft abgegeben hat. Gerade im Rahmen des Binnenmarktprojektes und der Vorbereitung der Währungsunion betraf dies auch Teilbereiche der Wirtschaftspolitik. Die Bedeutung der EG lässt sich beispielsweise daran verdeutlichen, dass der Anteil europäischer Impulse an der Gesetzgebung des Bundestages schon in der 10. bis 12. Legislaturperiode (1983 - 1994) im Bereich der Wirtschaftspolitik rund 15 Prozent, in der Finanzpolitik sogar zwischen 20 und 25 Prozent betrug.
Zu beachten ist zwar, dass die meisten Regulierungsentscheidungen vom Ministerrat getroffen werden, die Regierungen also die Möglichkeit besitzen, die einschlägigen Entscheidungen zu beeinflussen; doch sollte in diesem Zusammenhang zum einen die Rolle der Europäischen Kommission nicht unterschätzt werden, die durchaus in der Lage war, Liberalisierungsprojekte auch gegen anfänglichen Widerstand einzelner oder auch mehrerer Mitgliedstaaten durchzusetzen,
Als weitere potenziell wichtige Einschränkungen des nationalstaatlichen Handlungskorridors können die die Europäische Währungsunion begleitenden fiskalischen Regelungen gelten. So schmälerte das fiskalische Konvergenzkriterium des Maastrichter Vertrages
II. Vetospieler im Entscheidungsprozess
Während im vorangegangenen Abschnitt diskutiert wurde, in welchen Bereichen einer Bundesregierung bestimmte Kompetenzen oder Ressourcen vorenthalten sind, geht es nun darum, den Entscheidungsprozess auf Bundesebene zu analysieren. Wer kann Entscheidungen beeinflussen und verhindern, inwieweit wird dadurch eine kohärente Wirtschaftspolitik erschwert oder gar unmöglich gemacht? Im Anschluss an den Politikwissenschaftler George Tsebelis lassen sich Akteure, deren Zustimmung zu einer Veränderung des (gesetzlichen) Status quo notwendig ist, als Vetospieler verstehen.
1. Das Wahlrecht und die Notwendigkeit der Koalitionsbildung
Die Bildung von Koalitionsregierungen ist nicht unmittelbarer Bestandteil eines Institutionensystems. Allerdings steigt die Wahrscheinlichkeit, dass zur Bildung einer Regierung mehrere Parteien zusammenfinden müssen, mit der Anwendung eines Verhältniswahlsystems, das wesentlich weniger stark konzentrierende Effekte auf das Parteiensystem ausübt als ein Mehrheitswahlsystem.
Als Paradebeispiel für diese These können sicherlich die letzten Jahre der sozial-liberalen Koalition dienen, als nämlich die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der SPD, die vor allem auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit drang, und der FDP, der es vornehmlich um eine Konsolidierung des Bundeshaushalts ging, zunehmend auseinander drifteten.
2. Der Bundesrat als Reformbremse?
Obwohl der Bundesrat formal keine zweite Parlamentskammer ist, spielt er bei der Gesetzgebung insbesondere dann eine wichtige Rolle, wenn ein Gesetz zustimmungspflichtig ist, was bei 55 - 60 Prozent der Vorlagen der Fall ist. Von besonderer Bedeutung im Zusammenhang mit der Durchsetzung kohärenter Wirtschaftspolitik ist dabei vor allem die parteipolitische Zusammensetzung der Länderkammer. Zwar lässt sich auch bei übereinstimmenden Mehrheiten in beiden Kammern häufig ein Einfluss des Bundesrates auf wichtige Reformen feststellen, soweit damit nämlich unmittelbar Länderinteressen verbunden sind, sodass der Bundesrat also selbst in dieser Konstellation ein gewisses Reformhindernis für kohärente Reformen darstellt.
Anders verhält es sich, wenn eine Bundesregierung über keine eigene Mehrheit ihr parteipolitisch nahe stehender Landesregierungen im Bundesrat verfügt - eine Konstellation, wie sie in 67,2 Prozent der Zeit zwischen 1949 und 2000 vorherrschte.
Wenn jedoch, wie zwischen 1972 und 1982 sowie zwischen 1996 und 1998 und seit 2002, die eindeutig der Opposition nahe stehenden Länder die Mehrheit im Bundesrat besitzen, wird es für jede Bundesregierung schwer, ihre eigenen wirtschaftspolitischen Konzeptionen durchzusetzen. Im günstigsten Fall werden Kompromisse erreicht, die jedoch häufig die Reichweite einer Reform abschwächen und insofern der Umsetzung kohärenter Wirtschaftspolitik entgegenstehen. Unter ungünstigeren Umständen - insbesondere, wenn mindestens eine Seite hofft, sich durch eine Nicht-Einigung eine bessere Position im Wettbewerb um Wählerstimmen zu verschaffen - kann es in einer solchen Konstellation auch zu einer Blockade von Reformen kommen, wie sie etwa in Bezug auf die Steuerreformpläne der letzten Kohl-Regierung zu beobachten war.
