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Deutschland, Europa und der Irakkonflikt | Irak | bpb.de

Irak Editorial Eine neue Ordnung im Nahen Osten - Chance oder Chimäre? Deutschland, Europa und der Irakkonflikt Unilateral oder multilateral? Motive der amerikanischen Irakpolitik Medien und öffentliche Meinung im Irakkrieg Die Rolle der UNO und des Sicherheitsrates im Irakkonflikt Die politischen Kräfte im Irak nach dem Regimewechsel Neubeginn oder "neue Katastrophe"? Auswirkungen des Irakkrieges auf die arabischen Nachbarstaaten

Deutschland, Europa und der Irakkonflikt

Christian Hacke

/ 26 Minuten zu lesen

Der Autor unterzieht die Haltung der rot/grünen Bundesregierung im Irakkonflikt einer kritischen Würdigung.

I. Rückblick: Der Irakkonflikt im Lichte des 11. September 2001

Der Angriffskrieg auf den Irak im März/April 2003 durch die USA und ihre "Koalition der Willigen" markiert nach dem 11. September 2001 einen weiteren Einschnitt in der Weltpolitik mit Folgen für die transatlantischen Beziehungen. Stand Europa noch im Zuge des Terrorangriffs vom 11. September geschlossen auf der Seite der USA, so wurde die Haltung gegenüber der Irakpolitik der Regierung von George W. Bush zum Spaltpilz für Europa, weil Washington Antiterrorbekämpfung, Bedrohung durch Schurkenstaaten und die Gefahr der Massenvernichtungswaffen argumentativ so variierte, dass weltweites Misstrauen um sich griff. Die neue präventive Militärstrategie, das manichäische Weltbild und der schroffe Unilateralismus wirkten ebenso befremdlich. Die USA - unterstützt von Großbritannien - erzwangen die Wiedereinsetzung der UNO-Waffeninspekteure, was von allen Staaten des UN-Sicherheitsrates durch die Resolution 1441 unterzeichnet wurde. Die Meinungsunterschiede traten in der Frage des Automatismus zutage: Legitimierte diese Resolution bei Nichtbefolgung einen Angriff auf den Irak?


II. Der "deutsche Weg" des kategorischen Nein

War es in der Vergangenheit zu Unstimmigkeiten mit den Amerikanern gekommen, so hatte Deutschland stets subtil gehandelt und in der Regel auch erfolgreich zwischen den USA und den verschiedenen europäischen Hauptstädten vermitteln können. Deutschlands respektabler Handlungsspielraum in Europa und im transatlantischen Verhältnis war nicht zuletzt im Zuge dieser transatlantischen Maklerrolle entstanden. Mit der Propagierung des "deutschen Weges" zur amerikanischen Irakpolitik rückte die Regierung Schröder/Fischer von dieser Vorgehensweise ab. Die Gründe für das ebenso frühzeitig wie kategorisch erklärte deutsche "Nein" zum Irakkrieg liegen nicht nur in der gegensätzlichen Bewertung des Irak, sondern tiefer: Die Differenzen kündigten sich schon in den neunziger Jahren an, doch erst die weltanschaulich-politische Machtverschiebung in Deutschland nach "links" und die unter Bush nach "rechts" ließen diplomatische Kompromisse, wie sie noch zwischen Clinton und Kohl wie auch Schröder möglich waren, nicht mehr zu. Amerikas Außenpolitik wurde mit dem Amtsantritt von Präsident Bush zunehmend militarisiert, unilateral und hegemonial ausgerichtet, während die Deutschen und Europäer mehr die zivile, multilaterale und völkerrechtliche Dimension von Außenpolitik bevorzugen.

So überrascht es nicht, dass Europa und vor allem Deutschland die diplomatischen Aktivitäten der USA im Vorfeld des Irakkrieges mit Unbehagen beobachteten. Berechtigte Bedenken wurden im Vorfeld des Krieges von Deutschland formuliert, allerdings in Washington überhört, nicht zuletzt weil sie zu undiplomatisch und in öffentlicher Aufdringlichkeit geäußert worden waren. Es war kein Ausweis von diplomatischer Raffinesse, der amerikanischen Arroganz der Macht eine deutsche Arroganz der Ohnmacht entgegenzustellen. Berlin besitzt keine "weichen" und schon gar keine "harten" Machtressourcen, um ein entschlossenes Amerika von seinem Kurs abzubringen. Doch im September 2002 kam es zum Eklat, als der Bundeskanzler wahlkampfbedingt den Irakkrieg thematisierte und den "deutschen Weg" propagierte. Mit Schröders Erklärung, Deutschland werde sich - ob mit oder ohne UNO-Mandat - auf keinen Fall an einem Krieg gegen den Irak beteiligen, nahm er Deutschland alle außen- und sicherheitspolitischen Handlungsoptionen; von nun an war klar, dass die USA und Teile der EU nicht mehr mit Deutschland in der Irakdiplomatie rechnen konnten.

Die Irakfrage war kompliziert, doch stellten das kategorische, frühzeitige deutsche Nein zum Krieg gegen den Irak, das Ausscheren aus der militärischen Drohkulisse, die damit verbundene machtpolitische Schwächung der UNO und ihres angestrebten Inspektionsregimes einen tiefen Bruch in der traditionellen bundesrepublikanischen Außenpolitik dar, weil "genetisch bedingter" Multilateralismus aufgegeben und die Vormachtrolle der USA in Berlin nicht mehr als Schutz, sondern als Gefahr interpretiert wurde. Deutschland gab ohne Not seine exklusive Rolle gegenüber den USA und seine Maklerrolle im Viereck Washington-London-Paris-Bonn/Berlin auf und verlor an Handlungsspielraum.

