I. Rückblick: Der Irakkonflikt im Lichte des 11. September 2001
Der Angriffskrieg auf den Irak im März/April 2003 durch die USA und ihre "Koalition der Willigen"
II. Der "deutsche Weg" des kategorischen Nein
War es in der Vergangenheit zu Unstimmigkeiten mit den Amerikanern gekommen, so hatte Deutschland stets subtil gehandelt und in der Regel auch erfolgreich zwischen den USA und den verschiedenen europäischen Hauptstädten vermitteln können. Deutschlands respektabler Handlungsspielraum in Europa und im transatlantischen Verhältnis war nicht zuletzt im Zuge dieser transatlantischen Maklerrolle entstanden. Mit der Propagierung des "deutschen Weges" zur amerikanischen Irakpolitik rückte die Regierung Schröder/Fischer von dieser Vorgehensweise ab. Die Gründe für das ebenso frühzeitig wie kategorisch erklärte deutsche "Nein" zum Irakkrieg liegen nicht nur in der gegensätzlichen Bewertung des Irak, sondern tiefer: Die Differenzen kündigten sich schon in den neunziger Jahren an, doch erst die weltanschaulich-politische Machtverschiebung in Deutschland nach "links" und die unter Bush nach "rechts" ließen diplomatische Kompromisse, wie sie noch zwischen Clinton und Kohl wie auch Schröder möglich waren, nicht mehr zu. Amerikas Außenpolitik wurde mit dem Amtsantritt von Präsident Bush zunehmend militarisiert, unilateral und hegemonial ausgerichtet, während die Deutschen und Europäer mehr die zivile, multilaterale und völkerrechtliche Dimension von Außenpolitik bevorzugen.
So überrascht es nicht, dass Europa und vor allem Deutschland die diplomatischen Aktivitäten der USA im Vorfeld des Irakkrieges mit Unbehagen beobachteten. Berechtigte Bedenken wurden im Vorfeld des Krieges von Deutschland formuliert, allerdings in Washington überhört, nicht zuletzt weil sie zu undiplomatisch und in öffentlicher Aufdringlichkeit geäußert worden waren. Es war kein Ausweis von diplomatischer Raffinesse, der amerikanischen Arroganz der Macht eine deutsche Arroganz der Ohnmacht entgegenzustellen. Berlin besitzt keine "weichen" und schon gar keine "harten" Machtressourcen, um ein entschlossenes Amerika von seinem Kurs abzubringen. Doch im September 2002 kam es zum Eklat, als der Bundeskanzler wahlkampfbedingt den Irakkrieg thematisierte und den "deutschen Weg" propagierte.
Die Irakfrage war kompliziert, doch stellten das kategorische, frühzeitige deutsche Nein zum Krieg gegen den Irak, das Ausscheren aus der militärischen Drohkulisse, die damit verbundene machtpolitische Schwächung der UNO und ihres angestrebten Inspektionsregimes einen tiefen Bruch in der traditionellen bundesrepublikanischen Außenpolitik dar, weil "genetisch bedingter" Multilateralismus aufgegeben und die Vormachtrolle der USA in Berlin nicht mehr als Schutz, sondern als Gefahr interpretiert wurde. Deutschland gab ohne Not seine exklusive Rolle gegenüber den USA und seine Maklerrolle im Viereck Washington-London-Paris-Bonn/Berlin auf und verlor an Handlungsspielraum.
