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Die Jugend von gestern - und die Senioren von morgen | Ältere Menschen | bpb.de

Ältere Menschen Editorial Die Jugend von gestern - und die Senioren von morgen Dynamik der demografischen Alterung, Bevölkerungs-Schrumpfung und Zuwanderung in Deutschland Der Alters-Survey: Die zweite Lebenshälfte im Spiegel repräsentativer Daten Betriebliche Sicht- und Verhaltensweisen gegenüber älteren Arbeitnehmern Das Alter(n): Gestalterische Verantwortung für den Einzelnen und die Gesellschaft Eine Dokumentation in Auszügen aus dem Schlussbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages

Die Jugend von gestern - und die Senioren von morgen

Ursula Lehr

/ 9 Minuten zu lesen

Wir leben in einem alternden Volk. Immer mehr ältere Menschen stehen immer weniger jüngeren gegenüber.

Einleitung

Wir leben in einem alternden Volk, ja in einer alternden Welt. Immer mehr ältere Menschen stehen immer weniger jüngeren gegenüber. So waren in Deutschland im Jahr 2000 24 % der Bevölkerung 60 Jahre und älter, aber nur 21 % jünger als 20 Jahre. Im Jahr 2030 wird der Anteil der über 60-Jährigen (35 %) etwa doppelt so hoch sein wie jener der unter 20-Jährigen (17 %). Aber auch der Anteil der über 80-, 90- und Hundertjährigen nimmt zu. Der prozentuale Anteil der über 80-Jährigen wird sich in den nächsten 20 Jahren verdoppeln; er steigt von 3,6 auf 7,4 %, um im Jahr 2050 13,2 % erreicht zu haben. Zurzeit leben in Deutschland knapp 10 000 Hundertjährige und Ältere; im Jahre 2025 werden es bereits 44 000 und im Jahre 2050 sogar über 114 000 sein, so der "World Population Aging"-Bericht 1950-2050 der Vereinten Nationen.

Während sich die meisten Menschen darüber freuen, dass sie selbst und ihre Angehörigen eine höhere Lebenserwartung haben, wird auf der gesellschaftlichen Ebene genau dieselbe Entwicklung für vielfältige negative Trends verantwortlich gemacht. So spricht man mittlerweile von "Rentenlast" und "Pflegelast" und beklagt das "Langlebigkeitsrisiko". Ältere Menschen werden verantwortlich gemacht für finanzielle Schwierigkeiten in den Renten-, Kranken- und Pflegekassen.

Der demographische Wandel: "Überalterung" oder "Unterjüngung"?

Zunächst einmal ist festzustellen, dass der demographische Wandel nicht nur durch die längere Lebenserwartung, sondern auch durch den Rückgang der Geburtenzahlen bedingt ist. Und daran sind unsere heutigen Seniorinnen und Senioren gewiss nicht schuld. Sie haben zwei, drei und manchmal mehr Kinder auf die Welt gebracht, trotz Krieg und schwieriger Nachkriegszeit, trotz Hungers- und Wohnungsnot sowie sehr trister Zukunftsaussichten damals. Sie haben ihre Kinder groß gezogen - ohne Azubi-Gehalt und BAföG (im Gegenteil, sie mussten auch für die Lehre ihrer Kinder noch selbst zahlen). Von den 1950 geborenen Frauen blieben nur 11 % kinderlos, von den 1960 Geborenen sind es bereits 22 % und von den 1965 Geborenen werden nach Hochrechnungen 35 % kinderlos bleiben. Der demographische Wandel, das Altern unseres Volkes, ist also zum größten Teil durch die mittlere und jüngere Generation ausgelöst. Wir haben keine "Überalterung" (wo ist hier die Norm?), sondern eine "Unterjüngung" durch zu wenige Kinder!

Das Ja zum Kind fällt den jüngeren Frauen und Männern heute offenbar schwer. Hier wirken viele Gründe zusammen: Einmal sind es die besseren Möglichkeiten der Familienplanung (Pille), sodann haben Kinder ihren "instrumentellen Charakter" verloren (Kind als Arbeitskraft, Kind für die persönliche Alterssicherung, Kind als "Stammhalter", als Namensträger). Außerdem werden in der Politik Kinder häufig nur als "Kostenfaktor" diskutiert; es wird viel zu wenig herausgestellt, dass Kinder neben allen Lasten auch Freude machen, das persönliche Leben bereichern. Sicher spielen die Unsicherheit in Bezug auf Erhalt des Arbeitsplatzes, die Angst vor Arbeitslosigkeit sowie ungünstige Wohnverhältnisse auch eine Rolle neben anderen. Bessere Möglichkeiten zu schaffen, Familie und Beruf miteinander vereinbaren zu können, wäre hier effektiver als nur finanzielle Unterstützung.

