Einleitung
Dieter Borkowski, in den Gründerjahren der Freien Deutschen Jugend (FDJ) einer der Mitarbeiter von deren Vorsitzendem Erich Honecker, war als ehrenamtlicher Funktionär am 16. Juni 1953 in das Gebäude des FDJ-Zentralrats in Berlin beordert worden, um es gegen "Überfälle von Konterrevolutionären" zu sichern.
Im Politbüro ging die vergebliche Hoffnung, die Demonstranten würden es mit der Kundgebung vor dem Haus der Ministerien belassen, mit existentiellen Ängsten und Hilflosigkeit einher. Die SED-Führung versuchte zunächst, die auch in den Bezirken von Partei- und FDJ-Funktionären verfolgte Berichterstattung des RIAS als übertrieben darzustellen und abzuwiegeln.
Die Berichterstattung am 16. und 17. Juni
Die Initialzündung zur Explosion des Pulverfasses lieferten nicht westliche "Agentenzentralen", sondern am 16. Juni ein Zeitungsartikel von Otto Lehmann, dem Sekretär des FDGB-Bundesvorstandes, im Gewerkschaftsorgan "Tribüne". Er stellte unmissverständlich fest, die vom Politbüro und dem Ministerrat am 9. und 11. Juni beschlossenen Normenerhöhungen seien "in vollem Umfang richtig" und zu befolgen.
Hanns-Werner Schwarze, damals Leiter der Nachrichtenabteilung des RIAS, erstattete am 23. Juni einen zusammenfassenden Bericht über die Informationssendungen zum Verlauf des Aufstands.
Drei Stunden später, um 16.30 Uhr, berichtete der RIAS als erster deutscher Sender eingehend über den Demonstrationszug durch Ost-Berlin und die Vorgänge am Haus der Ministerien. Nach der nächsten ausführlichen Informationsendung um 19.30 Uhr wurde in den folgenden 24 Stunden in jeder Nachrichtensendung eine Meldung über eine von der Chefredaktion redigierte und abgeschwächte Resolution von Ost-Berliner Bauarbeitern gebracht. Diese waren am Nachmittag im Funkhaus erschienen, um ihren Text selbst vor dem Mikrofon zu verlesen und zum Generalstreik aufzurufen. Dies untersagte jedoch telefonisch der Hochkommissar der Vereinigten Staaten in Deutschland, James B. Conant, dem amerikanischen RIAS-Direktor Gordon A. Ewing. An dieses Verbot musste sich auch der West-Berliner DGB-Vorsitzende Ernst Scharnowski in seiner mehrfach über den RIAS verbreiteten Solidaritätserklärung an die Adresse der Demonstranten halten. Deshalb blieb es bei einer indirekten Wiedergabe der Bauarbeiter-Resolution, in der es unter anderem hieß: "Die Arbeiter werden von der Möglichkeit [zu streiken, G. H.] jederzeit wieder Gebrauch machen, wenn die Organe des Staates und der SED nicht unverzüglich folgende Maßnahmen einleiten: erstens, Auszahlung der Löhne nach den alten Normen schon bei der nächsten Lohnzahlung, zweitens, sofortige Senkung der Lebenshaltungskosten, drittens, freie und geheime Wahlen, viertens, keine Maßregelung der Streikenden und ihrer Sprecher." Ab 22 Uhr begann der RIAS auch über widerständiges Verhalten in den DDR-Bezirken zu berichten, was in den anderen westlichen Medien anfangs völlig unterblieb. Die halbstündlichen Nachrichtensendungen des RIAS am 17. Juni waren ausschliesslich den Ereignissen in Ost-Berlin und in der DDR gewidmet. Hinzu kamen Solidaritätsbekundungen bundesdeutscher Politiker und Gewerkschaftler. Abschließend vermerkte Hanns-Werner Schwarze in seinem Tätigkeitsbericht: "Bis zum 20. 6. einschliesslich nahm die Berichterstattung über die Vorgänge und ihr Echo 90 Prozent aller unserer Nachrichtensendungen ein, während andere Rundfunksender schon längst zur 'Tagesordnung' übergegangen waren. Die Sondersendungen, mit deren Hilfe unsere Hörer stündlich, beziehungsweise später alle 90 Minuten über die Geschehnisse informiert wurden, sind erst am Sonntag, dem 21. 6., wieder eingestellt worden."
Das Berliner Studio des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR) und dessen Hamburger Redaktion hielten sich am 16. Juni in ihrer Berichterstattung und Kommentierung noch merklich zurück, denn ein Aufstand gegen das SED-Regime erschien vielen westlichen Beobachtern immer noch unvorstellbar. Man glaubte - wie zunächst auch Bundeskanzler Konrad Adenauer - eher den Spekulationen einiger Nachrichtenagenturen und Zeitungen, wonach die Demonstration am Morgen des 16. Juni von der SED oder den Sowjets inspiriert und gelenkt worden, jedoch außer Kontrolle geraten sein könnte - eine These, die der "Spiegel" noch in seiner Ausgabe vom 22. Juni vertrat.
