Einleitung
Noch vor fünf Jahren haben die beiden Autoren dieses Beitrags relativ hoffnungsvoll von der Reformfähigkeit am "Standort Deutschland" gesprochen.
Mit Blick auf die 1998 von uns aufgestellte Liste der Schwächen des "Modells Deutschland" ist festzuhalten, dass aus heutiger Sicht kein Einziger der monierten Punkte als erledigt angesehen werden kann.
Selbst den Ruf als "Reiseweltmeister" droht Deutschland zu verlieren. Es liegt auf der Hand, dass der Mangel an Reformwillen und Reformtempo die magere ökonomische Performanz beeinflusst. Während so unterschiedliche Länder wie Schweden oder Großbritannien heute die Früchte großen Veränderungswillens ernten können, werden deutsche Wahlkämpfe mit dem Versprechen geführt, Reformen seien entweder nicht nötig oder weitgehend kostenlos zu haben. Diese Unbeweglichkeit legt das Bild von einem Land nahe, das wie gefesselt erscheint und auf die Herausforderungen in seiner Umwelt nur noch zeitlupenhaft reagieren kann. Die wichtigsten dieser "Fesselungskräfte" sollen im Folgenden etwas genauer betrachtet werden: die Komplexität eines im Verlauf von 50 Jahren ausgebauten und verästelten Systems namens "Modell Deutschland", die Machtbalance der bundesrepublikanischen politischen Institutionen und die Eigenheiten der seit 1998 auf der Bundesebene politisch verantwortlichen Akteure. Abschließend werden die gegenwärtigen Reformchancen eingeschätzt.
I. Reformwillen und Systemkomplexität
Alle Anzeichen sprechen dafür, dass die rot-grüne Koalition 1998 mit einem großen Reformwillen in die Regierungsgeschäfte eingestiegen war. Dass bereits drei Jahre später die "Politik der ruhigen Hand" zumindest vorübergehend als Leitlinie ausgegeben wurde, verweist darauf, dass der ursprüngliche Reformeifer im Verlauf der Regierungsarbeit gebrochen wurde, jedenfalls abhanden kam. Unsere These lautet, dass dies primär nicht den Strategieentscheidungen bestimmter Personen, sondern der "Macht der Verhältnisse" geschuldet ist. Regierungen müssen sich in ihrer Arbeit nur noch selten mit der Gestaltung ungeregelter Verhältnisse befassen, dafür haben sie es um so häufiger mit den Folgen selbst (oder durch die Vorgängerregierung) erlassener Gesetze und Entscheidungen zu tun. Als Summe hundertfacher Einzelentscheidungen ist im Laufe der Zeit ein System hoher Komplexität entstanden, das mit jeder Satzung, jedem Erlass ständig noch verfeinert und angereichert wird.
Seine extremste Ausformung dürfte in der derzeitigen Steuergesetzgebung zu beobachten sein. Die Sozialversicherungen gleichen einem undurchsichtigen Verschiebebahnhof. Wie Trampusch ausführt,
Trotz einer lautstarken Opposition und intensivem Lobbying der Interessenverbände beschleicht einen mehr und mehr die Vermutung, dass der wahre Gegner regierungsseitigen Reformwillens nicht die politischen Opponenten sind, sondern das System von Regelungen, Satzungen und Gesetzen selbst, das insgesamt das "Modell Deutschland" ausmacht. Dieses System gebiert den Anpassungsbedarf (z.B. in der Rentenversicherung) und damit den politischen Handlungsbedarf (Veränderung des Beitragssatzes zur Rentenversicherung) aus sich heraus, hält die Politiker in Atem und gibt ihnen die Illusion, produktive Politik zu machen. Manche Regelungen - wie z.B. der Kündigungsschutz - werden als so unveränderbar wahrgenommen, dass unter hohem Aufwand neue Möglichkeiten gesucht werden, um diese versäulten - d.h. als kaum noch veränderbar wahrgenommenen (wie z.B. das Berufsbeamtentum) - Regelungen zu umgehen. Selbst wenn - beispielsweise - der Kündigungsschutz einmal geändert werden sollte, stehen mit Bundesverfassungs-, Bundessozial- und Bundesarbeitsgericht weitere Veto-Akteure
Mit anderen Worten: Die Regierung versteht sich inzwischen teilweise selbst als Opposition innerhalb und gegen das eigene und das vorgefundene System. An Länge und Umständlichkeit zunehmende Gesetzesbezeichnungen
Nicht zufällig steigt angesichts der Systemkomplexität die Zahl eingesetzter Kommissionen, die aufgrund wissenschaftlicher Expertise gangbare Wege für politische Maßnahmen finden sollen. Aber noch interessieren sich die Regierung und ihre Kommissionen insgesamt zu wenig dafür, ob und in welcher Weise die von den Maßnahmen betroffenen Akteure - Steuerzahler, Unternehmen, Anspruchsberechtigte - strategisch auf neue Vorgaben reagieren und deren Absichten durchkreuzen könnten. Eine Ausnahme bildet der Berliner Senat, der neuerdings vor dem Einbringen neuer Gesetze die Vorhaben im Rahmen einer Gesetzesfolgenabschätzung von Experten prüfen lassen will.