Ein weiterer Grund ist die gesellschaftliche Akzeptanz von Ehen ohne Trauschein, die das Heiratsalter oft bis ins vierte Lebensjahrzehnt hinein verschiebt. Hier sind schon aus biologischen Gründen einem Kinderreichtum Grenzen gesetzt. Schließlich liegt heute - im Gegensatz zu den Zeiten unserer Mütter und Großmütter - zwischen dem Verlassen des Elternhauses und der Heirat eine längere Phase des selbständigen Alleinwohnens, die sicher der individuellen Entwicklung zugute kommt, in der sich eigene Lebensstile, eigene Gewohnheiten bilden und verfestigen, die eine Anpassung schon an einen Partner, erst recht aber an Kinder zweifellos erschweren. So werden wir wohl auch in Zukunft nicht mit einer erheblichen Steigerung der Geburtenrate rechnen können.

Der demographische Wandel als Ursache des Dilemmas - eine einseitige Schuldzuweisung

Die zunehmende Langlebigkeit der Älteren einerseits und die abnehmende Geburtenrate bei den Jüngeren andererseits werden vielfach für das Rentendilemma verantwortlich gemacht ("wer soll die Renten für morgen erarbeiten?"). Doch hier sind auch gesellschaftliche, soziale und wirtschaftliche Faktoren mit zu berücksichtigen. Die Ausdehnung der Jugendzeit und die Vorverlegung des Seniorenalters trotz besserer Gesundheit und vorhandener Kompetenz führt zu einer Schrumpfung des eigentlichen aktiven mittleren Erwachsenenalters. Zunächst einmal haben wir eine verlängerte Jugendzeit: Nicht mit 15 Jahren tritt man in das Berufsleben ein, sondern viele Jahre später. Bei der anteilsmäßig immer größer werdenden Gruppe der Studierenden ist ein Berufseintritt an der Schwelle des 30. Geburtstages keine Seltenheit. Erst dann zahlt man voll in die Renten- und Krankenkassen ein.

Umgekehrt sieht es mit dem Ausscheiden aus dem Beruf aus; hier ist das reguläre Rentenalter von 65 Jahren mittlerweile die große Ausnahme. Viele Betriebe kennen keinen über 55- oder gar 50-jährigen Mitarbeiter mehr. Interessanterweise wird die Begründung, dass sich 50-Jährige als wenig flexibel und eingeschränkt leistungsfähig erweisen, oft von Menschen geäußert und im wirtschaftlichen Alltag durchgesetzt, die vom Alter her selber unter ihr eigenes Diktum fallen würden. Aber möglicherweise gelten solche Aussagen immer nur für andere und man ist selber die Ausnahme. Im Jahr 2001 standen nur 36,8 % aller 55- bis 64-Jährigen in Deutschland im Erwerbsleben, während es beispielsweise in Norwegen 67,4 %, in der Schweiz und in Schweden 67,1 % waren. Mancher 55-Jährige und ältere würde gerne in die Rentenkassen einzahlen und nicht aus der Rentenkasse seinen Lebensunterhalt beziehen, wenn er nur Arbeit hätte.

Beide problematischen Faktoren zusammen - später Berufsanfang und frühes Berufsende - führen zu erheblichen Belastungen der Sozialkassen. Insofern ist der demographische Wandel nur ein, wenn auch wichtiger Aspekt für die Zukunftsfähigkeit unseres Sozialstaates. Andere - politisch durchaus gestaltbare Faktoren - spielen mindestens eine ebenso bedeutsame Rolle, wie zum Beispiel

- eine Wirtschaftspolitik, die Arbeit schafft;

- eine Bildungspolitik, die bei kürzeren Ausbildungszeiten zu beruflichen Qualifikationen führt, die auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt werden;

- eine kontinuierliche Personalplanung mit über das ganze Berufsleben verteilter Fortbildung, die ältere Arbeitnehmer im Arbeitsleben behält anstatt sie "freizusetzen".

