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Gesellschaftsgeschichtliche Perspektiven auf das westdeutsche "Achtundsechzig" | Zeitgeschichte/n | bpb.de

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Gesellschaftsgeschichtliche Perspektiven auf das westdeutsche "Achtundsechzig"

Christina von Hodenberg

/ 15 Minuten zu lesen

In der klassischen Erzählung des westdeutschen "Achtundsechzig" als Generationskonflikt zwischen Söhnen und Vätern wurde gerade der Anteil der Frauen lange unterschätzt.

Je weiter wir uns zeitlich vom Jahr 1968 entfernen, desto größer wird der Rummel um die Jahrestage. Zum 50. Jubiläum 2018 erschienen stapelweise neue und neu aufgelegte Bücher; Presse und Fernsehen begannen schon im Dezember 2017 mit Sondersendungen und Berichten zum Thema. Damit setzt sich der Trend der vorangegangenen runden Jahrestage 1988, 1998 und 2008 fort. Immer stärker schnurrt "Achtundsechzig" auf eine Chiffre zusammen, in der ganz unterschiedliche historische Entwicklungen (wie Jugendprotest, sexuelle Revolution, Aufarbeitung der NS-Vergangenheit oder gar die Umweltbewegung) mutwillig zusammengeklammert werden und ihren Ursprungsmythos finden. Immer stärker wird in den Medien auch das Jahr 1968, und insbesondere der Mai, nach französischem Vorbild als Kernphase der Aufbruchsbewegung der 1960er Jahre erinnert. Dabei begann die Hochphase der westdeutschen Proteste schon im Juni 1967 mit der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg beim West-Berliner Schahbesuch. Und obwohl auffällt, dass sich die Protestereignisse zwischen 1967 und 1969 häufen, sprechen Historiker mit guten Gründen von einer zusammenhängenden Periode des Wandels, den "langen sechziger Jahren", die für die Bundesrepublik vom letzten Drittel der 1950er Jahre bis zur Ölkrise von 1973/74 reichen.

Im Jubiläumstrubel 2018 kommt hinzu, dass "Achtundsechzig" und die 68er von der neu erstarkten politischen Rechten als Feindbild aufpoliert wurden. Der stellvertretende AfD-Chef Jörg Meuthen sagte der "links-rot-grün verseuchten 68er-Denke" den Kampf an, und der CSU-Politiker Alexander Dobrindt forderte eine "konservative Revolution" gegen die "linke Meinungsvorherrschaft" der 68er. Die Antwort der Liberalen und Linken auf diese Herausforderung war es, umso stärker auf der inzwischen fest etablierten populären Erzählung von "Achtundsechzig" zu bestehen, nach der die junge 68er-Generation die Demokratie in Westdeutschland mit ihrer Schocktherapie von der Verkalkung des Autoritarismus gereinigt und wiederbelebt habe. Selbst wenn dies in guter Absicht geschah, die Berufung auf das heroische Narrativ – "Achtundsechzig" als Generationskonflikt und als Urknall der inneren Demokratisierung der Bundesrepublik – ist historisch zweifelhaft. Denn ein solches Bild von "Achtundsechzig" beruht auf einer methodisch einseitigen Grundlage und einer elitären Vorab-Einschränkung des herangezogenen Quellenkorpus. Eine gesellschaftsgeschichtliche Erweiterung des Blicks ist vonnöten.