Die Problemseiten des "Modells Deutschland" sind aus der Binnensicht allein sehr schwer zu erkennen. Gerade deshalb ist der genaue Blick auf die Lösungen unserer erfolgreicheren Nachbarn so wichtig.
II. Ein Modell mit eingebautem Reformstau
Schachpartien zwischen Spielern, die sich gut kennen, enden häufig mit einem Patt oder einemRemis. Solchen miteinander vertrauten Spielern entsprechen in der Politik die Interessengruppen, welche sich im "Modell Deutschland" im Laufe wiederholter Auseinandersetzungen ihre Zuständigkeitsräume und Einflusssphären erkämpft und abgesteckt haben. Die Politikwissenschaft kennzeichnet diesen Zustand als "korporatistischen Staat". In diesem ausbalancierten Machtgebäude nehmen die Verbände der Arbeitgeber und die der Arbeitnehmer (Gewerkschaften, Deutscher Beamtenbund etc.) eine hervorgehobene Stellung ein, da sie im Austausch mit der Bundesregierung und der Arbeitsverwaltung mit über die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen abstimmen und im Rahmen des "Bündnisses für Arbeit" wiederholt versucht wird, sie in das Regierungshandeln einzubinden. Dabei reicht ihr Einfluss weit über die unmittelbare Arbeitsmarktpolitik hinaus. So haben beide Seiten über die Jahre personalintensive Fortbildungswerke aufgebaut, deren Interesse am eigenen Fortbestand allein schon dazu beiträgt, radikale Reformen am Arbeitsmarkt eher zu verzögern. Ähnliches ließe sich für die korporativen Akteure in der Gesundheits- oder der Sozialpolitik sagen.
Franke
Für eine Regierung mit Reformabsichten ist eine engere Abstimmung mit Arbeitgebern oder Gewerkschaften somit attraktiv, da dies die Durchsetzbarkeit dieser Absichten erhöht. Für die Reform der Unternehmenssteuern näherte sich die Regierung zunächst den Unternehmerverbänden an und suchte im weiteren Verlauf der Legislaturperiode wieder engeren Anschluss an die Gewerkschaftsseite, um die Arbeitnehmerrechte bei der Mitbestimmung, der Arbeitszeitwahl und der befristeten Beschäftigung zu stärken. Dieser stärkere "Schulterschluss" mit den Gewerkschaften ist zumindest für die SPD von ihren historischen Wurzeln her erklärbar. Mit dieser Einbindung einer zentralen Interessengruppe mag das Regierungsboot vorerst die schlimmsten "Legitimationsklippen" umschifft haben - gleichzeitig steigen jedoch die Chancen, dass ein großer Verband, in dem Partikularinteressen organisiert sind, direkten Zugriff auf die zentralen politischen Reformentscheidungen erhält. Damit steigen aber auch die Chancen, eine neue Stufe absurder Ergebnisse reformintendierten Handelns zu erreichen. Die im Rahmen des "Hartz-Konzepts" vorgesehene Nutzung von Zeitarbeitsfirmen als "Brückenbauer" zum ersten Arbeitsmarkt droht vom gewerkschaftlichen Interesse an flächendeckenden und am Prinzip "Gleiche Arbeit - gleicher Lohn!" ausgerichteten Tarifverträgen untergraben zu werden. Sollte die Unterwerfung der Zeitarbeitsbranche unter die gewerkschaftliche Tariflohnpolitik tatsächlich zum einzig greifbaren Ergebnis der Umsetzung des "Hartz-Konzepts" geraten, so käme zumindest in diesem Fall der Reformstillstand im Kleid der Reform daher, und die Regierung geriete - wie der Zauberlehrling bei Goethe - in Gefahr, die Geister, die sie rief, nicht mehr loszuwerden.