Als durch den Ultimatumsvorschlag des britischen Außenministers Jack Straw Saddam Hussein gezwungen wurde, die UNO-Inspekteure wieder ins Land zu lassen, wurde ohne, ja gegen Deutschlands Votum das richtige diplomatische Eingangstor betreten. Doch ging es nicht mehr allein um den Irak, sondern um die Frage, ob der Bundeskanzler nicht grundsätzliche außenpolitische Interessen gefährdete, die ohne den Rückhalt der USA nicht durchgesetzt werden können. Bundeskanzler und Außenminister hätten spätestens jetzt abwägen müssen, ob es weiter im Interesse Deutschlands lag, sich mit moralischen Appellen und unter Anklage der USA als Kriegstreiber zur Friedensmacht gegen den Krieg zu stilisieren oder ob nicht zentrale eigene Interessen, wie die Beziehungen zu den USA, einen Kurswechsel, vor allem einen anderen Umgangston nötig gemacht hätten. Doch statt vorsichtig diplomatisch vorzugehen, um weitere Handlungsspielräume im Verlauf der Krise offen zu halten, bekräftigte der Bundeskanzler im Landtagswahlkampf in Niedersachsen im Januar 2003 das kategorische Nein - ohne die Ergebnisse der Waffeninspekteure abzuwarten -: "Rechnet nicht damit, dass Deutschland einer den Krieg legitimierenden Resolution zustimmen wird", erklärte Bundeskanzler Schröder auf einer Wahlkampfveranstaltung in Goslar. Damit ging er den "deutschen Weg" konsequent weiter. Es konnte der Eindruck entstehen, dass sich Schröder und sein Außenminister Joschka Fischer weniger als Diplomaten, sondern eher als Widersacher der USA verstanden. Beide waren nicht gewillt, ihre kritischen Argumente geschickt und geschmeidig darzulegen, wie dies Großbritannien und Frankreich bis Januar 2003 taten, als es Frankreich gelang, die Verlängerung der Inspektionen im Irak um zwei Monate durchzusetzen. Damit konnte erneut die Kriegsgefahr gebannt und doppelter Druck ausgeübt werden: gegenüber dem Irak, aber auch gegenüber den USA.

Während Frankreich und vor allem Großbritannien die eigenen Interessen betonten und im Kalkül der USA eine Rolle spielten, war Deutschland nach Goslar für die USA kein ernst zu nehmender Partner mehr, von Freundschaft konnte längst keine Rede mehr sein, weil sich Deutschland neben Frankreich zur führenden amerikakritischen Macht in Europa stilisierte und weiter an außenpolitischem Handlungsspielraum verlor. Die rot-grüne Bundesregierung konnte, ja wollte sich politisch offensichtlich nicht mehr auf Augenhöhe mit den anderen europäischen Mächten geschweige mit den USA bringen, wenn Außenminister Fischer selbst die deutsche Rolle folgendermaßen einschränkte: "Frankreich spielt eine sehr bedeutende Rolle in der Weltpolitik. Es hat auch eine eigene Vision von seiner globalen Rolle. Es hat eine andere Geschichte als wir. Es ist ständiges Sicherheitsratsmitglied, es ist Atommacht. Zudem hat es gemeinsam mit dem Vereinigten Königreich eine große Geschichte, während unser Land eine gebrochene Geschichte hat. (Wir) können unser Land mit Frankreich und Großbritannien nicht gleichsetzen."

Wer eigene Handlungsunfähigkeit derart begründet, verkennt nicht nur die eigenen außenpolitischen Möglichkeiten, sondern hat bei der Fixierung auf den Nationalsozialismus andere Lektionen der Zeitgeschichte übersehen: Von 1949 bis 1989 entwickelten die Bundesregierungen von Adenauer bis Kohl eine außenpolitische Struktur, die mit Blick auf Erfolg und Ansehen in der Welt ihresgleichen in der deutschen Geschichte sucht. Außenpolitik war im Bewusstsein der Schrecken der eigenen Geschichte vor 1945 auf Versöhnung und Ausgleich angelegt, also auch moralisch und zivilisatorisch begründet, ohne dass die politisch Verantwortlichen in Bonn dies penetrant bekundet hätten. Vor allem zeigte sich die Regierung Schröder/Fischer nicht in der Lage, den Krieg gegen den Diktator Saddam Hussein aus der eigenen Geschichte heraus, d. h. im Vergleich zu Hitlers Diktatur, und unter Berücksichtigung der historischen Verdienste der USA als Befreier auch nur im Ansatz verstehen oder erklären zu wollen.

Zugegeben, angesichts der neuen, ja unerwarteten neoimperialen außenpolitischen Gebärden der Regierung Bush war eine angemessene, d.h. den deutschen Interessen gemäße Reaktion aus Berlin außerordentlich schwierig, aber der Arroganz der Macht derart mit einer gewissen Arroganz der Ohnmacht zu antworten, verbesserte nicht Deutschlands Handlungsspielraum. Die Bundesregierung Schröder/Fischer riskierte mehr, als nur in der Irakfrage zu scheitern. Sie gefährdete gewachsene Bindungen: Vertrauen und Berechenbarkeit deutscher Außenpolitik vor allem im transatlantischen Raum schmolzen dahin. Deutschland hatte jahrzehntelang eine für politische Balance zwischen den Polen Washington - Paris - London ein atlantisch verankertes Europa garantiert und dabei auch ein Gegengewicht zu Frankreichs Vision von einem europäischen Europa in der Tradition de Gaulles gebildet. Durch kraftvolle Integrationsentwürfe hatte die Bundesrepublik von Adenauer bis Kohl den Grundsatz hochgehalten, dass sowohl enge Beziehungen zu den Vereinigten Staaten als auch zu Frankreich gepflegt werden, gerade in Krisen und bei Interessenverschiebungen. Die sanfte Hegemonie der USA wurde jahrzehntelang von deutscher Seite als Stabilitätsfaktor begrüßt, denn Deutschland empfand Amerikas Vormacht nicht als be-, sondern als entlastend. Aber jetzt erweckte die Bundesregierung den Anschein, als ob sie die Politik der USA durch Bildung von Gegenkoalitionen zu unterminieren suchte. Hier liegt der revolutionäre Wechsel der deutschen Außenpolitik begründet: Sie interpretierte die deutsch-amerikanischen Beziehungen konfrontativ und gefährdete damit den Einfluss deutscher Außenpolitik.

Auch war es problematisch, dass Berlin gleichzeitig in den antiamerikanischen Sog Frankreichs rückte. 40 Jahre nach Unterzeichnung des deutsch-französischen Vertrags von 1963 wurde bei den Feierlichkeiten in Paris diesem Ereignis eine neue amerikakritische Spitze gegeben, als Chirac und Schröder gemeinsame Kritik an der Irakpolitik der USA zum Anlass nahmen, die Vision eines europäischen Europas in Distanz zu den USA zu entwickeln.

Es kam, wie es kommen musste: Die UNO-Diplomatie der USA-Kritiker scheiterte, Washington setzte seine Position wider das Völkerrecht rücksichtslos durch. Mit dem Zusammenbruch des Regimes in Bagdad brach auch Deutschlands unerfahrene und hilflose Irakdiplomatie zusammen. Doch die Trümmer von Deutschlands Außenpolitik liegen weiter verstreut: im deutsch-amerikanischen Verhältnis, in der UNO und vor allem in Europa.