Als durch den Ultimatumsvorschlag des britischen Außenministers Jack Straw Saddam Hussein gezwungen wurde, die UNO-Inspekteure wieder ins Land zu lassen, wurde ohne, ja gegen Deutschlands Votum das richtige diplomatische Eingangstor betreten. Doch ging es nicht mehr allein um den Irak, sondern um die Frage, ob der Bundeskanzler nicht grundsätzliche außenpolitische Interessen gefährdete, die ohne den Rückhalt der USA nicht durchgesetzt werden können. Bundeskanzler und Außenminister hätten spätestens jetzt abwägen müssen, ob es weiter im Interesse Deutschlands lag, sich mit moralischen Appellen und unter Anklage der USA als Kriegstreiber zur Friedensmacht gegen den Krieg zu stilisieren oder ob nicht zentrale eigene Interessen, wie die Beziehungen zu den USA, einen Kurswechsel, vor allem einen anderen Umgangston nötig gemacht hätten. Doch statt vorsichtig diplomatisch vorzugehen, um weitere Handlungsspielräume im Verlauf der Krise offen zu halten, bekräftigte der Bundeskanzler im Landtagswahlkampf in Niedersachsen im Januar 2003 das kategorische Nein - ohne die Ergebnisse der Waffeninspekteure abzuwarten -: "Rechnet nicht damit, dass Deutschland einer den Krieg legitimierenden Resolution zustimmen wird"
Während Frankreich und vor allem Großbritannien die eigenen Interessen betonten und im Kalkül der USA eine Rolle spielten, war Deutschland nach Goslar für die USA kein ernst zu nehmender Partner mehr, von Freundschaft konnte längst keine Rede mehr sein, weil sich Deutschland neben Frankreich zur führenden amerikakritischen Macht in Europa stilisierte und weiter an außenpolitischem Handlungsspielraum verlor. Die rot-grüne Bundesregierung konnte, ja wollte sich politisch offensichtlich nicht mehr auf Augenhöhe mit den anderen europäischen Mächten geschweige mit den USA bringen, wenn Außenminister Fischer selbst die deutsche Rolle folgendermaßen einschränkte: "Frankreich spielt eine sehr bedeutende Rolle in der Weltpolitik. Es hat auch eine eigene Vision von seiner globalen Rolle. Es hat eine andere Geschichte als wir. Es ist ständiges Sicherheitsratsmitglied, es ist Atommacht. Zudem hat es gemeinsam mit dem Vereinigten Königreich eine große Geschichte, während unser Land eine gebrochene Geschichte hat. (Wir) können unser Land mit Frankreich und Großbritannien nicht gleichsetzen."
Wer eigene Handlungsunfähigkeit derart begründet, verkennt nicht nur die eigenen außenpolitischen Möglichkeiten, sondern hat bei der Fixierung auf den Nationalsozialismus andere Lektionen der Zeitgeschichte übersehen: Von 1949 bis 1989 entwickelten die Bundesregierungen von Adenauer bis Kohl eine außenpolitische Struktur, die mit Blick auf Erfolg und Ansehen in der Welt ihresgleichen in der deutschen Geschichte sucht. Außenpolitik war im Bewusstsein der Schrecken der eigenen Geschichte vor 1945 auf Versöhnung und Ausgleich angelegt, also auch moralisch und zivilisatorisch begründet, ohne dass die politisch Verantwortlichen in Bonn dies penetrant bekundet hätten. Vor allem zeigte sich die Regierung Schröder/Fischer nicht in der Lage, den Krieg gegen den Diktator Saddam Hussein aus der eigenen Geschichte heraus, d. h. im Vergleich zu Hitlers Diktatur, und unter Berücksichtigung der historischen Verdienste der USA als Befreier auch nur im Ansatz verstehen oder erklären zu wollen.
Zugegeben, angesichts der neuen, ja unerwarteten neoimperialen außenpolitischen Gebärden der Regierung Bush war eine angemessene, d.h. den deutschen Interessen gemäße Reaktion aus Berlin außerordentlich schwierig, aber der Arroganz der Macht derart mit einer gewissen Arroganz der Ohnmacht zu antworten, verbesserte nicht Deutschlands Handlungsspielraum. Die Bundesregierung Schröder/Fischer riskierte mehr, als nur in der Irakfrage zu scheitern. Sie gefährdete gewachsene Bindungen: Vertrauen und Berechenbarkeit deutscher Außenpolitik vor allem im transatlantischen Raum schmolzen dahin. Deutschland hatte jahrzehntelang eine für politische Balance zwischen den Polen Washington - Paris - London ein atlantisch verankertes Europa garantiert und dabei auch ein Gegengewicht zu Frankreichs Vision von einem europäischen Europa in der Tradition de Gaulles gebildet. Durch kraftvolle Integrationsentwürfe hatte die Bundesrepublik von Adenauer bis Kohl den Grundsatz hochgehalten, dass sowohl enge Beziehungen zu den Vereinigten Staaten als auch zu Frankreich gepflegt werden, gerade in Krisen und bei Interessenverschiebungen. Die sanfte Hegemonie der USA wurde jahrzehntelang von deutscher Seite als Stabilitätsfaktor begrüßt, denn Deutschland empfand Amerikas Vormacht nicht als be-, sondern als entlastend. Aber jetzt erweckte die Bundesregierung den Anschein, als ob sie die Politik der USA durch Bildung von Gegenkoalitionen zu unterminieren suchte. Hier liegt der revolutionäre Wechsel der deutschen Außenpolitik begründet: Sie interpretierte die deutsch-amerikanischen Beziehungen konfrontativ und gefährdete damit den Einfluss deutscher Außenpolitik.
Auch war es problematisch, dass Berlin gleichzeitig in den antiamerikanischen Sog Frankreichs rückte. 40 Jahre nach Unterzeichnung des deutsch-französischen Vertrags von 1963 wurde bei den Feierlichkeiten in Paris diesem Ereignis eine neue amerikakritische Spitze gegeben, als Chirac und Schröder gemeinsame Kritik an der Irakpolitik der USA zum Anlass nahmen, die Vision eines europäischen Europas in Distanz zu den USA zu entwickeln.