Die heroische Erzählung als Problem

Schon in den 1960er Jahren schnitzten sich die Massenmedien die Ikonen von "Achtundsechzig" so, wie es ihre Arbeitsbedingungen und Genres vorgaben. Der öffentliche Blick auf die Proteste verengte sich 1967 schnell auf wenige Orte und Personen: auf das West-Berlin des Kalten Krieges, das Frankfurt der Frankfurter Schule, auf die Kommune 1, das Büro des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) am Kurfürstendamm, auf Rudi Dutschke und Horst Mahler. Der SDS mit seiner gezielten Strategie provokativer und subversiver Aktionen erreichte ungleich mehr Publizität als andere Studentenverbände, die an traditionellen Resolutionen und Gastredner-Veranstaltungen festhielten. Die Aufmerksamkeit der Springer-Blätter konzentrierte sich neben Dutschke auch auf den "Studenten-Anwalt" Horst Mahler und den Kommunarden Fritz Teufel aus West-Berlin. "Der Spiegel" fokussierte sich ganz auf Berlin und erklärte die Proteste aus der prekären Lage der Stadt im Kalten Krieg, dem US-amerikanischen Einfluss auf die Freie Universität und der Zuwanderung vieler westdeutscher Wehrdienstflüchtlinge. Eine ebensolche "Berlin-Rahmung" dominierte auch die Fernsehberichterstattung. Denn zahlreiche Kamerateams waren beim Schah-Besuch in Berlin live dabei gewesen, und auf deren Filmausschnitte stützten sich fast alle nachfolgenden Nachrichtensendungen und politischen Fernsehmagazine. Der Logik des Mediums gemäß wurden einige wenige Protagonisten herausgegriffen, "die den Zuschauern und Redakteuren bereits bekannt waren". So entstanden seit dem Spätsommer 1967 gleich drei Fernsehporträts von Dutschke. Ebenfalls häufig interviewt wurde Mahler, weil er bei der Pressekonferenz nach dem Tod Benno Ohnesorgs als Rechtsbeistand des AStA an der Freien Universität aufgetreten war. Auch die Kommune 1 spielte auf dem Bildschirm eine gewisse Rolle, tauchte dort jedoch seltener auf als in den auf Nackedeis und freie Liebe versessenen Illustrierten.

Mithin fand schon in den zeitgenössischen Medienberichten eine Verengung der Aufmerksamkeit statt. Es etablierte sich ein Tunnelblick auf Westberlin und Frankfurt, die Universitäten, junge männliche Eliten und die radikale Linke (sprich den SDS). Wenn es fernab der Großstädte, außerhalb des SDS und abseits der Vorzeigekommunen brodelte, so wurde dies öffentlich nicht entsprechend gespiegelt. In den folgenden fünf Jahrzehnten setzte sich der Trend fort. In ihren Bezügen auf "Achtundsechzig" bildeten Presse und Rundfunk einen kleinen Ausschnitt dessen ab, was die zeitgenössische Revolte ausmachte – und zwar nur denjenigen Teil der Akteure, der die Medien für sich gewann.

Der so entstandenen klassischen Erzählung folgte die Zeitgeschichtsschreibung. Getragen von Zeitzeugen, die ehemals selbst Aktivisten gewesen waren, schrieben Politologen und Historiker eine mal mehr, mal weniger kritische Geschichte von "Achtundsechzig", in der männliche Studenten zu Standartenträgern des Wandels wurden, Auseinandersetzungen in Hörsälen und der Ideenwettstreit der Linken im Mittelpunkt standen. Selbst abwägende Beiträge der jüngsten Zeit, die das westdeutsche "Achtundsechzig" eher als Kulturrevolution oder massenmediales Spektakel denn als politische Rebellion verstehen, bleiben der Verengung auf SDS, Studenten und Berlin fast immer treu. Ausgesprochen rar sind Studien über Aktivisten, die nicht ins traditionelle Raster passen, wie etwa die konservative Jugend, Ostberliner Kommunarden, Frauengruppen oder Arbeiter.

Denn die klassische Erzählung von "Achtundsechzig" übergeht große Bevölkerungsgruppen: die Frauen, die Älteren und Alten, die weniger Gebildeten, die Unterschichten, die kleinstädtische und ländliche Bevölkerung. Nicht zum ersten Mal spiegelt sich damit in der Forschung eine unbewusste Konzentration der Historiker auf diejenigen, die ihnen selbst ähneln: auf Bildungsbürger, Männer, Universitäten und die urbanen Eliten. Wie diese Bindung an das Bildungsbürgertum dazu verführen kann, die gesamtgesellschaftliche Bedeutung von Zäsuren zu verkennen, zeigt beispielsweise die Deutungsgeschichte des Kriegsausbruchs 1914. Jahrzehntelang war unsere Vorstellung vom Blick auf die akademische männliche Jugend geprägt, über deren enthusiastische Kriegsbegeisterung die Tagespresse damals wortreich geschwärmt hatte. Die Beschwörung des "Augusterlebnisses" der Freiwilligen und der "Ideen von 1914" entpuppte sich erst in den 1990er Jahren als irreführend, als neue Quellen hinzugezogen wurden, die die ganz andere, abwartend-skeptische Reaktion der Dörfler und Arbeiter auf den Beginn des Weltkriegs erschlossen.