Allerdings sollte die Blockadegefahr nicht dramatisiert werden: Die Parlamentsstatistik weist für die 13. Legislaturperiode (1994 - 1998) gerade einmal zehn Gesetze aus, die wegen Versagung der Zustimmung des Bundesrates nicht verkündet wurden, für die 14. Wahlperiode waren es sogar nur sieben.
3. Das Bundesverfassungsgericht und die Wirtschaftspolitik
Anders als Koalitionsparteien und der Bundesrat kann das Bundesverfassungsgericht wirtschaftspolitische Reformen nicht während der Beratungen beeinflussen. Es kann auch nicht von sich aus tätig werden, und es kann Gesetze nur einer verfassungsrechtlichen Prüfung unterziehen, nicht jedoch ihre Zweckmäßigkeit und Wünschbarkeit kontrollieren. Dennoch gehen seine Kompetenzen "über alle vergleichbaren Systeme der Verfassungsgerichtsbarkeit hinaus"
Darüber hinaus ist zu beachten, dass nicht allein die Anzahl der Entscheidungen, in denen das Gericht Gesetze verwirft, ausschlaggebend ist; vielmehr scheint bereits die Möglichkeit eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht so etwas wie vorauseilenden Gehorsam des Gesetzgebers zu erzwingen. Die Neigung, völlig neue Politiken auszuprobieren, dürfte zumindest beeinträchtigt werden, wenn hier die Gefahr als besonders groß eingeschätzt wird, vor dem Verfassungsgericht zu scheitern; dies kann einer "eingebauten Handlungsbremse" gleichkommen, die zu Entscheidungsschwäche und Innovationsscheu führt.
III. Ausblick
Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass die Durchsetzung kohärenter wirtschaftspolitischer Reformen für eine deutsche Bundesregierung nicht einfach ist. Sie ist weit davon entfernt, alle wirtschaftspolitischen Instrumente kontrollieren zu können: Geld- und Lohnpolitik sind ihrem Einfluss vollständig entzogen, die Steuern muss sie mit Ländern und Gemeinden teilen, und in vielen Fällen muss sie zudem wirtschaftspolitischen Vorgaben der EG genügen. Doch auch in den Bereichen, für die der Bund die Kompetenzen besitzt, müssen oft Kompromisse unter Koalitionspartnern und nicht selten auch mit der Opposition - wenn diese nämlich eine Mehrheit im Bundesrat kontrolliert - geschlossen werden, die dann zuweilen gar noch Gefahr laufen, vom Verfassungsgericht abgelehnt zu werden.
Es ist notwendig, sich diese institutionellen Hemmnisse vor Augen zu führen, um die wirtschaftspolitischen Leistungen verschiedener Bundesregierungen fair bewerten zu können. Gleichwohl determinieren Institutionen die Wirtschaftspolitik nicht; weder erzwingen sie per se Reformstau noch sind sie stets für die mangelnde Kohärenz wirtschaftspolitischer Reformen verantwortlich. Dass der christlich-liberalen Koalition unter Helmut Kohl in den achtziger Jahren kein größerer wirtschaftspolitischer Kurswechsel gelang und auch die rot-grüne Bundesregierung nach 1998 alles andere als kohärente wirtschaftspolitische Reformen zustande brachte, war weit mehr innerparteilichen Auseinandersetzungen und dem Fehlen eines wirtschaftspolitischen Konzepts in der großen Regierungspartei sowie der Sorge vor der negativen Sanktionierung unpopulärer Reformen durch die Wähler geschuldet als den institutionellen Reformhindernissen des politischen Systems der Bundesrepublik.
Daher muss die aktuelle Situation, in der sich die rot-grüne Bundesregierung einer Mehrheit unionsregierter Länder im Bundesrat gegenübersieht, auch nicht unter allen Umständen zu einer vollständigen Reformblockade in der Wirtschaftspolitik führen. Für den "Modernisiererflügel" der SPD und die Teile der Grünen, die für stärker angebotsorientierte wirtschaftspolitische Reformen eintreten, bietet die derzeitige Bundesratskonstellation sogar eine Chance: Der Verweis auf die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat könnte weiter reichende Reformen auch innerhalb der SPD und gegen die Gewerkschaften durchsetzbar machen, und die Kooperation zwischen den beiden Volksparteien würde den Parteienwettbewerb bereichsweise suspendieren, da beide Seiten Verantwortung für möglicherweise unpopuläre Veränderungen übernehmen müssten. Insofern birgt die Vielzahl institutioneller Schranken gegen die einfache Herrschaft der Parlamentsmehrheit durchaus auch Chancen.