Im Mai 2018, nach einer ihrer sorgsamen und unauffälligen Grundsatzreden auf der Tagung der "G7/G20 – Global Solutions Initiative" zeigte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel auf einmal als ungewohnt leidenschaftliche Diskutantin:
"Ich sehe zurzeit eine riesige Herausforderung für die Gestaltung der Globalisierung: Das ist die Tatsache, dass der Rohstoff des 21. Jahrhunderts die Daten sind, nicht mehr Kohle und Stahl. (…) Im Grunde sind wir alle Datenlieferanten, und dafür, dass wir permanent diese Daten liefern, kriegen wir aber gar nichts bisher, und andere verdienen daran schön. (…) [W]ir wollen jetzt auch Facebook, Apple, Google, Amazon besteuern. (…) Die Bepreisung von Daten, insbesondere von den Konsumenten, ist aus meiner Sicht das zentrale Gerechtigkeitsproblem der Zukunft, – sonst werden wir eine sehr ungerechte Welt erleben."
Ich stelle dieses Zitat an den Anfang dieses Beitrags, weil es eine Politikerin beim Nachdenken zeigt: Eine der wichtigsten Staatenlenkerinnen Europas lässt um zwei Fundamentalthemen der digitalen Epoche kursorisch ihre Gedanken kreisen, ohne zu einer schlüssigen Lösung zu kommen. Vielmehr erbittet sie zu diesem "zentrale[n] Gerechtigkeitsproblem der Zukunft" Rat von den anwesenden WissenschaftlerInnen.
Problemanalyse: Binnenmarkt, Daten-Asymmetrie, Micro-Targeting
Um Art und Umfang des "digitalen Binnenmarkts" eine Dimension zu geben, hat die Europäische Kommission – Stand März 2018 – die Fakten zusammengetragen: An jedem beliebigen Tag des Jahres verschicken europäische Bürger insgesamt 20 Billionen E-Mails, durchsuchen 650 Millionen Mal das Internet, schreiben 500.000 Blog-Posts, geben 150 Millionen Nachrichten in die "sozialen Medien", schauen 800 Millionen Videos im Netz an, laden 40 Millionen Fotos hoch. Die 500 Millionen NutzerInnen erzeugen dabei täglich 400 Millionen Gigabyte Datenverkehr im Internet, wobei die Statistiker der EU einen "digitalen Binnenmarkt" von "jährlich bis zu 415 Milliarden Euro" prognostizieren, der "Arbeitsplätze schaffen und unsere öffentlichen Dienstleistungen verändern"
Das hat mit dem Umstand zu tun, dass die derzeit reichsten US-Weltmonopole, genannt "Frightful Five" oder FAMGA (Facebook, Amazon, Microsoft, Google und Apple), mit einem Börsenwert von insgesamt 3.500 Milliarden Dollar sich für ihre europäischen Niederlassungen jeweils das Land mit der niedrigsten Körperschaftssteuer aussuchen: Amazon sitzt in Luxemburg, Facebook und Microsoft in Irland, Google in Irland und den Niederlanden. So zahlen sie statt der für außereuropäische Unternehmen durchschnittlich üblichen 23 Prozent nur durchschnittlich 9 Prozent.
Selbst wenn man alle in Deutschland erzielten Werbeumsätze von Facebook nach deutschem Recht besteuerte, entweder nach "Umsatzausgleichssteuer" oder nach "Quellensteuer" oder nach irgendeiner neuen Form der Abgabe aus "Einnahmen aus der Erbringung digitaler Dienstleistungen oder Werbeeinnahmen"
Genau besehen, ist die "Tätigkeit" der Konzerne Facebook oder Google janusköpfig. Wenn etwas "getan" wird, sind immer mindestens zwei Parteien beteiligt – die NutzerInnen und das Unternehmen. Medienökologisch gesehen, nennt man das einen reziproken, aber asymmetrischen Bedingungszusammenhang: Je mehr aktive NutzerInnen agieren, suchen, liken, klicken, sharen, kommentieren, desto zielgenauer und "sinntiefer" werden die Cluster der Werbung, oder, um es in der Facebook-Fachsprache zu sagen: die "Broad Categories" und "Campaigns", mit denen jede NutzerIn genau auf ihr Profil zugeschnittene Werbung erhält. Das ist das Geschäftsmodell. Eingebaut darin ist eine unmittelbare Wirksamkeitsprüfung durch sogenannte Offsite Pixel, die zum Beispiel Facebook für seine Werbetreibenden anbietet, damit sie erfahren, ob eine Anzeige auch zu einem wirksamen Klick auf die eigene Seite (etwa Kauf eines Artikel im werbenden Online-Shop) geführt hat. Umgekehrt können Werbetreibende ihre Kontaktdaten an Facebook weitergeben, um damit eine noch profilschärfere Kampagne zu lancieren.