Gesellschaftsgeschichte und Generationengeschichte

Mein Plädoyer für eine "gesellschaftsgeschichtliche" Methode bezieht sich nicht auf Hans-Ulrich Wehlers Totalperspektive, die Strukturen und Prozesse in Wirtschaft, sozialer Ungleichheit, politischer Herrschaft und institutionalisierter Kultur problemorientiert analysiert. Vielmehr ist ein Ansatz gemeint, der so weit als möglich auf die Erschließung der historischen Rolle und lebensweltlichen Erfahrung aller Bevölkerungsgruppen zielt, der beide Geschlechter als historische Akteure ernstnimmt sowie Entwicklungen im Öffentlichen wie im Privaten umfasst und somit einen erweiterten Politikbegriff zugrundelegt. Eine solcherart erweiterte Perspektive auf die 1960er Jahre ist in den vergangenen Jahren auch international angemahnt worden. Dass die Rolle der Arbeiter im französischen "Achtundsechzig" nicht genügend beachtet werde, haben etwa Kristin Ross, Julian Jackson und Michelle Zancarini-Fournel angemerkt. Für eine Ausweitung der Perspektive über den Generationskonflikt hinaus haben auch Sara M. Evans und Maud Anne Bracke als Spezialistinnen für den US-amerikanischen und italienischen Kontext argumentiert.

In der deutschen Zeitgeschichtsschreibung wirkt jedoch in besonderer Weise Karl Mannheims Konzept der politischen Generationen aus dem Jahr 1928 nach. Häufig erkennen deutsche Historiker in den Unruhen der 1960er Jahre ein geistiges Duell politischer Generationen: Die 68er hätten demzufolge ihre Vorgängergenerationen, die "Wilhelminer" und die "45er", herausgefordert. Die 45er, um 1968 Mitte dreißig bis fünfzig Jahre alt, hätten das nationalsozialistische Deutschland nur als Kinder und Teenager erlebt und seien als junge, unbelastete Erwachsene rasch in verantwortliche Positionen in Politik, Medien und Universitäten aufgerückt. Das Kriegsende 1945 sei zum Wendepunkt ihres Lebens geworden, das viele von ihnen fortan der Westernisierung und inneren Demokratisierung der Bundesrepublik gewidmet hätten. Zu dieser oft auch "skeptische Generation", "Flakhelfergeneration" oder "HJ-Generation" genannten Gruppe werden beispielsweise Helmut Kohl, Rudolf Augstein, Ralf Dahrendorf oder Jürgen Habermas gerechnet. Manche Historiker feiern die 45er, und eben nicht die studentischen 68er, als Vorreiter einer Liberalisierung Westdeutschlands. Die akademische Diskussion leitet die Revolte damit vor allem aus den divergierenden Weltanschauungen unterschiedlicher Alterskohorten von Intellektuellen ab. Deshalb wissen wir heute erheblich mehr über Studenten und Professoren in den 1960er Jahren als etwa über Arbeiter, Hausfrauen, Angestellte oder Rentnerinnen.

Denn "Achtundsechzig" als Kampf zwischen politischen Generationen zu begreifen, heißt, sich nur männlichen Eliten zu widmen. Der erz-bildungsbürgerlichen Herkunft des Denkmusters der politischen Generation ist nicht zu entkommen. Bei Mannheim geht es um Männer, die an der Front oder in Jugendverbänden politisch sozialisiert worden sind; um Bildungsbürger, die einen politischen Gestaltungswillen in öffentlicher Auseinandersetzung gegen andere durchsetzen wollen. Sich als Angehöriger einer politischen Generation darzustellen, ist deshalb bis heute ein spezifisch männliches Unterfangen. Die Lebenserfahrungen und -ziele von Frauen sowie private Auseinandersetzungen passen nicht in dieses Schema.