III. Rot-Grün: viel Taktik, wenig Strategie
Bislang haben wir unter Bezugnahme auf Bestandteile und Folgewirkungen der deutschen "meso-korporativen Markwirtschaft" argumentiert. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Mit diesem Modell des "mittleren Weges"
Von 1998 an mangelte es der Regierung Schröder an einer längerfristig angelegten Programmatik. Die Rede vom "rot-grünen Projekt" blieb weitgehend eine solche; ebenso unscharf blieb das programmatische Ziel, die ominöse "Neue Mitte" anzusprechen. Da die Grünen zu ihrer Bindung an die SPD keine Alternativen sahen, war ihr Droh- und Innovationspotential gering. Der große Partner aber blieb unter einem gesellschaftspolitisch weitgehend desinteressierten Vorsitzenden im Zweifel auf Besitzstandswahrung fixiert. Der Kanzler hielt es mit seinem Mentor, Altbundesbundeskanzler Helmut Schmidt: "Wer Visionen hat, soll zum Augenarzt gehen." Tatsächlich müssen Pragmatismus und der ständige Blick auf die politische Stimmung weder ehrenrührig, noch zwangsläufig einer effektiven Politik abträglich sein. Anders sieht es in Zeiten des Umbruchs aus. Sie sind gekennzeichnet durch breite Ängste und Unsicherheiten in der Bevölkerung, da die abverlangten Reformopfer klar und spürbar sind, die künftigen Reformerträge aber ungewiss. Für den Einzelnen ist es zunächst rational, sich den Veränderungen zu verweigern, muss er doch befürchten, über Gebühr zur Kasse gebeten zu werden.
Dieses Reformdilemma kann durch politische Führung gelindert werden. Sie besteht darin, langfristige, über den Wahltag hinausreichende Orientierungen zu geben und aufzuzeigen, wie konkrete, auch schmerzhafte Einzelmaßnahmen sich zu einem Reformpaket bündeln, von dem mittelfristig die Mehrzahl der Bürger profitieren wird. Von einer solchen Überzeugungsarbeit war bei der Regierung Schröder bisher wenig zu spüren. Ein langfristiges gesellschaftspolitisches Ziel war hinter ihren rasch wechselnden Anstrengungen, jeweils aufbrechende Problematiken zu bearbeiten, nicht zu erkennen.
Mit seiner pragmatischen Orientierung und wahltaktischen Wendigkeit hat der Wahlkämpfer Schröder die Bundestagswahl 2002 noch einmal zu seinen Gunsten entscheiden können. Dies wurde dadurch begünstigt, dass auch Herausforderer Stoiber nicht mit einem echten Reformkonzept angetreten war.
Da beide Kandidaten kein Zeichen gesellschaftspolitischer Führungsfähigkeit gesetzt haben, darf das Ergebnis der Bundestagswahl somit nicht als ein Plebiszit gegen Reformen verstanden werden - aber auch nicht als Votum dafür! Es dürfte wohl eher die Grundüberzeugung der Wähler gewesen sein, die Opposition könne die Probleme des Landes auch nicht besser als die bisherige Regierung lösen, welche Rot-Grün eine zweite Chance beschert hat.
IV. Auswege aus dem Reformpatt?
Steigender Reformdruck führt nicht zwingend zu Reformen. Hölderlins schöner Satz, wo aber Gefahr ist, wachse das Rettende auch, gilt nicht für politische und soziale Systeme. Oft haben es sich ihre Akteure so eingerichtet, dass sich Beharrung mehr auszahlt als Veränderung. Ist mit obiger (Kurz-)Diagnose die Reformunfähigkeit Deutschlands besiegelt, die Lage aussichtslos? Es fällt nicht schwer, den Zynismus angesichts des derzeitigen Regierungshandelns in neue Dimensionen zu treiben, doch bliebe es dabei, wäre dies gleichzeitig das Eingeständnis, selbst nicht weiter zu wissen und auf das Bemühen um die Zukunftsgestaltung zu verzichten. Gegen diesen Reformfatalismus versuchen wir Stellung zu beziehen. Die Überlegungen stützen sich weniger auf die Hoffnung auf einsichtige Akteure, sondern mehr darauf, dass strukturelle Veränderungen - wie z.B. bei den Grundlagen des Parteienwettbewerbs - neue Reformchancen eröffnen.
Parteien reagieren in erster Linie auf reale oder drohende Wahlniederlagen. Die Beschränkungen, die vom Kampf um Wählerstimmen auf eine innovative Wirtschaftspolitik ausgehen, scheinen in der Bundesrepublik besonders groß.
Während regierungsseitig vieles dafür spricht, dass die rot-grüne Koalition ihre Regierungsfähigkeit mittels Umsetzung von Reformen unter Beweis stellen muss, um zukünftig überhaupt noch Wahlchancen zu haben, stellt sich für die Union das alte "Dilemma der Opposition"
Hinzu kommt, dass jüngst gerade unter den Hochqualifizierten die Arbeitslosigkeit stark gestiegen ist. Diese Bevölkerungsgruppe verfügt über einen besseren Zugang zu den Massenmedien als Arbeiter und angelernte Kräfte. Deshalb ist zu erwarten, dass Arbeitslosigkeit in den Medien wieder mehr Beachtung finden und den Ruf nach Reformen verstärken wird. Eine neue Protestbereitschaft mittelständischer Unternehmer hat sogar die von Stoiber nicht für möglich gehaltenen Demonstrationen - mit mehreren tausend Teilnehmern - gegen Lohnnebenkosten, Steuerabgaben und Bürokratie Wahrheit werden lassen.