III. Die Position der mittel- und osteuropäischen Staaten

Heute wird deutlich, dass im Zuge der Irakkrise wichtige Staaten Europas, auch viele Regierungen der neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa, nicht gewillt sind, dem französisch-deutschen Tandem zu folgen. Dies wird im Rückblick auf die mittel- und osteuropäische Entwicklung nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums und nach dem Fall der Mauer erklärlich. Innenpolitisch wurde das kommunistische Joch abgeschüttelt, außenpolitisch suchte man die Nähe und Unterstützung des Westens. Der Bundesrepublik kam dabei eine besondere Bedeutung zu: Willy Brandts Ostpolitik im Zeichen von Entspannung hatte nicht nur den Weg für mehr Zustimmung zur Wiederherstellung der deutschen Einheit freigemacht, sondern war für die vom Kommunismus befreiten Völker ein Zeichen für Hoffnung auf Hilfe und Kooperation. Würde das vereinte Deutschland seine Beziehungen mit den von Moskau befreiten Völkern intensivieren oder mit dem neuen Russland Gemeinsamkeiten suchen? Die deutsche Ostpolitik der neunziger Jahre stand im Zeichen des Bemühens um beides. Moskau wurde umworben, und mit den neuen Demokratien suchte Deutschland Aussöhnung und Kooperation. Doch erst in der historischen Distanz wird sich zeigen, ob Berlin nicht zu einseitig auf Moskau setzte und dadurch die Erwartungshaltung vieler mittel- und osteuropäischer Völker enttäuscht hat.

So hätte Deutschland gegenüber den drei baltischen Staaten aufgrund jahrhundertealter nachbarschaftlicher Beziehungen eine Schlüsselrolle einnehmen können, die jedoch verpasst wurde. Weil Deutschland keine couragierte Rolle mit Blick auf die Sicherheitsbedürfnisse der Mittel- und Osteuropäer einnahm, wurden im Zuge der Osterweiterung der NATO die USA zum Fixpunkt mittel- und osteuropäischer Sicherheitsinteressen. Auch für die geplante Aufnahme der baltischen Staaten in die EU im Zuge einer zweiten Erweiterungsrunde gilt das Prinzip: "Nato is for life, EU is for a better life." Die Mittel- und Osteuropäer verfolgen bislang eine geschickte Gleichgewichtsdiplomatie: In der Sicherheitspolitik wird die Nähe zur NATO, insbesondere zu den USA, gesucht, während wirtschaftspolitisch gute Beziehungen zu den EU-Staaten und besonders zu Deutschland gepflegt werden.

Doch mit Beginn der Regierung Schröder/Fischer stieg die europapolitische Skepsis in den Hauptstädten Mittel- und Osteuropas, weil Deutschland auf Westeuropa fixiert blieb und nur wenig Interesse nach Osten hin zeigte. Die USA hingegen verstärkten ihre Aktivitäten im Herzen Europas seit dem Amtsantritt von Präsident Bush. Kein Wunder, dass ihm die Sympathien zuflogen, als er auf dem NATO-Gipfel in Prag im Herbst 2002 sein Eintreten für die Interessen Mittel- und Osteuropas öffentlich bekräftigte. Eine andere "uneingeschränkte Solidarität" zwischen Mitteleuropäern und den USA zeigte sich auch im begeisterten Empfang für Bush in Vilnius im Anschluss an den NATO-Gipfel.

Vor diesem Hintergrund wird die Unterstützung vieler mittel- und osteuropäischer Staaten und Regierungen für die Irakpolitik des amerikanischen Präsidenten erklärbar. Ihre Solidaritätsbekundungen waren auch Beweis für kluge Interessenpolitik. Man verstand schnell, dass Amerikas Eintreten für Mittel- und Osteuropa nur dann gesichert wird, wenn umgekehrt die mittel- und osteuropäischen Regierungen die Interessen der USA im Irak nicht in Frage stellen, sondern sie öffentlich unterstützen. Konsequenterweise wurden die innereuropäischen Verbindungen wie z.B. das Bündnis Polens mit Deutschland und Frankreich im sog. "Weimarer Dreieck" von der neuen Interessenverknüpfung mit den USA überlagert. So ließ der polnische Ministerpräsident Leszek Miller keinen Zweifel daran, dass Polen im Falle einer Wahl zwischen Westeuropa oder amerikanischen Sicherheitsgarantien im Rahmen der NATO sich für Letztere entscheiden würde.

Millers Unterzeichnung des "Briefs der Acht" als Solidaritätsbekundung für die Irakpolitik der USA ohne vorherige Konsultation Berlins war eine klare Absage an den deutschen Weg, der als Bruch des transatlantischen Verhältnisses, ja als Einflussverlust deutscher Ostpolitik verstanden wird. Dass man zu Amerika stehen müsse, war nicht nur für die polnische Regierung, sondern über Parteigrenzen hinweg für die gesamte polnische politische Klasse eine Selbstverständlichkeit, auch wenn die Mehrheit der polnischen Bevölkerung - hier ganz "europäisch" und ungespalten - gegen den Krieg eingestellt war. Ebenso wie Bulgarien, wo das Parlament am 7. Februar 2003 mit breiter Mehrheit - 165 Ja-Stimmen, keine Gegenstimmen und 48 Enthaltungen - auf Ersuchen der USA die Genehmigung zur Beteiligung des Landes an einer Militäroperation gegen den Irak erteilt hat, obwohl eine Mehrheit der Bevölkerung einen Militärschlag gegen den Irak ablehnte, zeigten sich auch Ungarn, Rumänien, die Slowakei und Tschechien in der Irakfrage gespalten. Obwohl 71 Prozent der Rumänen einen Krieg an der Seite der USA gegen den Irak ablehnten, erklärte die rumänische Regierung ihre Bereitschaft, "jede, einschließlich militärische Unterstützung" zu leisten. Während rund 76 Prozent der tschechischen Bevölkerung einen Militärschlag gegen den Irak ohne UNO-Mandat ablehnten und sich 62 Prozent der Befragten gegen eine Stationierung amerikanischer Truppen auf tschechischem Territorium aussprachen, betonte der scheidende tschechische Staatspräsident Vaclav Havel als letzte Amtshandlung seine Verbundenheit mit den USA auch in der Irakfrage. Im Unterschied zu Deutschland zeigten die Regierungen in Mittel- und Osteuropa Mut zur Unpopularität, sie handelten in der Außenpolitik interessenorientiert.