Der Bezug auf Mannheims Konzept verleitet zudem dazu, die nachträglich durch den Prozess der "Generationsrede" gebildete 68er-Generation in die Ereignisse der 1960er Jahre hineinzulesen. Denn erst durch ihre nachholende Erzählhandlung in den Medien konstituierten sich die 68er seit den späten 1970er Jahren als eine Generation. Für jene, die zu den entsprechenden Geburtsjahrgängen gehörten, war der Beitritt zur medialen Erzählgemeinschaft der 68er attraktiv, weil er die eigene Biografie im Rahmen der bundesrepublikanischen Geschichte sinnhaft aufwertete. Man konnte sich im Rückblick als Teil einer Bewegung feiern, die den westdeutschen Staat demokratisiert und mit braunen Hinterlassenschaften gegen den Widerstand der Eltern aufgeräumt hatte. Die 68er-Proteste wurden vom marxistischen Überschuss gereinigt und als Lifestyle-Liberalisierung weichgespült. Weil sich dieses Narrativ verkaufte, verbreitete es sich seit den späten 1970er Jahren schnell. Die 68er wurden zur "Generation am Tropf des Feuilletons".

Um die Geschichte von "Achtundsechzig" jenseits der heroischen Generationserzählung zu schreiben, gilt es daher, dem Deutungsmuster der "politischen Generationen" zu entsagen. Zudem sollte die Vorannahme, dass es sich bei den damaligen Unruhen im Kern um einen Konflikt zwischen Alt und Jung gehandelt habe, kritisch überprüft werden. Auch muss durchgehend zwischen familiären Generationen (Großeltern, Eltern, Kindern) und Alterskohorten in der Bevölkerung unterschieden werden. Nicht zuletzt gilt es, die Rolle von Frauen, unter- und kleinbürgerlichen Protagonisten, aber auch Älteren und Alten sowie Land- und Kleinstadtbewohnern zu beleuchten. Denn einerseits finden sich auch unter ihnen Akteure des Aufbruchs. Andererseits erlaubt eine bessere Kenntnis der Haltungen in diesen Gruppen es, die von den 68ern eingegangenen sozialen Allianzen nachzuzeichnen und so zu verstehen, warum sich manche Leitideen der Proteste seit den 1970er Jahren vergleichsweise schnell in der Gesellschaft durchsetzen konnten.

Andere Quellen und ein "anderes Achtundsechzig"

Zahlreiche langfristig wichtige lebensweltliche Veränderungen nahmen in den 1960er Jahren in privaten oder semi-privaten Zusammenhängen ihren Ausgang – so etwa in Frauengruppen, Familien, Schulen oder Kindergärten. Zur Untersuchung dieser Kontexte braucht es Quellen jenseits der klassischen Bestände in staatlichen Archiven und Universitätsbibliotheken, da die routinemäßig ausgewerteten Ministerialakten, Presseartikel, Parlamentsdebatten, Romane oder Autobiografien vor allem Debatten zwischen überwiegend männlichen Bildungsbürgern wiedergeben. Gerade für die Zeitgeschichte ist diesem Dilemma relativ leicht zu entkommen. Es bieten sich einerseits zeitgenössisch forschungsproduzierte Daten der Sozialwissenschaften, Psychologie oder Ethnologie an. Dazu gehören etwa Umfragen, auf Tonband konservierte oder transkribierte Gespräche und statistisch aufbereitete Datenbasen. Andererseits können überlebende Zeitzeugen befragt oder auf abgeschlossene lokale Interviewprojekte zurückgegriffen werden. Eine sorgfältige Historisierung des zeitgenössischen Projektumfelds und der Querabgleich mit anderen Quellen ist dabei jeweils unabdingbar.

