Einleitung
Fünfzig Jahre nach jenem dramatischen Geschehen in Ost-Berlin und der DDR, das mit dem Datum des 17. Juni 1953 verbunden ist, sollten einige historische Grunderkenntnisse eigentlich unstrittig sein - über die Spontaneität etwa, mit der Hunderttausende Streikende die Arbeit niederlegten und ein bis zwei Millionen Demonstranten republikweit auf die Straße gingen, ebenso über die frühzeitige Politisierung der von ihnen erhobenen Forderungen. Aber diese Hoffnung trügt. Nachdem die historische Wahrheit über den 17. Juni schon im Staat der SED bis zu seiner Endzeit nicht zur Sprache gebracht werden durfte, sondern Zerrbilder, Legenden und Unwahrheiten von Ideologen und Historikern im Parteiauftrag kolportiert wurden, mehren sich im geeinten Deutschland Versuche, den 17. Juni 1953 als Eskalation sozialer Massenproteste darzustellen, in deren Verlauf es zu "Randale" und "Gewalttätigkeiten" kam. "DDR-Fahnen wurden herabgerissen und verbrannt, Kioske angezündet. Läden und öffentliche Gebäude gestürmt, geplündert und gebrandschatzt. Es kam zu tätlichen Angriffen auf Mitglieder der SED und der FDJ."
Dieselbe Tendenz lassen Publikationen erkennen, die eher Aufschluss über ihre Verfasser als über die Geschichte der Erhebung vermitteln. "Niemand glaubt mehr an einen faschistischen Putschversuch oder an einen Volksaufstand", will etwa Hans Bentzien suggerieren.
Zum Forschungsstand
Die westliche Zeitgeschichtsforschung arbeitete den 17. Juni 1953 in der Zeit der deutschen Teilung zwar so gut wie möglich auf, aber mit dem Zugriff auf die Archive der DDR hat sie eine neue Qualität erreicht. Vor allem Akten und Archivalien aus dem Zentralen Parteiarchiv der SED und dem Militärarchiv der DDR sowie aus den Archiven des MfS und des Ministeriums des Innern haben die Erkenntnisse über die Erhebung vertieft, ergänzt und präzisiert. Eine Reihe fundierter Werke ist seither erschienen.
Zu korrigieren waren Zahlen über das Ausmaß der Erhebung, denn die Zeitgeschichtsforschung hatte jahrzehntelang DDR-amtliche Fälschungen hingenommen, mit denen die Herrschenden das Wissen über den 17. Juni unterdrücken wollten. Tatsächlich hatte die sowjetische Besatzungsmacht über 167 von 217 Stadt- und Landkreise der DDR den Ausnahmezustand verhängt. In Brennpunkten des Aufstands wie Ost-Berlin, Magdeburg, Halle und Leipzig wurde er erst nach Wochen aufgehoben. Die seinerzeit von Ministerpräsident Otto Grotewohl offiziell genannte Zahl von 272 Städten und Ortschaften,
Als im Großen und Ganzen abgeschlossen kann die Forschung zur Strafverfolgung der Akteure des 17. Juni gelten.
Die Opfer
In der Historiographie der DDR wurde dieses Kapitel des 17. Juni völlig ausgeklammert. Vielfach wurden Aufständische, die von DDR-Exekutivorganen ergriffen worden waren, in sowjetischen Gewahrsam überführt. Umgekehrt überantworteten die Rotarmisten der Staatssicherheit und der Volkspolizei Häftlinge, die sie bei der Besetzung bestreikter Betriebe oder bei Militärpatrouillen auf Straßen und Plätzen festgenommen hatten. Die Repressionsorgane der Besatzungsmacht griffen nach anfänglichem Zögern hart durch. Wie der sowjetische Hochkommissar für Deutschland Wladimir S. Semjonow berichtet, hatte er am 17. Juni um 11 Uhr aus Moskau unter anderem die Weisung empfangen, "militärische Standgerichte einzurichten und zwölf Rädelsführer zu erschießen. Die Mitteilung über die Exekutionen sollten überall in der Stadt ausgehängt werden."
In Magdeburg machte der Militärkommandant durch Plakatanschlag bekannt, dass Alfred Dartsch und Herbert Stauch "wegen der aktiven provokatorischen Handlungen am 17. Juni 1953, die gegen die festgelegte Ordnung gerichtet waren, als auch wegen der Teilnahme an den banditischen Handlungen vom Gericht des Militärtribunals zum Tode durch Erschießen verurteilt worden sind".