Wir sind heute länger jung und früher alt (gemacht!) - und das auf Kosten des eigentlichen Erwachsenenalters! Bis 35 zählt man als "Jugendlicher", kann man in den Jugendgruppen aller Parteien tätig sein; ab 45 ist man dann schon "älterer Arbeitnehmer"; ab 50 gilt man schon als "zu alt" und hat keine Berufschancen mehr, und mit "55plus" wird man zu den Senioren abgeschoben - obwohl man weit gesünder und kompetenter ist, als es unsere Eltern und Großeltern waren! Wir beschneiden das eigentliche, aktive mittlere Erwachsenenalter von beiden Seiten und lassen es auf nur noch zehn bis 15 Jahre zusammenschrumpfen, ohne die immensen Folgen für die gesamte Gesellschaft - für Jung und Alt - zu bedenken!

Ein negatives Altersbild ist in unserer Gesellschaft - besonders in der Wirtschaft und Politik - immer noch weit verbreitet, trotz vieler Reden über die bedeutende Rolle älterer Menschen. Wie sehr wird jeder "Generationswechsel" gelobt, jede "Verjüngung der Mannschaft" gepriesen! Dabei brauchen wir doch in der Gesellschaft, in der Wirtschaft und auch in der Politik das Miteinander aller Generationen! Wir brauchen das Wissen, die Erfahrung, die Übersicht, die besonderen Problemlöse-Fähigkeiten der Älteren, die gleichzeitig sowohl die Möglichkeiten als auch die Grenzen erfassen und soziale Verknüpfungen erkennen.

Vom 3-Generationen-Vertrag zum 5-Generationen-Vertrag

Es gibt heute eine Vielzahl von Barrieren, die älteren Arbeitnehmern eine aktive Teilnahme am Erwerbsleben erschweren. Manche Regulierungen, die zum Wohl der Älteren gedacht waren, haben einen Bumerang-Effekt und erschweren die Situation derjenigen, die als 45/50-Jährige ihren Job verloren haben und arbeitslos sind. Das durchschnittliche Rentenzugangsalter liegt bei 59-60 Jahren. So ist es natürlich verständlich, dass die 25- bis 59-Jährigen, die im Arbeitsleben stehen, über zu hohe Belastungen klagen. Aus dem 3-Generationen-Vertrag ist ein 5-Generationen-Vertrag geworden: Die mittlere Generation zahlt manchmal für zwei Generationen, die noch nicht im Berufsleben stehen (mancher 30-jährige Student hat sein Kind im Kindergarten), und oft für zwei Generationen, die aus dem Berufsleben ausgeschieden sind. Vater und Sohn, Mutter und Tochter - beide im Rentenalter: Das ist keine Seltenheit heutzutage.

Doch diese belastete mittlere Generation sollte wenigstens bedenken, dass manche Rentner von heute gar nicht freiwillig in Rente gingen, sondern von Vorruhestand, Frühpensionierung, Altersteilzeit und dergleichen Gebrauch gemacht haben, um den Jüngeren einen Arbeitsplatz zu sichern. Dann darf man ihnen jetzt aber die "Rentenlast" nicht zum Vorwurf machen! Weiterhin bedenke man: Viele der heutigen Rentner waren 45 Jahre lang berufstätig - ein Zeitraum, den die jüngere Generation von heute nur sehr selten schaffen wird! Einige der älteren heutigen Rentner kannten noch die 60-Stunden-Woche, bestimmt aber die 48- und die 45-Stundenwoche! Heutige Rentner kennen den Samstag als vollen Arbeitstag und hatten bis 1957 einen tariflich festgelegten Jahresurlaub von zwölf (!) Tagen, Samstage mit einberechnet! Wer von den Jüngeren möchte damit tauschen? Heutige Senioren hatten weit weniger Bildungs- und Weiterbildungs-Chancen! Wir haben in unserem Land noch nie so viel für Bildung ausgegeben für die jüngere Generation wie heutzutage. Man sollte diese Unterschiede und das durch die jetzige Rentnergeneration für die Jüngeren Erarbeitete bei einem Generationenvergleich nicht verdrängen und vergessen.