Meine Studie zum "anderen Achtundsechzig" stützt sich wesentlich auf solche Quellen aus dem Bonner Raum. Neben der Sekundärauswertung einer 2005/06 entstandenen Zeitzeugenbefragung des Bonner Stadtmuseums zum Thema "Achtundsechzig" wurde vor allem der Bestand der "Bonner Längsschnittstudie des Alters" (BOLSA) genutzt. Dies war die erste deutsche gerontologische Längsschnittstudie und fand am psychologischen Institut der Bonner Universität statt. 222 alte Leute reisten seit 1965 in regelmäßigen Abständen aus dem Rheinland, Ruhrgebiet und Rhein-Main-Gebiet nach Bonn, um sich interviewen zu lassen. Sie waren kleine Angestellte und Arbeiter, Kaufleute, Handwerker und Hausfrauen. Das von den Professoren Hans Thomae und Ursula Lehr geleitete Forschungsprojekt zielte auf Erkenntnisse über Veränderungen der menschlichen Persönlichkeit im Alter. Für die Untersuchung des "anderen Achtundsechzig" war die BOLSA aus mehreren Gründen ideal: Das Sample der zwischen 1890 und 1909 Geborenen war weitgehend repräsentativ für die Bundesrepublik. Männer und Frauen waren gleich stark vertreten, nur jeder Zwölfte hatte eine Oberschule besucht, und 60 Prozent wohnten in Orten unter 100.000 Einwohnern. Alle Gespräche wurden auf Magnettonband aufgenommen und in Kodes verschlüsselt, um psychologische und soziale Vorgänge statistisch berechenbar zu machen. Zusätzlich lagen die Transkripte einer zwischen Mai 1967 und August 1968 entstandenen psychologischen Studie vor, bei der 180 Männer und Frauen aus dem Köln-Bonner Raum "im mittleren Erwachsenenalter" (Jahrgang 1909 bis 1934) zur "heutigen Jugend" und zum Wandel der Erziehungsnormen befragt worden waren. Die übliche Konzentration auf Jugend, Männer, Gebildete und Städter wurde mit diesen Quellen aufgebrochen und der Einblick in die private und familiäre Sphäre ermöglicht. Ein weiterer Vorteil ergab sich aus den quantitativen Begleitdaten. Nur durch sie war es möglich, beispielsweise zu beziffern, wie viele der befragten alten Menschen über starke Konflikte mit ihren Kindern berichteten (überaus wenige) oder wie viele der Befragten mittleren Alters von ihren Eltern sexuell aufgeklärt worden waren (etwa 2 Prozent).

Ohne die Ergebnisse meiner Untersuchung hier vollständig darlegen zu können, wurden mit diesen Quellen doch die Konturen eines deutlich anderen Bildes von "Achtundsechzig" erkennbar. Zunächst bestätigte sich, dass die späten 1960er Jahre auch im Bonner Raum, also in der Provinz, politische Unruhen auslösten, die die sozialen Verhältnisse in Bewegung brachten. An den Protestaktionen waren neben der radikalen studentischen Linken und dem SDS, der in den lokalen Medien die größte Resonanz erfuhr, auch zahlenmäßig größere reformerische und liberale, ja sogar manche konservative Gruppen beteiligt. Außerdem hatte seit 1968 eine sehr aktive Frauengruppe (der Bonner "Arbeitskreis Emanzipation") bestanden. Diese Frauen hatten sich vom Bonner SDS abgespalten, einen Lektürezirkel gegründet, Flugblätter verteilt, Schülerinnen mobilisiert, Wahlkampfveranstaltungen besucht und Vorlesungen von frauenfeindlichen Professoren gesprengt. Sie hatten sogar eine landesweite Debatte über die Diskriminierung von Mädchen in den Schullehrplänen losgetreten. Trotzdem war der Arbeitskreis gänzlich in Vergessenheit geraten. Ein lokalhistorisches Projekt des Stadtmuseums zum 40. Jahrestag von "Achtundsechzig" erwähnte die Frauengruppe weder in der Ausstellung noch in der dazugehörigen Begleitpublikation. Keine der Beteiligten war in dem Interviewprojekt mit 68ern aus dem Jahr 2005/06 berücksichtigt worden. Damit waren sowohl die antipatriarchalische als auch die reformerische Ausrichtung der Bonner Geschehnisse im historischen Gedächtnis ausradiert worden.