In West-Berlin erschienen am Nachmittag des 16. Juni die ersten, teilweise gratis verteilten Extrablätter. Die Schlagzeilen der Tageszeitungen vom 17. Juni lauteten: "Ostberlin in Aufruhr - Demonstrationen bis in die Nacht - Tausendfacher Ruf: Freie Wahlen" ("Telegraph") oder "Ostsektor heute in hellem Aufruhr - Rotarmisten fahren mit Panzern auf - Empörte Arbeiter lynchen SED-Funktionär - Vopo fährt mit Lkw in die Menge" ("Kurier"). Das "Neue Deutschland" konterte am selben Tag mit einem kurzen Bericht über "Provokationen von westberliner Kriegshetzern im demokratischen Sektor Berlins". Dieser Kurzbericht war zwar auf der ersten Seite platziert, befand sich jedoch unter einem langatmigen Artikel über die Parteiaktivtagung vom Vorabend und neben der Erklärung des Politbüros zur Rücknahme der Normenerhöhung. Im ND-Bericht fand sich erstmals die in der DDR-Publizistik anschließend bis zum Überdruss strapazierte Sprachregelung, nach der "Gruppen von aus Westberlin eingeschleusten Provokateuren" "Zwischenfälle" verursacht hätten, "um die angestrebte Verständigung zwischen den Deutschen zu torpedieren". Dabei hätten sich die "Agenten" eines Teils der Berliner Bauarbeiter bedient und sie zu einer Demonstration veranlasst. Am Abend seien dann "große Gruppen faschistischer Jugendlicher aus Westberlin in den demokratischen Sektor" eingedrungen. Sie hätten versucht, Zerstörungen in der Stalinallee anzurichten, wogegen die Bevölkerung gemeinsam mit der Volkspolizei eingeschritten sei. Fazit des ND-Berichts: "Die Auffassung, daß man im demokratischen Sektor ungestraft randalieren kann, erwies sich als irrig."
Da sich die DDR-Hörfunksender über den Gang der Ereignisse zunächst in Schweigen hüllten, war die Bevölkerung vor allem auf die in weiten Teilen des Landes zu empfangenden RIAS-Sendungen angewiesen. Nach amerikanischen Schätzungen sollen damals 70 Prozent der Ostdeutschen RIAS-Hörer gewesen sein.
Das DDR-Fernsehen reagierte am 17. Juni überhaupt nicht auf die Tagesereignisse. Der "Aktuellen Kamera" folgte im Abendprogramm der zwölfminütige Film "Erbauer des besseren Morgen: Erwin Fenskes Brigade ist auf dem richtigen Wege", danach der Spielfilm "Die lustigen Weiber von Windsor" und eine Nachtmusik. Die erste Reaktion auf den Volksaufstand bestand am 18. Juni aus einem Kommentar Karl-Eduard von Schnitzlers, der zwar "grobe Fehler bei der Normenerhöhung" einräumte, aber zugleich von "gekauftem Abschaum der West-Berliner Unterwelt" sprach, der einen "Anschlag auf die Existenz, auf die Arbeitsplätze, auf die Familien unserer Werktätigen versucht" habe. Am 17. Juni strahlte die "Tagesschau" ein Interview mit dem Vorsitzenden der Ost-CDU Otto Nuschke aus. Er war während einer Inspektionsfahrt durch den Ostsektor mit seinem Wagen von Demonstranten an der Oberbaumbrücke in den amerikanischen Sektor Berlins abgedrängt worden. Daraus ergab sich eine wohl einzigartige Gemeinschaftsarbeit zwischen dem Berliner NWDR-Fernsehteam und dem RIAS-Reporter Peter Schultze. Da es technisch noch nicht möglich war, Bild und Ton synchron aufzunehmen, unterlegte man den Film mit dem Ton des RIAS-Interviews. Nuschke bestätigte darin, der "Tribüne"-Artikel vom 16. Juni sei der "Zünder" für die "Erregungswelle" gewesen.
Die RIAS-Legende
Ostdeutsche Autoren behaupteten bis zum Ende der DDR, der "Tag X" sei von "imperialistischen Regierungen und Geheimdiensten lange und gründlich vorbereitet" und insbesondere vom RIAS organisiert worden. Der Sender habe offen und unverschlüsselt Direktiven zur Durchführung des "konterrevolutionären Putsches" an seine hauseigenen Spione verbreitet.
Die Rolle als wichtigstes Kommunikationsmedium der DDR-Bevölkerung, die der RIAS beim Juni-Aufstand im Wesentlichen allein zu spielen hatte, ähnelt derjenigen der bundesdeutschen Fernseh- und Hörfunksender während der demokratischen Revolution im Herbst 1989. Diese wurde deshalb gelegentlich abwertend als "Medienrevolution" bezeichnet. Geflissentlich übersah man dabei, dass die Westmedien 1953 wie 1989 lediglich ihrer Informationspflicht nachkamen; die Gründe für den Ausbruch des Volkszorns lieferten jedoch ausschließlich die Verantwortlichen im DDR-Partei- und Staatsapparat. Die mehrfache RIAS-Ausstrahlung der Mahnung des Bundesministers für gesamtdeutsche Fragen Jakob Kaiser "an jeden Bewohner der Sowjetzone",
Die von der SED-Propaganda verbreitete Legende vom angeblich extern geplanten Juni-Aufstand löste sich nach der Öffnung der DDR-Archive in Luft auf. Die SED-Führung wusste vom MfS, dass es keine Fernsteuerung gegeben hat. Zutreffend ist indes: "Einzig der RIAS bleibt unfreiwillig als 'Täter' übrig: Seine politisch zwar abwiegelnde, aber intensive und sympathisierende Berichterstattung mobilisierte die Provinz."