Zunehmende Langlebigkeit - eine Herausforderung für jeden Einzelnen und die Gesellschaft

Unsere Gesellschaft, wir alle werden älter von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Jahr zu Jahr. Dass wir älter werden, daran können wir nichts ändern. Aber wie wir älter werden, das lässt sich schon beeinflussen! Es kommt ja nicht nur darauf an, wie alt wir werden, sondern wie wir alt werden: Es gilt, nicht nur dem Leben Jahre, sondern den Jahren Leben zu geben.

Altern ist ein lebenslanger Prozess. Wie wir uns als Kind, als Jugendlicher, als junger Erwachsener verhalten, das beeinflusst unseren Alternsprozess im Seniorenalter. Jeder Einzelne hat alles zu tun, um möglichst gesund und kompetent alt zu werden. Damit erhöht er nicht nur seine eigene Lebensqualität im Alter, sondern auch die seiner Angehörigen, seiner Familie - und spart letztendlich der Gesellschaft Kosten. Aber auch die Gesellschaft sollte sich hier verantwortlich fühlen und Möglichkeiten zu einem gesunden, kompetenten Altern nicht gerade einschränken. Das es vor allem aber auch ganz stark darauf ankommt, schon in jungen Jahren die Fähigkeiten zu entwickeln, sich mit Stress und Belastungen auseinander zu setzen, damit adäquat umzugehen, das vergisst man gerne. Und wir werden uns sogar zu fragen haben, ob manche gut gemeinten Erziehungsweisen, die von dem Kind und Jugendlichen Stress und Belastungen fern halten wollen, die ihnen alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumen, ihnen damit letztendlich die Chance nehmen, aktive Auseinandersetzungsformen mit Problemen einzuüben.

Darüber hinaus hat Wohlbefinden im Alter etwas mit "Gebraucht-werden" zu tun. Dazu gehören berufliche und familiäre Aufgaben, aber auch das Engagement für andere. Dieses wird von Seniorinnen und Senioren besonders ernst genommen. Viele Vereine, viele Pfarrgemeinden und auch die politischen Parteien müssten einen großen Teil ihres Angebotes streichen, wenn nicht ältere Menschen aktiv und selbstverständlich einen großen Beitrag leisteten. Doch ein "soziales Pflichtjahr" für Senioren, wie gelegentlich gefordert, ist kein Beitrag zur Lösung des Problems. Solange man ältere Menschen trifft, die sich in Beruf und Ehrenamt engagieren wollen und dies mangels Gelegenheit nicht können, erübrigen sich solche Vorschläge ohnehin.

Gesellschaft gestalten mit der älteren Generation

Jeder, der alt ist, war einmal jung. Die Jungen wollen alt werden (wenn auch oft nicht alt sein). Das heißt: Alt und Jung sind auch die Jugend von gestern und die Senioren von morgen. Allein daraus sollte sich schon selbstverständlich eine Solidarität der Generationen ergeben. Noch gibt es sie sowohl in den Familien als auch in der Gesellschaft, wie viele Untersuchungen belegen. Aber dieser Zusammenhalt ist durchaus gefährdet. Gerede über einen Generationenkampf oder Schuldzuweisungen für soziale oder finanzielle Probleme an eine Altersgruppe können die Solidarität der Generationen durchaus beeinträchtigen. Solange sich "Anti-Aging" nur gegen Falten wendet, mag es zwar (sprachlich) souverän, aber unproblematisch sein. Für den Zusammenhalt unserer Generationen ist jedoch - nicht zuletzt auch im Interesse der Jüngeren - eine positivere Einstellung zum Älterwerden und damit auch zu den Älteren notwendig!

Prof. Dr. phil. Dr. h. c., geb. 1930; 1988 bis 1991 Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit; Ehrenmitglied vieler internationaler wissenschaftlicher Gesellschaften für Psychologie und für Gerontologie/Geriatrie.

Anschrift: Am Büchel 53b, 53173 Bonn.
E-Mail: E-Mail Link: Ursula.Lehr@t-online.de


Veröffentlichungen u.a.: (Mitautorin) Altern in unserer Zeit, Stuttgart 1992; (Mitautorin) Aspekte der Entwicklung im mittleren und höheren Lebensalter, Darmstadt 2000; Psychologie des Alterns, Wiesbaden-Heidelberg 2003(10).