Dagegen war nachträglich eine starke Aufwertung des Topos vom Vater-Sohn-Konflikt erfolgt. Denn der bekannteste Bonner SDS-Aktivist, Hannes Heer (später Kopf der "Wehrmachtsausstellung" zu den Verbrechen deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg), hatte sich mit seinem Vater wegen dessen NSDAP-Mitgliedschaft überworfen – und dies immer wieder in Presse und Fernsehen kommentiert. Heer gehörte zu einer Handvoll atypischer Einzelfälle. Nur zwei von 22 befragten Bonner 68ern lebten den offenen Konflikt mit ihren Eltern. Im Regelfall hatten studentische Aktivisten die NS-Vergangenheit zusammen mit ihren Eltern beschwiegen, oder aber sie waren bereits im Elternhaus sozialistisch oder sozialdemokratisch sozialisiert worden. Nicht zwei, sondern drei familiäre Generationen lebten miteinander, und die mittlere Generation der Eltern vermittelte häufig zwischen Jugend und Großeltern. Diese Ergebnisse decken sich mit zeitgenössischen Meinungsumfragen, die damals ein vergleichsweise gutes Vertrauensverhältnis und hohe Werteübereinstimmungen zwischen Eltern und Jugendlichen bezeugten, wie auch mit den Ergebnissen großer Oral-history-Projekte, die die Dominanz des privaten Beschweigens und Verniedlichens herausarbeiteten. Die 68er beriefen sich zwar öffentlich auf die Kluft zwischen der Jugend und dem (abstrakten) Establishment, aber riskierten den privaten Kleinkrieg zwischen den familiären Generationen so gut wie nie. Falls es überhaupt zum politischen Streit zwischen Eltern und ihren 68er-Kindern kam, drehte sich dieser weit eher um kommunistische Neigungen der Jüngeren als um die NS-Nähe der Älteren.

Diese Resultate säen Zweifel am gängigen Argumentationsmuster, dass die 68er-Rebellen gegen ihre Nazi-Eltern revoltiert hätten. Den Kern von "Achtundsechzig" im Vater-Sohn-Konflikt zu suchen (beispielsweise vom Generationskonflikt über "die Schuld der Väter" und vom Angriff der Jungen auf die schweigenden Patriarchen der "NS-Funktionsgeneration" zu reden), erscheint müßig. Im Vergleich zum wenig ausgeprägten Generationskonflikt sollte vielmehr der durch "Achtundsechzig" deutlich verschärfte Geschlechterkonflikt betont werden. Denn die Frauengruppen und Kinderläden, die 1968 von den Frauen im SDS gegründet wurden, waren der Beginn der zweiten deutschen Frauenbewegung und wurden ergänzt durch zahllose private Auseinandersetzungen über geschlechtsspezifische Aufgabenteilung in der Familie. Die 68erinnen waren mehr als die namenlosen Anhängsel der Genossen oder die "Bräute" der Revoluzzer – sie waren Akteurinnen, die einen langfristig wichtigen gesamtgesellschaftlichen Wandel anstießen, selbst wenn dies von den zeitgenössischen Massenmedien nicht erkannt wurde. Dieser antipatriarchalische Impuls bleibt ein wichtiger Teil des antiautoritären Erbes von "Achtundsechzig".

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe dazu auch die Ausgabe der APuZ 5–7/2017 mit dem Schwerpunkt "1967" (Anm. d. Red.).

  2. Vgl. Christina von Hodenberg/Detlef Siegfried (Hrsg.), Wo "1968" liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2006; Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000; Udo Wengst (Hrsg.), Reform und Revolte. Politischer und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik vor und nach 1968, München 2011.