So grotesk es angesichts der SED-Propagandafloskeln auch klingen mag - ausgerechnet am 16. Juni 1953, als RIAS-Direktor Gordon A. Ewing mit der Koordinierung der Berichterstattung vollauf ausgelastet war, musste er Abgesandten des Senators Joseph McCarthy erklären, dass er keinen "unamerikanischen Umtrieben" Vorschub geleistet hatte. Man hielt Ewing unter anderem fälschlicherweise vor, er habe Trauermusik nach der RIAS-Meldung über Stalins Tod am 5. März 1953 auflegen lassen.
"Tauwetter"-Episode
In den ersten Tagen und Wochen nach dem Volksaufstand fand in den DDR-Medien vor dem Hintergrund des Machtkampfes im SED-Politbüro ein absurdes Schauspiel statt. Es spielte sich auf drei Ebenen ab: Zum einen publizierte man eine Fülle von teilweise manipulierten Ergebenheitsadressen an die Partei, unterzeichnet von prominenten Künstlern und Wissenschaftlern sowie von Arbeitskollektiven. Zum anderen strickte man hartnäckig an der Legende, westliche "Agentenzentralen" hätten Schlägertrupps gezielt nach Ost-Berlin geschickt, um den Aufstand auszulösen. Zahlreiche Presseberichte über verhaftete und verurteilte "westberliner Provokateure" sollten dies belegen. Da man sie jedoch für die Demonstrationen in den Bezirksstädten schlecht verantwortlich machen konnte, griffen die Medien - wie im Fall der von den Aufständischen aus dem Gefängnis in Halle befreiten angeblichen "SS-Kommandeuse" Erna Dorn
Der Schriftsteller Erich Loest, der noch am 21. Juni im "Neuen Deutschland" einen flammenden Artikel gegen den West-Berliner "Abschaum" veröffentlicht hatte, der die "Arbeiter des demokratischen Sektors vor den Kriegskarren ihrer Hintermänner zu spannen" versucht habe, wandte sich wenige Tage später leidenschaftlich, wenn auch parteilich gegen die Beschönigungen und Verharmlosungen in der Berichterstattung der Parteipresse.
Solche unmittelbaren Folgen hatten zwei selbstkritische, aufeinander abgestimmte Rundfunkkommentare von Herbert Geßner und Karl-Eduard von Schnitzler vom 8. und 12. Juli 1953 nicht.
Schon im September 1953 sollte diese "Büßerstimmung" verflogen sein und die Parteipresse "wieder ein kämpferisches Gesicht" zeigen - so Fred Oelßner, Politbüromitglied und als Nachfolger Hermann Axens unter anderem für die Medien verantwortlicher ZK-Sekretär.
Tatsächlich entwickelte der Hörfunk in der Folgezeit eine größere Programmvielfalt, und das Angebot der Printmedien erweiterte man durch gefragte Publikumszeitschriften wie den "Eulenspiegel", "Das Magazin" oder die "Wochenpost" (als "Zeitungskind des 17. Juni"
Langzeitwirkungen
Bis zu ihrem Sturz blieb für die SED-Spitze die beim Juni-Aufstand vor aller Welt vollzogene Demontage ihrer angemaßten "führenden Rolle" ebenso wie die diesbezügliche Berichterstattung bundesdeutscher Hörfunksender ein Trauma. Das inspirierte Fritz Pleitgen zu diesem Szenario: "Was wäre geschehen, wenn das Fernsehen am 17. Juni so allgegenwärtig gewesen wäre wie heute?" Vielleicht, so Pleitgen in seinem Gedankenspiel, hätte Washington seine Zurückhaltung aufgegeben, und die Sowjets hätten angesichts des Machtkampfs im Kreml amerikanischem Druck nachgegeben, so dass "die Helden des 17. Juni" schon 1953 die deutsche Einheit hätten erkämpfen können.
Als WDR-Chefredakteur verspürte Pleitgen im Herbst 1989 eine Langzeitwirkung des 17. Juni auf sein Berufsverständnis. So habe er Zurückhaltung bei der Kommentierung der Vorgänge in der DDR "gepredigt", um bloß nicht durch "Maulheldentum die Machthabenden zu blutigen Reaktionen herauszufordern". Bis zur entscheidenden Leipziger Montagsdemonstration seien deshalb - auch auf Drängen der Bürgerrechtler - "Kampfbegriffe" wie "17. Juni" oder "Wiedervereinigung" in der Berichterstattung der ARD tabu gewesen.