IV. "Alt" gegen "Neu": Der Irak- konflikt als Spaltpilz Europas?

Der "Brief der acht", von den Staats- bzw. Regierungschefs von fünf EU-Mitgliedsländern, allen voran Großbritanniens Premierminister Tony Blair, sowie den EU-Kandidatenländern Tschechien, Ungarn und Polen unterzeichnet, hat Europa in der zentralen Frage der transatlantischen Solidarität vermeintlich in "alt" und "neu" gespalten. Zum "alten" Europa zählen nach Verteidigungsminister Donald Rumsfeld seit dem 22. Januar 2003 Frankreich und Deutschland; ihm gegenüber steht das "neue", mittelöstliche Europa der EU-Beitrittsländer. Jenseits der Begrifflichkeit "alt" und "neu" sind die Interessengegensätze in Europa offenkundig. Am Beispiel Polen und Frankreich zeigen sich diese am deutlichsten. Kein anderes europäisches Land verfügte 1989 über ein so großes politisches und kulturelles Kapital in Polen wie Frankreich. Dass die französisch-polnischen Beziehungen außerhalb des symbolischen "Weimarer Dreiecks" heute trotzdem im Argen liegen, hat zwei Gründe: Frankreich entwickelte sich zum Opponenten der EU-Osterweiterung und wegen seiner Kritik an der NATO und den USA zum Risikofaktor aus mittel- und osteuropäischer Sicht. Umgekehrt sieht Paris Polen als trojanisches Pferd der Amerikaner in Europa.

Der von Warschau mit unterzeichnete "Brief der acht" hat folglich eine antifranzösische Spitze, die die Reaktion des französischen Präsidenten am 18. Februar 2003 in Brüssel erklärt: Die "leichtfertigen" und "ahnungslosen" EU-Beitrittskandidaten hätten "eine gute Gelegenheit zum Schweigen" verpasst. Damit heizte er in Mittel- und Osteuropa die antifranzösische Stimmung weiter an. Frankreich versteht offensichtlich die EU-Erweiterung als "Gnade, die den Ländern in unserem Teil Europas gewährt wird, und nicht als historischen Prozess, der den Kontinent vereint und seine Stabilität für Generationen garantiert". Der französische Präsident sieht die ehemaligen Ostblockstaaten heute in der gleichen Lage wie Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Er befürchtet, dass sie sich, vor die Wahl zwischen einem Europa à la française und einem "angelsächsischen" Europa gestellt, für Letzteres entscheiden. Weil Deutschland als Makler zwischen angelsächsischem und französischem Europa im Zuge der Irakkrise aus- und in die Rolle des französischen Juniorpartners zurückfiel, und damit auch seine eigenständige mittel- und osteuropäische Maklerrolle aufgab, blieb Mittel- und Osteuropäern keine andere Wahl, als die Nähe der Angelsachsen zu suchen. Auch an dieser Polarisierung zwischen altem und neuem Europa ist Berlin nicht ganz schuldlos.

Außenminister Fischers Charakterisierung des deutsch-französischen Verhältnisses gegenüber der Bush-Administration als "Partnerschaft im Widerspruch" vermittelt den Eindruck von Ratlosigkeit angesichts der Heftigkeit, mit der Jacques Chirac auf die teileuropäische Solidaritätserklärung an die Adresse Washingtons reagierte. Doch ist jetzt über die Irakfrage hinaus in Europa ein diplomatischer "Krieg um die Deutung Europas" ausgebrochen, bei dem Deutschland nicht mehr für ein atlantisches Europa eintritt und folglich auch in Mittel- und Osteuropa als ehemalige "Zentralmacht Europas" an Einfluss verliert. Weil Deutschlands Qualitäten und Fähigkeiten zum Ausgleich in Europa und mit den USA gerade in Krisenzeiten vermisst werden, gerät die europäische Staatenfamilie außer Rand und Band. Das wurde schon deutlich, als Deutschland im Vorfeld des Krieges nicht mehr ausgleichend zwischen Großbritannien und Frankreich wirkte und konsequenterweise beide Staaten sich gegenseitig den Weg zu einer gemeinsamen europäischen Position verstellten und damit auch den Bruch der gewachsenen europäischen Beziehungen innerhalb und außerhalb der Gemeinschaftsinstitutionen riskierten. Tony Blair wurde noch stärker an die Seite der USA gezwungen, während Jacques Chirac in der Tradition von Richelieu als europäischer Herkules die antiamerikanische Keule über ganz Europa schwang.

Ungehemmt macht sich Chirac zum Sprecher des alten Europa, um dem Unilateralismus der "Hypermacht", so der frühere französische Außenminister Hubert Védrine, in der UNO einen Riegel vorzuschieben. Weil Frankreich und Russland als Schlüsselstaaten Europas "mit Deutschland als Frankreichs Anhängsel" Europa konfrontativ in dieser weltpolitischen Krise gegen die USA in Stellung zu bringen suchen, geht mehr als die Irakdiplomatie des Westens zu Bruch. Die Vision eines "karolingischen Europas" verdrängt die des bewährten "atlantischen Europas". Doch die Atlantiker in Europas Hauptstädten revoltieren, und deshalb ist Europa heute gespaltener denn je. Die Gemeinschaftsinstitutionen versagen angesichts dieser abrupten Polarisierung nationaler Interessen. So könnte bald die europäische Integration im traditionellen Verständnis zusammenbrechen, wenn Frankreich, Deutschland und Russland sich weiter dauerhaft zusammenfinden mit dem Ziel, die "hegemonialen USA" einzudämmen. Eine zunehmend amerikakritische Integration wird an Gefolgschaft verlieren. Oder sollte wider Erwarten die Erfahrung der Ohnmacht der Europäer beim Irakkrieg die europäischen Sicherheits- und Verteidigungsbemühungen dynamisieren? Zumindest war Jacques Chirac erstaunt, als er angesichts der weltweiten Opposition gegen den Irakkrieg plötzlich von einer Welle der Popularität getragen wurde und nicht weniger als 52 afrikanische Regierungen auf seinen Antikriegskurs einzuschwören vermochte. Dabei verfolgte "Monsieur Iraque", wie Chirac in Frankreich genannt wird, wichtige Öl- und Wirtschaftsinteressen in Bagdad, die durch den Krieg verloren gehen. Da auch Putin mit Saddam Hussein gemeinsame Interessen verbanden, verbündeten sich Chirac und Putin zusammen mit Deutschland als verstärkender Achsenmacht gegen die Irakpolitik der USA. Mit Putin rückte für Chirac sogar de Gaulles Vision von einem "Europa vom Atlantik bis zum Ural" in Reichweite. In diesem Sinne artikulieren französische Intellektuelle wie Emmanuel Todd: "Hält man den alten Ost-West-Gegensatz für überwunden, erscheint es als völlig natürlich und normal, dass Frankreich, Deutschland und Russland sich zusammenfinden, um die hegemonialen USA im Nahen Osten einzudämmen."