  3. Rede auf dem AfD-Parteitag, 30.6.2018, youtu.be/td4TWDwfQVs, ab Minute 32:20.

  4. Alexander Dobrindt, "Wir brauchen eine bürgerlich-konservative Wende", in: Die Welt, 4.1.2018.

  5. Vgl. Christina von Hodenberg, Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte, München 2018, Kap. 2; Eckard Michels, Schahbesuch 1967. Fanal für die Studentenbewegung, Berlin 2017, S. 298, S. 239ff.; Timothy S. Brown, West Germany and the Global Sixties. The Anti-Authoritarian Revolt 1962–1978, Cambridge 2013, S. 45ff.

  6. Vgl. Joachim Neander, Berlin als Exerzierfeld für Revolutions-Modelle sowie Fred Schaffert, Rudi Dutschke wiegelt auf, in: Welt am Sonntag, 17.6.1967, S. 4; Lutz Horst, Anzeige gegen Anwalt der Studenten, in: BILD (Berlin), 28.8.1967, S. 1; Demonstranten entlasten Fritz Teufel, in: Die Welt (Berlin), 5.12.1967, S. 6.

  7. Vgl. Berlin/Studenten: Nein, nein, nein, in: Der Spiegel, 5.6.1967, S. 46–59.

  8. Zitate Meike Vogel, Unruhe im Fernsehen. Protestbewegung und öffentlich-rechtliche Berichterstattung in den 1960er Jahren, Göttingen 2010, S. 226, S. 201, vgl. S. 120.

  9. Vgl. ebd., S. 203, S. 207f.; Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 679f.; Ingo Cornils, Writing the Revolution. The Construction of "1968" in Germany, Rochester 2016, S. 154ff.

  10. Vgl. Martin Stallmann, Die Erfindung von "1968". Der studentische Protest im bundesdeutschen Fernsehen 1977–1998, Göttingen 2017.

  11. Vgl. u.a. Götz Aly, Unser Kampf 1968 – ein irritierter Blick zurück, Frankfurt/M. 2008; Siegward Lönnendonker/Bernd Rabehl/Jochen Staadt, Die antiautoritäre Revolte. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund nach der Trennung von der SPD, Wiesbaden 2002; Wolfgang Kraushaar, Achtundsechzig. Eine Bilanz, Berlin 2008.

  12. Vgl. Anna von der Goltz, A Polarized Generation? Conservative Students and West Germany’s "1968", in: dies. (Hrsg.), "Talkin’ ’bout my Generation". Conflicts of Generation Building and Europe’s "1968", Göttingen 2011, S. 195–215; Daniel Schmidt, "Die geistige Führung verloren". Antworten der CDU auf die Herausforderung "1968", in: Franz-Werner Kersting/Jürgen Reulecke/Hans-Ulrich Thamer (Hrsg.), Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955–1975, Stuttgart 2010, S. 85–107; Anna von der Goltz, Making Sense of East Germany’s 1968. Multiple Trajectories and Contrasting Memories, in: Memory Studies 6.1/2013, S. 53–69; Kristina Schulz, Der lange Atem der Provokation. Die Frauenbewegung in der Bundesrepublik und in Frankreich 1968–1976, Frankfurt/M.–New York 2002; Elisabeth Zellmer, Töchter der Revolte? Frauenbewegung und Feminismus der 1970er Jahre in München, München 2011; Ute Kätzel (Hrsg.), Die 68erinnen. Porträt einer rebellischen Frauengeneration, Berlin 2002; Morvarid Dehnavi, Das politisierte Geschlecht. Biographische Wege zum Studentinnenprotest von "1968" und zur Neuen Frauenbewegung, Bielefeld 2013.

  13. Vgl. Benjamin Ziemann, Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914–1923, Essen 1997, S. 39ff.; Jeffrey Verhey, Der "Geist von 1914" und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000, S. 374ff.

  14. Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1: 1700–1815, München 1987, S. 6–31.

  15. Vgl. Kristin Ross, May 68 and Its Afterlives, Chicago 2008; Michelle Zancarini-Fournel, Le moment 68. Une histoire contestée, Paris 2008; Julian Jackson, The Mystery of May 1968, in: French Historical Studies 4/2010, S. 625–653; ders./Anna-Louise Milne/James S. Williams (Hrsg.), May 68. Rethinking France’s Last Revolution, Basingstoke 2011.