Im Fall Stauch - in der Bekanntmachung irrtümlich "Strauch" geschrieben - sind die Gerichtsakten verfügbar. Sie dokumentieren nicht nur sowjetisches Justizunrecht, sondern auch den politischen Mut des Opfers. Der selbstständige Gewerbetreibende - er unterhielt einen Betrieb zur Herstellung von Teigwaren - hatte sich am 17. Juni in Magdeburg an der Protestdemonstration vor dem Polizeipräsidium beteiligt. Als Sprecher einer vierköpfigen Delegation war er im Polizeipräsidium für die Freilassung politischer Gefangener eingetreten. Nach seiner Festnahme noch in der Nacht wurde er den Russen überstellt. Der Prozess vor dem Militärtribunal des sowjetischen Truppenteils Nr. 92401 in Magdeburg begann um 13.05 Uhr. Das Gericht verhandelte nichtöffentlich. Ein Verteidiger war nicht zugegen. Um 13.45 Uhr zog sich das Gericht, das aus einem Oberstleutnant als Vorsitzendem und zwei Majoren als Beisitzern bestand, zur Beratung zurück und verkündete um 14 Uhr, also nach einer Viertelstunde, "im Namen der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken" das auf Todesstrafe durch Erschießung lautende Urteil. Die Begründung: "Stauch, Mitglied der CDU-Partei, war an der konterrevolutionären Kundgebung vom 17. Juni 1953 gegen das Besatzungsregime und die örtlichen Machtorgane aktiv beteiligt. Als Mitglied der vierköpfigen Delegation, gewählt von der Menschenmasse, drang er ins Polizeipräsidium ein, wo er die Gewährung der politischen und wirtschaftlichen Freiheiten für die Rebellen, die Freilassung der Staatsverbrecher, sowie die Regierungsablösung forderte."
Ein weiteres sowjetisches Todesurteil traf den Kraftfahrzeugschlosser Alfred Diener, der sich in Jena an den Unruhen beteiligt hatte. Der 26-Jährige war am 17. Juni von sowjetischen Soldaten im Gebäude der SED-Kreisleitung festgenommen worden, wo er gemeinsam mit zwei anderen Demonstranten den 1. Sekretär in dessen Büro zur Rede gestellt hatte. In den Vormittagsstunden des 18. Juni 1953 wurde Diener vom Militärtribunal des sowjetischen Truppenteils Nr. 07335 in Weimar wegen "konterrevolutionärer Handlungen" zum Tode verurteilt und noch am selben Tage im Gebäude der sowjetischen Kommandantur in Weimar erschossen. Heute trägt eine Straße in Jena seinen Namen, und in Weimar erinnert eine Gedenktafel der Stadt an Alfred Diener - auch er ist rehabilitiert worden.
Aus Urteilen Sowjetischer Militärtribunale, die im Zusammenhang mit dem 17. Juni ergingen, ist ersichtlich, dass sie sich juristisch auf das Strafgesetzbuch der RSFSR (Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik) gründeten. Artikel 58 Absatz 2 stellte den Tatbestand des bewaffneten Aufstands und des Eindringens von bewaffneten Banden in das Sowjetgebiet in konterrevolutionärer Absicht unter Strafe; Artikel 58 Absatz 8 betraf die Begehung terroristischer Handlungen gegen Vertreter der Sowjetmacht oder Funktionäre revolutionärer Organisationen der Arbeiter und Bauern. Wesentlich genauer als die Tätigkeit Sowjetischer Militärtribunale hat die Forschung die Verfolgung von Teilnehmern des Volksaufstandes durch die Strafjustiz der DDR dokumentiert. So wurde nachgewiesen, dass Semjonow schon in seinem Lagebericht über die DDR für das dritte Quartal 1953 eine vorläufige Zahl nach Moskau gemeldet hatte: "Insgesamt sind zum 5. Oktober durch Gerichte der DDR 1240 Teilnehmer der Provokationen verurteilt worden. ((...)) Unter den verurteilten Organisatoren und Anstiftern der Provokationen sind 138 ehemalige Mitglieder nazistischer Organisationen und 23 Einwohner Westberlins."
Bis Ende Januar 1954 hatte sich die von Semjonow genannte Zahl Verurteilter um knapp dreihundert erhöht. Ein von Justizministerin Hilde Benjamin und Generalstaatsanwalt Ernst Melsheimer entworfener Bericht "Zur Durchführung des neuen Kurses in der Justiz", der am 5. März 1954 Walter Ulbricht zugeleitet wurde und sich in seinem Nachlass fand, enthielt über "die Aburteilung der Provokateure des Putsches vom 17.6.1953" folgende Passage: "Von Anbeginn an wurden Staatsanwälte und Richter darauf hingewiesen, dass sie in ihrer Anklagepolitik und ihrer Urteilspraxis den grundlegenden Hinweis in der Entschließung des 14. Plenums zu befolgen hatten, nämlich zwischen ehrlichen Arbeitern und Provokateuren zu unterscheiden. ((...)) Von den 1526 Angeklagten, die verurteilt wurden, erhielten 2 Angeklagte die Todesstrafe, 3 Angeklagte lebenslänglich Zuchthaus, 13 Angeklagte Strafen von 10 - 15 Jahren, 99 Angeklagte Strafen von 5 - 10 Jahren, 824 Angeklagte Strafen von 1 - 5 Jahren und 546 Angeklagte Strafen bis zu einem Jahr."