Doch was des einen Euphorie, ist des anderen Alptraum. Empfinden sich Frankreich, Deutschland und Russland im Frühjahr 2003 als Avantgarde Europas, so fühlen sich insbesondere Polen, Ungarn und Tschechen an schlimme Zeiten wie 1938 erinnert. Die Polen denken an 1939, als Russland und Deutschland sich auf den Überfall Polens einigten und Frankreich seine Verbündeten im Stich ließ.

Die deutschen Ideen eines Kerneuropas, Chiracs Vorstellung einer groupe pionnier oder das Modell vom Gravitationszentrum von Außenminister Fischer wirken heute weltfremd, denn der Irakkrieg hat Europa nachhaltig gespalten. Porzellan wird derzeit in Europa zerschlagen; es mag notdürftig gekittet werden, aber an Glanz und Wert hat es allemal verloren. Auch deshalb werden die zehn zu erwartenden neuen Mitglieder der EU der französisch-deutschen Avantgarde nicht mehr folgen, denn das Tandem Paris-Berlin wird für eine doppelte Spaltung mitverantwortlich gemacht: für die innereuropäische und für die transatlantische.

V. Die Irakkrise als Katalysator Europas?

Europa muss sich heute auf zwei Perspektiven einstellen: Angeführt von Großbritannien, Spanien und Polen wird in der einen Richtung ein atlantisches und zugleich sich kraftvoll nach Osten erweiterndes Europa angestrebt, wobei die regionale und globale Ordnungsfunktion der USA auf ausdrückliche Zustimmung stößt. Doch angesichts der Dynamik und der wachsenden Überlegenheit der Regierung Bush wird auch in diesem transatlantischen Verbund eine verstärkte Unipolarität sichtbar. Diese Vision einer atlantischen Zivilisation stützt sich auf die angelsächsische "special relationship" und auf neue Partner wie Spanien, Italien, Polen und andere. Deutschland spielt hier derzeit keine Rolle mehr, allenfalls die des Störenfrieds.

Die zweite, "karolingische" Perspektive entwickelt sich unter der Führung Frankreichs mit deutsch-russischer Gefolgschaft, die vor allem in Washington, aber auch in Mittel- und Osteuropa wie auch in Westeuropa auf Skepsis und Kritik stößt.

Beide Perspektiven, die atlantisch-kontinuierliche wie auch die neu-karolingische, prallen derzeit fast kompromisslos aufeinander, sodass der Wunsch, die Irakkrise als Katalysator für Fortschritte in der EU zu verstehen, "wenn alle den politischen Willen für Reformen aufbringen", derzeit als illusorisch erscheint. Trotzdem versucht man in Paris, Berlin und im EU-Verfassungskonvent den Eindruck zu erwecken, als ob "business as usual" möglich sei. Doch die von Paris und Berlin apostrophierte neue Eigenständigkeit Europas beruht weniger auf Fakten als vielmehr auf Wunschvorstellungen. Kritik an der amerikanischen Irakpolitik begründet noch lange keine eigenständige europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Vielmehr wird eine EU von 25 Mitgliedstaaten sich immer weniger auf eine geschlossene Außen- und Sicherheitspolitik einigen können, zumal in West- und Osteuropa das Unbehagen an einer Integrationslogik wächst, die sich lediglich gegen Amerika stellt, ohne klare eigene Perspektiven bzw. Handlungsfähigkeiten aufzeigen zu können. Integration entsteht nicht allein aus Trotz.

Dieser Eindruck kontrastiert mit der politischen Dynamik, die seit Amtsantritt der Regierung Bush in die Weltpolitik eingetreten ist. Wie immer man diese Politik bewertet, sie überrollt Europa, setzt neue Kräfte frei und lässt bisher bewährte Politik als anachronistisch erscheinen. Gerade der Erweiterungsprozess der NATO und die Partnerschaftsbeziehungen mit Staaten im eurasischen Raum belegen einen gestärkten amerikanischen Gestaltungswillen. Amerika ist und bleibt eine europäische, ja mittlerweile eurasische Macht. Deshalb gibt es keine Alternative zur Rekonstruktion der transatlantischen Beziehungen ohne Würdigung von Amerikas ordnungspolitischer Leistungsfähigkeit. Daraus folgt: Wer in Europa für Scheidung von den USA plädiert, gewinnt nicht an Einfluss über den amerikanischen Partner, sondern gibt ihn auf, ja macht ihn sich zum Gegner.

War die Geschichte der europäischen Integration bisher eine Geschichte von erfolgreich bestandenen Krisen, dann hinkte Europa außen- und sicherheitspolitisch nur deshalb voran, weil Amerika letztlich sicherheitspolitisch für und in Europa Ordnung schaffte. Seit Jahrzehnten bemühen sich die Europäer vergeblich um verbesserte europäische Rüstungskapazitäten, um Modernisierung der nationalen Streitkräfte sowie um eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Was in Anlehnung oder gemäßigter Distanz zu den USA und im Rahmen der alten, westeuropäisch ausgerichteten EU misslang, soll nun in Konfrontation zu den USA angesichts tiefer Spaltung Europas und mittel- und osteuropäischer Entfremdung zu Deutschland und Frankreich gelingen?

Deshalb erscheint die Planung gemeinsamer europäischer Rüstungsprojekte und eine Harmonisierung der nationalen Verteidigungsstrukturen in den Augen der meisten EU-Mitglieder als antiamerikanisches Komplott der "Viererbande", nicht jedoch als Ausdruck eines gemeinsamen außenpolitischen Grundverständnisses der EU. Mittlerweile versucht die Regierung Schröder/Fischer, diesem Projekt die antiamerikanische Spitze zu nehmen: Es soll keineswegs darum gehen, einen Gegenpol zu den Vereinigten Staaten bzw. zu den NATO-Strukturen zu bilden, so der Bundeskanzler, sondern lediglich darum, Partnerschaft zwischen der EU und den USA "auf gleicher Augenhöhe" herzustellen. Ja, hätte die Bundesrepublik in den vergangenen Jahren militärisch kraftvoll mitgewirkt, die Bundeswehr, die NATO und die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik entsprechend gestärkt und amerikanische Vorschläge zur Reform der NATO tatkräftig unterstützt, dann hätten Schröders Worte Gewicht. Aber Bundeskanzler und Außenminister haben in ihrer bisherigen Europa- und Sicherheitspolitik die militärischen Notwendigkeiten sträflich vernachlässigt. Auch deshalb bleibt der Vorschlag, Frankreich, Deutschland, Belgien und Luxemburg sollten den Kern einer europäischen Armee bilden, rhetorische Hülse, ja er könnte Europa spalten. Schon warnt Italien, dass es zusammen mit Spanien, Großbritannien und weiteren Staaten über sicherheitspolitische Alternativen nachdenkt.