  16. Vgl. Sara M. Evans, Sons, Daughters, and Patriarchy. Gender and the 1968 Generation, in: American Historical Review 2/2009, S. 331–347; Maud Anne Bracke, One-dimensional Conflict? Recent Scholarship on 1968 and the Limitations of the Generation Concept, in: Journal of Contemporary History 3/2012, S. 638–646.

  17. Vgl. etwa Wehler (Anm. 14), Bd. 5: 1949–1990, München 2008, S. 310ff., S. 185ff.; Aly (Anm. 11); Dirk Moses, German Intellectuals and the Nazi Past, Cambridge 2007; Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973, Göttingen 2006; Kersting/Reulecke/Thamer (Anm. 12).

  18. Vgl. Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008; Martin Klimke, The Other Alliance. Student Protest in West Germany and the United States in the Global Sixties, Princeton 2011; Anne Rohstock, Von der "Ordinarienuniversität" zur "Revolutionszentrale"? Hochschulreform und Hochschulrevolte in Bayern und Hessen 1957–1976, München 2010; Nikolai Wehrs, Protest der Professoren. Der "Bund Freiheit der Wissenschaft" in den 1970er Jahren, Göttingen 2014.

  19. Vgl. Christina Benninghaus, Das Geschlecht der Generation. Zum Zusammenhang von Generationalität und Männlichkeit um 1930, in: Ulrike Jureit/Michael Wildt (Hrsg.), Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005, S. 127–158.

  20. Zum Prozess der "Generationsrede" Benjamin Möckel, Erfahrungsbruch und Generationsbehauptung. Die "Kriegsjugendgeneration" in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften, Göttingen 2014, S. 9, S. 16f. Vgl. Bernd Weisbrod, Generation und Generationalität in der Neueren Geschichte, in: APuZ 8/2005, S. 3–9.

  21. Axel Schildt, Überbewertet? Zur Macht objektiver Entwicklungen und zur Wirkungslosigkeit der "68er", in: Wengst (Anm. 2), S. 88–102, hier S. 93.

  22. Vgl. Jenny Pleinen/Lutz Raphael, Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften. Erkenntnispotentiale und Relevanzgewinne für die Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2/2014, S. 173–196.

  23. Zum Studiendesign und -team vgl. von Hodenberg (Anm. 5), S. 22, S. 26ff., S. 39f., S. 68ff.

  24. Der Bestand, mit über 3000 Stunden Gesprächen, liegt im Historischen Datenzentrum der Universität Halle. Zum Sample vgl. Maria Renner, Strukturen sozialer Teilhabe im höheren Lebensalter mit besonderer Berücksichtigung der sozialen Beziehungen zwischen den Mitgliedern der erweiterten Kernfamilie, Dissertation Bonn 1969, S. 42, S. 46.

  25. BOLSA-Bestand (Anm. 24), A17; Helga Margarete Merker, Generations-Gegensätze. Eine empirische Erkundungsstudie über die Einstellung Erwachsener zur Jugend, Darmstadt 1973.

  26. Vgl. von Hodenberg (Anm. 5), S. 55ff.; Piotr Oseka/Polymeris Voglis/Anna von der Goltz, Families, in: Robert Gildea/James Mark/Anette Warring (Hrsg.), Europe’s 1968. Voices of Revolt, Oxford 2013, S. 51; Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall, Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt/M. 2002; Detlef Siegfried, Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006, S. 65ff.

  27. Klassisch etwa bei Thomas A. Kohut, A German Generation. An Experiential History of the Twentieth Century, New Haven 2012; Karin Wetterau, 68. Täterkinder und Rebellen, Bielefeld 2017.

  28. Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008, S. 87, S. 84; vgl. Aly (Anm. 11).

  29. Vgl. Schulz; Zellmer; Kätzel; Dehnavi (alle Anm. 12).

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ist Direktorin des Deutschen Historischen Instituts London und Professorin für Europäische Geschichte an der Queen Mary University of London. E-Mail Link: c.hodenberg@qmul.ac.uk