Konnektivität und Asymmetrie
Auf diese Weise verändert sich das "Verhältnis von Oberfläche und Tiefe", das der Soziologe Niklas Luhmann zum fundamentalen Strukturschema von Werbung erklärte, grundlegend. "Wie einst die Divinationstechniken der Weisheit", so Luhmann, verwende Werbung "Lineaturen der Oberfläche, um Tiefe erraten zu lassen. (…) Aber Tiefe, das ist jetzt nicht das Schicksal, sondern die Unverbindlichkeit der Werbung. Die Werbung kann nicht bestimmen, was ihre Adressaten denken, fühlen, begehren."
Seit den frühen 2000er Jahren jedoch leben wir in einer massiven medialen Transformationsperiode, in Deutschland und weltweit. Denn in "Konnektivitätsmedien"
Hier mag man erkennen, was Merkel für das "zentrale Gerechtigkeitsproblem der Zukunft" hält. Ungerecht erscheint in der Tat die Asymmetrie der Daten in Konnektivitätsmedien wie Facebook oder Instagram. Sie liegt in der Diskrepanz zwischen dem Wissen der Werbenden und dem Wissen der Beworbenen begründet – auch wenn alles, was die Werbung weiß, aus den Verhaltensweisen der Beworbenen folgt. Doch die Beworbenen klicken, liken oder sharen ohne Wissen, welche relationalen Profile sich daraus algorithmisch ergeben können. Die Algorithmen sind Geschäftsgeheimnis, die rekombinierten Daten gehören allein dem Plattformbetreiber. Für Facebook gilt insofern, was einer Expertise der Justizminister der Bundesländer zufolge auch für meine Autowerkstatt gilt, die die Motordaten meines Fahrzeugs ausliest: "Automatisch generierte Daten werden nach geltendem Recht (…) demjenigen zugeordnet, der faktisch auf sie zugreifen kann, der sie also z.B. speichern, verarbeiten, verkaufen oder löschen kann."
Tatsächlich? Im Bundesverkehrsministerium (BMVI) ist man sich nicht so sicher. Denn der Europäische Gerichtshof hat 2016 beispielsweise dynamische, also nur zeitweise vergebene IP-Adressen für personenbezogene Daten erklärt. Jede NutzerIn hat eine solche, wenn sie im Internet unterwegs ist. Personenbezogen ist diese Adresse, weil es möglich ist, "die betreffende Person anhand der Zusatzinformationen, über die der Internetzugangsanbieter dieser Person verfügt, bestimmen zu lassen."
Micro-Targeting
Facebook schert das alles nicht. Die Firma sichert sich in ihren Nutzungsbedingungen – neben den Rechten an hochgeladenen Fotos und Beiträgen – vor allem alle Rechte zu, die sich als Daten aus der dynamischen Nutzung des eigenen Dienstes ergeben: "Wir erfassen Informationen darüber, wie du unsere Produkte nutzt, (…) über die von dir genutzten Funktionen, über die von dir durchgeführten Handlungen, über die Personen oder Konten, mit denen du interagierst, und über die Zeit, Häufigkeit und Dauer deiner Aktivitäten. Zum Beispiel protokollieren wir, wenn du unsere Produkte gerade nutzt bzw. wann du diese zuletzt genutzt hast, und welche Beiträge, Videos und sonstigen Inhalte du dir in unseren Produkten ansiehst. Wir erfassen auch Informationen darüber, wie du Funktionen wie unsere Kamera nutzt."
ForscherInnen wie Michal Kosinski, Samuel Gosling, Sandra Matz und andere haben in den vergangenen Jahren herausgefunden, aus wie wenigen Likes ein Algorithmus beispielsweise ein dichtes, individuelles Profil innerhalb des "Big Five"-Modells erstellen kann. Mithilfe dieses Modells lässt sich ein Charakter über die jeweilige Ausprägung von fünf unabhängigen Merkmalsfeldern ausdrücken. Diese umfassen "Offenheit für Erfahrung, Gewissenhaftigkeit, Extrovertiertheit, Freundlichkeit und Neurotizismus".
Das Entscheidende daran ist nicht so sehr, dass eine lebendige Person, die NutzerIn, auf ein Persönlichkeitsmodell reduziert wird. Entscheidend sind die Datenmassen, mit denen das Modell ausgestattet ist: Sie ermöglichen Aussagen mit statistisch hoher Wahrscheinlichkeit darüber, was die NutzerIn in der Zukunft tun wird – zum Beispiel, wenn sie mit politischen Botschaften konfrontiert wird, die sie bislang noch nie gesehen hat.
Das eigentliche Problem: Datenarbeit & Dateneigentum
In ihrer Regierungserklärung fragt Merkel: "Wird der Einzelne auf neue Weise ausgebeutet, weil die Daten privaten Monopolen (…) gehören?"
Datenarbeit
"Facebook ist mehr als eine Plattform für Sozialität oder eine bestimmte Organisationsform der Infosphäre. Im Wesentlichen ist es eine Produktionsweise – eine Art und Weise, Menschen zum Arbeiten zu bringen, die den Wert generieren, der es der Plattform erst ermöglicht, all die anderen Funktionen zu erfüllen, die man ihr zuschreibt."