Wo ist Europa organisatorisch, integrationspolitisch und weltpolitisch hingeraten? Wo ist Deutschland geblieben? Es wächst die bohrende Erkenntnis, dass Deutschland ein beträchtliches Maß an Mitschuld, wenn nicht sogar Hauptschuld für viele Fehlentwicklungen trägt. Die Bundesregierung hat die amerikakritische Atmosphäre in Deutschland und Europa mit verursacht. Auch dadurch werden alle entsprechenden europapolitischen Vorschläge, wie sie jetzt aus Berlin formuliert werden, vergiftet. Was abstrakt durchaus als überlegenswert erscheinen mag, wirkt auf dem Hintergrund der vergangenen Irakkrise fragwürdig und lädt zu Missbrauch bzw. Fehlinterpretation ein. Es entsteht der Eindruck, als wollten Paris und Berlin die proamerikanischen Europäer von London über Madrid und Rom bis nach Warschau abstrafen. Die Politik der Spaltung, die man der Regierung Bush unterstellt, betreibt man selbst. Wer vermag ernsthaft den Beteuerungen des Bundeskanzlers zu glauben, die Initiative solle den europäischen Pfeiler der NATO stärken, wenn zugleich von einem "Emanzipationsprozess nach außen" die Rede ist. Emanzipation als schroffe Absage an jahrzehntelange bewährte transatlantische Bündnisstrukturen und Gemeinschaftsinstitutionen steht in Wirklichkeit für Bruch. In Abkehr zur Praxis früherer Bundesregierungen wird atlantische Partnerschaft und europäische Einigung nicht mehr als Parallelunternehmen, sondern alternativ verstanden: Statt transatlantischer Partnerschaft wird der Scheidung das Wort geredet. Während Tony Blair die Auffassung vertritt, "dass wir eine polare Macht brauchen, die eine strategische Partnerschaft zwischen Europa und Amerika und auch andere Länder - Russland, China - umfasst", suchen Schröder und Chirac jetzt gemeinsam Europa gegen Amerika zu organisieren und weltpolitisch in Stellung zu bringen. Diese kleineuropäisch-kontinentale Perspektive des deutsch-französischen Tandems ist gefährlich, denn die (außen-)politische Geschichte der Bundesrepublik Deutschland der letzten fünfzig Jahre lehrt, dass sich deutsche Interessen, aber auch die der Europäer nicht kleineuropäisch verwirklichen lassen, sondern eher, wenn beide Seiten des Atlantiks im Bewusstsein einer sie verbindenden "atlantischen Zivilisation" (Hannah Arendt) gemeinsam handeln. Wenn die Westeuropäer auch oft über amerikanische Bevormundung klagten, realpolitisch profitierten sie von Amerika als europäischer Macht.

VI. Deutschland, Europa und die Zukunft der transatlantischen Beziehungen

Europa steht gegenwärtig nicht am Scheideweg, weil ein europäischer Bundesstaat um den Preis der Aufgabe von Nationalstaatlichkeit von der großen Mehrzahl der EU-Mitgliedstaaten abgelehnt wird, sondern mit Blick auf die Frage, ob es ein europäisches oder in bewährter Tradition ein atlantisches Europa wünscht. Deshalb müssen die Regierungen sich bald darüber verständigen, ob, wie und in welche Richtung transatlantische Partnerschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts erneuert werden soll. In Berlin ringen derzeit zwei Auffassungen miteinander: Einerseits erweckt die Bundesregierung den Eindruck, als ob ihr an einer Wiederherstellung der deutsch-amerikanischen Beziehungen gelegen sei. Andererseits nimmt die Bundesregierung von ihrer Kritik an der Regierung Bush offensichtlich wenig zurück und bleibt im politischen Windschatten Frankreichs. Auch wird zunehmender pauschaler Kritik an Amerika in Deutschland nicht genügend widersprochen. Das ist ein Zeichen dafür, dass die historische Leistung der Vereinigten Staaten für die deutsche Entwicklung der vergangenen 50 Jahre ebenso verdrängt wird, wie man alle denkbaren Parallelen zwischen Deutschland 1945 und Irak 2003 leugnet. 1945 waren die Amerikaner willkommene Befreier, heute werden sie in Berlin als Imperialisten gesehen. Dabei wird vergessen, dass die deutsche Demokratie mit all ihren Wurzeln ein imperialistischer Oktroi war und ist. Vorurteile erschweren eine sachliche und zukunftsorientierte Grundsatzdebatte über die deutsche Außenpolitik nach dem amerikanischen Sieg im Irak, mehr Bereitschaft zur Selbstkritik in Berlin wäre wünschenswert.

Die Frage nach der völkerrechtlichen Legitimität des Krieges ist weniger relevant als vielmehr die politische Rückbesinnung auf Deutschlands Rolle als Garant transatlantischer Orientierung und auf seine ausgleichende Funktion innerhalb der Europäischen Union. Europa steht nicht alternativ zur atlantischen Partnerschaft, sondern bleibt sein wesentlicher Bestandteil. Gegen die USA ist Europa nicht zu einen. Die Irakkrise hat gezeigt, dass derjenige Europa spaltet, der es gegen die USA einen will. Auch wird den Europäern ohne oder gegen die USA die dauerhafte Stabilisierung Ost-, Mittel- und Südosteuropas ebenso wenig gelingen wie die Befriedung des Balkans in den neunziger Jahren. Ebensowenig wird ihnen die Anbindung Russlands an die europäischen und transatlantischen Strukturen als zentrales Ziel europäischer Politik aus eigener Kraft gelingen. So liegt für Deutschland dank seiner europäischen Zentrallage der Beitritt der östlichen Nachbarn zur EU und zur NATO im eigenen Interesse. Das deutsch-französische "Tandem" bleibt für die europäische Einigung nur dann essentiell, wenn diese Kooperation gänzlich anders als im Zeichen der Irakkrise funktioniert, nämlich mit Gespür für die Interessen der anderen Mitgliedstaaten, insbesondere in Mittel- und Osteuropa, und unter Anerkennung der transatlantischen Bindungen.

Was ist Frankreich, wird zunehmend kritisch gefragt: "Ein Land, das nach einem Krieg, der vor fast sechzig Jahren beendet wurde und nach dem es nur gnadenhalber zu einer Siegermacht erklärt wurde, immer noch weltpolitisch entscheiden soll. Ein Land, das sich damals nicht gerade heroisch verteidigt hat und doch wie ein lebendiger Anachronismus als ständiges Mitglied im Sicherheitsrat sitzen darf."