Die beiden Todesurteile gegen Akteure des 17. Juni, die in der Verantwortung der DDR-Strafjustiz ausgesprochen wurden, fällten das Bezirksgericht Halle/Saale in eintägiger Hauptverhandlung am 22. Juni 1953 gegen die 42-jährige Erna Dorn,
Parteiliche Wertungen
Die Schwierigkeiten mit der Wahrheit, die einst die SED im Kontext des 17. Juni hatte und die viele ihrer politischen Nachfahren bis heute nicht überwunden haben, sind gleichsam ideologischer Natur. Es passte nicht in das Weltbild der herrschenden Nomenklatura, dass ausgerechnet im Jahre 1953, das die Staatspartei zum "Karl-Marx-Jahr" erklärt hatte,
Bereits in ihrer ersten offiziellen Stellungnahme zu den Ereignissen ließ die Regierung der DDR am Nachmittag des 17. Juni 1953 diese Version über den Rundfunk verbreiten. In einer Entschließung des 14. ZK-Plenums vom 21. Juni tauchte das Argumentationsmuster erneut auf. Die Protest- und Aufstandsbewegung wurde als "faschistisches Abenteuer" und "faschistische Provokation" gebrandmarkt. Der 17. Juni mutierte zu dem "von langer Hand vorbereiteten Tag X".
Die Legende vom "Tag X" ging aus der Verfälschung eines Zitats von Jakob Kaiser hervor, seinerzeit Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen. Er hatte in einer Rede bei Gründung des Forschungsbeirates für Fragen der Wiedervereinigung am 24. März 1952 den Tag, an dem die deutsche Einheit wiederhergestellt sei, als "Tag X" umschrieben. Dabei hatte er weder an einen Aufstand in der DDR noch an einen Putsch gedacht. Der Passus lautete vielmehr: "Niemand kann sagen, zu welchem Zeitpunkt die Politik um Deutschland im Sinne der Wiedervereinigung unseres Landes erfolgreich sein wird. Übrig bleibt aber, dass der Tag der Wiedervereinigung zunächst
Aller Wahrscheinlichkeit nach ist Kaiser in seiner Rede vom Manuskript abgewichen und hat in diesem Zusammenhang vom "Tag X" gesprochen; darauf lässt jedenfalls das Echo in der Presse schließen.
Damit manövrierte sie allerdings die Staatssicherheit in ein heilloses Dilemma, denn sie forderte von ihr, die westlichen Organisatoren und Drahtzieher des "Putschversuches" zu entlarven. Von deren Nichtexistenz hätte die Staatssicherheit jedoch aufgrund eigener Ermittlungen überzeugt sein müssen.
Freie Wahlen und Wiedervereinigung
Zu den für die SED am schwersten erträglichen Wahrheiten des 17. Juni 1953 gehörte der dialektische Umschlag in politischen Massenprotest gegen die Diktatur, was als Auflehnung gegen administrativ erhöhte Arbeitsnormen und staatliche Preistreiberei begonnen hatte. "Wir wollen freie Menschen sein",
Der Ruf nach freien Wahlen korrelierte mit dem Bekenntnis zur deutschen Wiedervereinigung; auch das ist durch die historischen Zeugnisse belegbar. Freie Wahlen waren für die übergroße Mehrheit der DDR-Bevölkerung identisch mit der Überwindung der deutschen Teilung. Diese war nur als Einheit in Freiheit vorstellbar. Deshalb traten Streikende und Demonstranten häufig schon zu Beginn der Proteste für freie gesamtdeutsche Wahlen ein. Was Heinz Brandt, in jenen Tagen Sekretär für Agitation der Bezirksleitung Berlin der SED, von einer Belegschaftsversammlung im VEB Bergmann-Borsig in Berlin-Wilhelmsruh aus eigenem Erleben am frühen Morgen des 17. Juni berichtete, war für viele bestreikte Betriebe typisch. "Es wurde eine Entschließung angenommen, die den gewählten Betriebsausschuss bevollmächtigte, die wirtschaftlichen und politischen Interessen der Belegschaft zu vertreten und sich mit ähnlichen Ausschüssen in Verbindung zu setzen. Als politisches Hauptziel wurde die Wiedervereinigung Deutschlands durch freie demokratische Wahlen gefordert."
Nicht anders war es in der Provinz. Streikende in der Filmfabrik Wolfen forderten am 17. Juni neben dem Sturz der Regierung dezidiert die "Einheit Deutschlands" sowie "Geheime und freie Wahlen für ganz Deutschland".
Wie eindeutig das nationale Moment des 17. Juni seinerzeit auch im Westen wahrgenommen wurde, lässt sich an dem Gesetz vom 4. August 1953 ablesen, durch das der 17. Juni als "Symbol der deutschen Einheit in Freiheit" definiert und zum gesetzlichen Feiertag, zum "Tag der deutschen Einheit" erklärt wurde.
17. Juni 1953 - eine gescheiterte Erhebung? Vordergründig betrachtet liegt die Antwort auf diese Frage auf der Hand. In historischer Perspektive hat die friedliche Revolution im Herbst 1989 vollendet, was mit dem Aufstand 36 Jahre zuvor seinen Anfang nahm.