"In der fordistischen Epoche der kapitalistischen Produktion, also in der Zeit der industriellen Fließbandarbeit, war Arbeitszeit Zeit der Mühen (…), während die Freizeit, wie Herbert Marcuse in den 1950er Jahren festhielt, ‚die Zeit des Eros‘ war. Im zeitgenössischen Kapitalismus laufen Spiel und Arbeit, Eros und Thanatos, Lustprinzip und Todestrieb mehr und mehr zusammen, indem von Arbeitern erwartet wird, dass sie während der Arbeit Spaß haben, während das Spielen produktiv und arbeitsähnlich wird. Spiel- und Arbeitszeit überschneiden sich, und die ganze menschliche Zeit der Existenz wird tendenziell für die Kapitalbildung ausgenutzt. Die Ausbeutung von Facebook-Arbeit ist ein Ausdruck dieser Veränderungen in der kapitalistischen Produktion und der damit verbundenen Transformation der Triebstruktur."
Die Soziologin Carolin Wiedemann hat in ihrer Analyse des "Subjektivierungsregimes" auf Facebook den Aspekt stark gemacht, dass auf dieser Plattform alle User sich, ob sie wollen oder nicht, zu Unternehmern mausern müssen, um in ihren Profilen und Postings gut dazustehen. "Drücke dich aus: Richte dein Facebook-Profil ein. (…) Welche Informationen zeigen am besten, wer du bist?"
Dateneigentum
Angela Merkel geht es auch um neue Märkte, zur Lösung jenes "zentralen Gerechtigkeitsproblems" (erstaunlich: weder EU noch BMVI erwähnen diesen Aspekt). Allerdings: Daten sind keine Kartoffeln. Daten sind nichts Anfassbares, nichts Körperliches, keine Sachwerte mit "Habenstruktur"
Die Gutachter des BMVI wissen, trotz aller Befürwortung, wie juristisch prekär der Begriff des Dateneigentums bleibt. Ihnen geht es daher mehr um "Förderung des Bewusstseins, dass Daten ein marktfähiges Gut sind: Damit insbesondere Nutzer von Online-Diensten wirklich privatautonom über die Freigabe und Preisgabe ihrer Daten entscheiden können."
Prädikatives Persönlichkeitsprofil statt freies Subjekt
Aber so gut und weltweit anerkannt der Europäische Datenschutz dasteht, er kann die Asymmetrie in den Daten der Konnektivitätsmedien nicht beheben. Eigentumsveräußerung böte vielleicht ein Entgelt als Ausgleich, ähnlich würde möglicherweise auch Lohn für immaterielle Arbeit oder für "Playbour" wirken. Näher besehen aber sind dies Modelle, die an der Wirklichkeit – aus unterschiedlichen ideologischen Gründen – vorbeigehen. Denn was genau ist das "zentrale Gerechtigkeitsproblem der Zukunft", das Merkel anspricht?
Wir können es analytisch nunmehr genauer benennen: Die Umdeutung der Userdaten auf Facebook oder Google
Dagegen hilft nur, was in der Industriegeschichte der USA bereits über 270 Mal geschehen ist:
Nimmt man das Microsoft-Urteil als Referenz, so gibt es für den operativen Weg einer Entflechtung von Google und Facebook die Möglichkeit, das Front-End vom Back-End der Applikationen jeweils unternehmerisch zu trennen. Die Google-Suche zeigt bekanntlich eine Such- und eine Ergebnisseite; letztere ist das Front-End. Das Back-End von Google sind die "Crawler" und "Spider", die das Netz durchsuchen, indizieren und gewichten, das sind die Datenbanken, aus denen sich in Millisekunden das Front-End bei der Antwortliste speist.
So wie der US-Bundesrichter Thomas Penfield Jackson 2000 entschied, dass Microsoft geteilt werden solle in eine Firma, die nur Betriebssysteme herstelle, und eine weitere, die alle anderen "Office"-Applikationen entwickelt, so müssten Google und Facebook zerteilt werden in eine Firma, die verkauft, was die NutzerIn sieht, und eine, die die Verarbeitung der Daten und die Micro-Targeting-Profile anbietet. Damit würde zum ersten Mal der Datensatz einer NutzerIn (aus dem Front-End) ersichtlich. Wir würden eine genormte Schnittstelle kennenlernen und würden auf diese Weise Transparenz gewinnen, die auf keinem anderen regulatorischen Weg sicher herstellbar ist: Nämlich wie unsere Daten tatsächlich transferiert werden und wie der Datensatz aussieht, der unser Persönlichkeitsprofil repräsentiert. Der grundlegende Gedankengang dabei ist, dass man als Nutzer Wahlfreiheit gewänne, welcher Firma man seine Daten anvertraut, und dann potenziell auch, dass verschiedene Firmen unterschiedliche Ausmaße der Datennutzung anbieten können. Wir würden durch Konkurrenz Klarheit erzeugen und mit ihr das "zentrale Gerechtigkeitsproblem der Zukunft" mildern.