Wenn Frankreich mehr außenpolitische Zurückhaltung entwickeln und seine nationalen Interessen stärker gemeinschaftsorientiert ausrichten würde, dann fiele es Deutschland leichter, zwischen atlantischem und europäischem Europa, zwischen großen und kleinen Mitgliedstaaten auszubalancieren. Vor allem darf Deutschland nie wieder selbstverschuldet oder von Frankreich animiert in eine außenpolitische Falle laufen, sondern sollte die bewährte Maklerposition wieder ernst nehmen. Der Weg aus Isolierung und Marginalisierung deutscher Außenpolitik im Zuge der Verengung auf den "deutschen Weg" führt deshalb vorerst über Washington, London, Madrid und Warschau. Nur so kann wieder volle außenpolitische Handlungsfähigkeit erreicht werden. Großbritannien, Spanien und Polen sind für die USA zu zentralen Partnern eines transatlantischen Europa geworden. So entstehen mit Rückendeckung der USA vielfach neue Kraftzentren in Europa. Gerade Polen hat von seiner Solidarität mit den USA im Zuge des Irakkrieges profitiert, weil es mit seinen Soldaten die Ölförderanlagen im Irak sichern half. Polen knüpft an traditionell enge Beziehungen zu den Angelsachsen an. Heute bildet es mit Großbritannien die transatlantische Klammer eines erweiterten Europa und wird vermutlich im Irak eine Besatzungszone zur Verwaltung übernehmen. Polen, nicht Deutschland, ist in der Sicht der USA auf dem Weg zur Zentralmacht Europas. Deutschland hingegen ist zum Problem geworden.

Zurzeit erscheint eine Wiederannäherung zwischen Washington und Berlin schwierig, solange Präsident Bush und Bundeskanzler Schröder regieren. Doch auf der Arbeitsebene der Ministerien könnte mehr "rhetorische Abrüstung, Zuwendung, neuer Dialog mit der amerikanischen Politik entwickelt" werden. Vordergründig wird die Regierung Bush auf deutsche Avancen freundlich reagieren, doch es bleibt Enttäuschung, Misstrauen und die Einschätzung dieser Bundesregierung als außenpolitisch unzuverlässiges Leichtgewicht ohne realpolitische Bodenhaftung. Umgekehrt bleibt Berlin misstrauisch gegenüber der Regierung Bush. Doch die USA brauchen Deutschland weniger, vielmehr ist Berlin auf die Unterstützung Washingtons angewiesen. Im Übrigen ist das selbstbewusste Verhalten der Regierung Bush nicht so beispiellos, wie es den Anschein hat. Im Verlauf der fünfzig Jahre deutsch-amerikanischer Beziehungen gab es heftige Meinungsverschiedenheiten. Im Zuge der diversen amerikanischen Strategiewechsel von massiver Vergeltung zur flexible response, in der Ostpolitik, während der Energiekrise der siebziger Jahre, im Zuge von Nixons Wirtschaftspolitik, bei der geplanten Einführung der Neutronenwaffe, in der Nachrüstungsdebatte, bei Präsident Reagans SDI-Initiative, bei seiner Abkehr von der nuklearen Abschreckungstheorie, bei der Re-Ideologisierung der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen und nicht zuletzt mit Blick auf den Vietnam-Krieg waren deutsche Regierungschefs und Außenminister wiederholt mit imperial auftretenden amerikanischen Präsidenten konfrontiert. Doch von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl, von Außenminister Heinrich von Brentano bis Hans-Dietrich Genscher wurden alle Probleme professionell interessenorientiert gelöst. Dabei entstand ein hohes Gut an Vertrauensbildung. Konrad Adenauers Rat war vor allem bei Außenminister John Foster Dulles gefragt. Gegenüber der Regierung Kennedy gelang es Adenauer im Zuge der Berlin-Krisen unausgegorene amerikanische Deutschlandpläne zu verhindern. Willy Brandts Ostpolitik stieß auf Unverständnis und Kritik in Washington, wurde aber zum Vorbild für amerikanische Entspannungspolitik. Ohne die Ratifizierung der Ostverträge wäre es nicht zum amerikanisch-sowjetischen Gipfel im Mai 1972 gekommen. Hans-Dietrich Genscher gelang es nach schwierigen Verhandlungen, die Amerikaner vom Sinn der KSZE zu überzeugen. Im Frühjahr 1989 setzte er sich sogar gegen die Regierung Bush sen. durch und verhinderte die Modernisierung der NATO-Mittelstreckenraketen in Europa, die ein problematisches Zeichen in den Ost-West-Beziehungen gesetzt und die Vereinigung Deutschlands nicht erleichtert hätte. Diese Liste deutsch-amerikanischer Kontroversen ließe sich beliebig fortsetzen, doch sie zeigt eines: Bis 1989 besaß die Bundesrepublik provinziellen Charakter, wurde aber von souveränen Regierungschefs und Außenministern professionell geführt. Heute ist die Bundesregierung formal souverän, wird aber außenpolitisch dilettantisch geführt.

Die Bundesregierung Schröder/Fischer hat Deutschlands Außenpolitik im Zuge der Irakfrage schwer beschädigt, denn sie konnte sich nicht durchsetzen. Auch hat sie die Verletzung der Menschenrechte im Irak, die Despotie, die Gefahr der Massenvernichtungswaffen und Saddam Husseins Kriegsbereitschaft geflissentlich übergangen. Ja, Bushs Forderung nach Regimewechsel wurde in Berlin kategorisch abgelehnt. Nicht "Nie wieder Krieg", sondern "Nie wieder Diktatur und Aggression" hätte die Erkenntnis heißen müssen, die aus der Erfahrung des nationalsozialistischen Terrors und der deutschen Entfesselung des Zweiten Weltkriegs resultiert.

Wer Krieg verhindern will, muss letztlich bereit sein, ihn zu führen. Darin besteht das Abschreckungsmoment, darauf beruht die Krisendiplomatie der Stärke, welche die Vereinigten Staaten als Vor-, Hegemonial-, Imperial- oder als Ordnungsmacht (wie immer man sie bezeichnen mag) auch in Zukunft praktizieren werden. Die Zukunft von Europa und der "atlantischen Zivilisation" sowie die ihrer tragenden Institutionen wie UNO, NATO, WEU und OSZE und die Rolle des tradierten Völkerrechts sind ungewiss, doch gibt es keinen Weg zurück in die Vorkriegsordnung. Seit dem 11. September 2001, dem Afghanistan-Krieg und dem fortgesetzten Krieg gegen den Terrorismus und vor allem seit dem Sieg über Saddam Hussein sind Macht- und Selbstbewusstsein der Regierung Bush weiter angestiegen. Ihre Bereitschaft, international und regional noch stärker einzugreifen, ist entsprechend gewachsen. Auf diesem Hintergrund wäre Berlin gut beraten, folgende Erkenntnis zu berücksichtigen: Wer von der amerikanischen Hegemonie nichts wissen will, "der kann die Hoffnung auf Weltfrieden begraben".

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Lothar Rühl, Deutschland verliert an Bedeutung für die USA. Washington baut eine "Koalition der Willigen", in: Neue Zürcher Zeitung vom 1./2. 2. 2003.

  2. Vgl. "Du musst das hochziehen". In den anderthalb Jahren vor dem Krieg hat sich das deutsch-amerikanische Verhältnis radikal verändert. Eine Chronik, in: Der Spiegel, (2003) 13.

  3. Vgl. Schröder schließt erstmals Ja zum Irak-Krieg im Sicherheitsrat aus, in: Die Welt vom 21. 1. 2003.

  4. Vgl. Christian Hacke, Selbstgefällige Chefankläger, in: Financial Times Deutschland vom 27. 1. 2003.

  5. Ebd.

  6. Vgl. Adam Krzeminski, Sicherheit nur mit Amerika, in: Die Welt vom 12. 4. 2003.

  7. Vgl. dazu Erhard Cziomer, Reaktionen auf die Irak-Politik der USA, in: August Pradetto (Hrsg.), Internationale Reaktionen auf die Irak-Politik der USA, Hamburg 2003, S. 61 - 67.

  8. Vgl. Wulf Brocke/Borislaw Wankow, Bulgarien: Klares Votum für eine Militäroperation gegen Irak, in: Welt-Report, Sonderausgabe März 2003, S. 7 - 9.

  9. Anneli Ute Gabanyi, USA-Irak: Die Reaktion Rumäniens, in: A. Pradetto (Hrsg.) (Anm. 7), S. 86.

  10. Vgl. Der Kaiser von Europa, in: Der Spiegel, (2003) 9.

  11. So Stimmen aus Mittel- und Osteuropa, zit. in: Henning Tewes, Deutschland, Polen, Amerika - und der Irak-Konflikt, in: A. Pradetto (Hrsg.) (Anm. 7), S. 11.

  12. Thomas Kielinger, Ein Krieg um die Deutung Europas. Die Irak-Krise treibt die nationalen Ich-AGs Frankreich und England zum Äußersten, in: Die Welt vom 18. 3. 2003.

  13. Vgl. Hans-Peter Schwarz, Die Zentralmacht Europas. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 1994.

  14. Karl Feldmeyer, Furor im Unterhaus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 19. 3. 2003.

  15. Vgl. Dirk Schümer, Neu-Europa. Sieger des Irak-Krieges wird die Weltmacht der Zukunft sein, in: FAZ vom 8. 4. 2003.

  16. Vgl. Emmanuel Todd, Amerikas Macht wird gebrochen, in: Der Spiegel, (2003) 12.

  17. Vgl. "Mehr Europa". Der politische Kampf geht weiter: Deutsche und Franzosen wollen die Übermacht der USA nicht akzeptieren - auch nicht nach dem Irak-Krieg, in: Der Spiegel, (2003) 14.

  18. Zit. in: Thomas Hanke, Hintergrund: Schnitt durch die Nabelschnur. Irak hat die EU-Außenpolitik erschüttert - jetzt müssen die Partnerländer entscheiden, ob Europa Machtpol wird oder Juniorpartner Amerikas bleibt, in: Financial Times Deutschland vom 3. 4. 2003.

  19. Vgl. James Appathurai/Michael Rühle, Die Scheidung fällt aus: Ein Bruch zwischen Amerika und Europa käme beide viel zu teuer zu stehen, in: FAZ Sonntagszeitung vom 4. 5. 2003.

  20. Vgl. Christian Schwennicke/Christian Wernicke, Die Vierbande im Visier. Sicherheitspolitisches Treffen in Brüssel sorgt weiter für Ärger in der Europäischen Union, in: Süddeutsche Zeitung vom 12./13. 4. 2003.

  21. Vgl. "So geht es nicht weiter". Rom warnt vor einer Spaltung der EU, in: FAZ vom 28. 4. 2003.

  22. Vgl. Klaus-Dieter Frankenberger, Kleineuropa ist keine Lösung, in: FAZ Sonntagszeitung vom 30. 3. 2003.

  23. Vgl. Blair: Frankreichs Vorstellungen sind gefährlich, in: FAZ vom 29. 4. 2003.

  24. Vgl. Christian Hacke, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Von Konrad Adenauer bis Gerhard Schröder, Berlin 2003, S. 568ff.

  25. Vgl. Volker Kronenberg, Europa am Scheideweg?, in: Mut, (2003) 4, S. 34 - 38; ihm dankt der Verfasser für weiterführende Anregungen.

  26. Vgl. Thomas Schmid, Ami go home. Viele wünschen Amerika Misserfolg im Irak, in: FAZ Sonntagszeitung vom 4. 5. 2003.

  27. Vgl. Gerd Roellecke, Durften die das? Dumme Frage: Vom Unrecht des Siegers sollten wir schweigen, in: FAZ vom 12. 4. 2003.

  28. Vgl. Wolfgang Schäuble, Kontinuität und Wandel - die Zukunft deutscher Außenpolitik. Typoskript einer am 10. März 2003 in der Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin gehaltenen Rede.

  29. Richard Swartz, Schwimmschule. Der Atlantik beginnt in Polen, in: Süddeutsche Zeitung vom 1./2. 3. 2003.

  30. Vgl. Hans-Ulrich Jörges, Nicht ohne Amerika. Eine antizyklische Verteidigung der USA gegen Verirrungen der deutschen Seele, in: Der Stern, Nr. 15 (2003).

  31. Vgl. Chr. Hacke (Anm. 24), S. 159ff.

  32. Vgl. Klaus Larres, Mutual Incomprehension: U. S.-German Value Gaps beyond Iraq, in: The Washington Quarterly, (Spring 2003), S. 23 - 42.

  33. Vgl. Karl Otto Hondrich, Auf dem Weg zu einer Weltgewaltordnung. Der Irak-Krieg als Exempel: Ohne eine Hegemonialmacht kann es keinen Weltfrieden geben, in: Neue Zürcher Zeitung vom 22./23. 3. 2003.

Dr. phil., geb. 1943; seit April 2000 o. Professor des Seminars für Politische Wissenschaft an der Universität Bonn.
Anschrift: Universität Bonn, Lennéstr. 25, 53113 Bonn.
E-Mail: E-Mail Link: ch.hacke@uni-bonn.de

Veröffentlichung u. a.: Zur Weltmacht verdammt. Die amerikanische Außenpolitik von J. F. Kennedy bis G. W. Bush, München 2002; Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Von Konrad Adenauer bis Gerhard Schröder, München 2003.