Es kam, wie es kommen musste: Die UNO-Diplomatie der USA-Kritiker scheiterte, Washington setzte seine Position wider das Völkerrecht rücksichtslos durch. Mit dem Zusammenbruch des Regimes in Bagdad brach auch Deutschlands unerfahrene und hilflose Irakdiplomatie zusammen. Doch die Trümmer von Deutschlands Außenpolitik liegen weiter verstreut: im deutsch-amerikanischen Verhältnis, in der UNO und vor allem in Europa.
III. Die Position der mittel- und osteuropäischen Staaten
Heute wird deutlich, dass im Zuge der Irakkrise wichtige Staaten Europas, auch viele Regierungen der neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa, nicht gewillt sind, dem französisch-deutschen Tandem zu folgen. Dies wird im Rückblick auf die mittel- und osteuropäische Entwicklung nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums und nach dem Fall der Mauer erklärlich. Innenpolitisch wurde das kommunistische Joch abgeschüttelt, außenpolitisch suchte man die Nähe und Unterstützung des Westens. Der Bundesrepublik kam dabei eine besondere Bedeutung zu: Willy Brandts Ostpolitik im Zeichen von Entspannung hatte nicht nur den Weg für mehr Zustimmung zur Wiederherstellung der deutschen Einheit freigemacht, sondern war für die vom Kommunismus befreiten Völker ein Zeichen für Hoffnung auf Hilfe und Kooperation. Würde das vereinte Deutschland seine Beziehungen mit den von Moskau befreiten Völkern intensivieren oder mit dem neuen Russland Gemeinsamkeiten suchen? Die deutsche Ostpolitik der neunziger Jahre stand im Zeichen des Bemühens um beides. Moskau wurde umworben, und mit den neuen Demokratien suchte Deutschland Aussöhnung und Kooperation. Doch erst in der historischen Distanz wird sich zeigen, ob Berlin nicht zu einseitig auf Moskau setzte und dadurch die Erwartungshaltung vieler mittel- und osteuropäischer Völker enttäuscht hat.
So hätte Deutschland gegenüber den drei baltischen Staaten aufgrund jahrhundertealter nachbarschaftlicher Beziehungen eine Schlüsselrolle einnehmen können, die jedoch verpasst wurde. Weil Deutschland keine couragierte Rolle mit Blick auf die Sicherheitsbedürfnisse der Mittel- und Osteuropäer einnahm, wurden im Zuge der Osterweiterung der NATO die USA zum Fixpunkt mittel- und osteuropäischer Sicherheitsinteressen. Auch für die geplante Aufnahme der baltischen Staaten in die EU im Zuge einer zweiten Erweiterungsrunde gilt das Prinzip: "Nato is for life, EU is for a better life." Die Mittel- und Osteuropäer verfolgen bislang eine geschickte Gleichgewichtsdiplomatie: In der Sicherheitspolitik wird die Nähe zur NATO, insbesondere zu den USA, gesucht, während wirtschaftspolitisch gute Beziehungen zu den EU-Staaten und besonders zu Deutschland gepflegt werden.
Doch mit Beginn der Regierung Schröder/Fischer stieg die europapolitische Skepsis in den Hauptstädten Mittel- und Osteuropas, weil Deutschland auf Westeuropa fixiert blieb und nur wenig Interesse nach Osten hin zeigte. Die USA hingegen verstärkten ihre Aktivitäten im Herzen Europas seit dem Amtsantritt von Präsident Bush. Kein Wunder, dass ihm die Sympathien zuflogen, als er auf dem NATO-Gipfel in Prag im Herbst 2002 sein Eintreten für die Interessen Mittel- und Osteuropas öffentlich bekräftigte. Eine andere "uneingeschränkte Solidarität" zwischen Mitteleuropäern und den USA zeigte sich auch im begeisterten Empfang für Bush in Vilnius im Anschluss an den NATO-Gipfel.
Vor diesem Hintergrund wird die Unterstützung vieler mittel- und osteuropäischer Staaten und Regierungen für die Irakpolitik des amerikanischen Präsidenten erklärbar. Ihre Solidaritätsbekundungen waren auch Beweis für kluge Interessenpolitik. Man verstand schnell, dass Amerikas Eintreten für Mittel- und Osteuropa nur dann gesichert wird, wenn umgekehrt die mittel- und osteuropäischen Regierungen die Interessen der USA im Irak nicht in Frage stellen, sondern sie öffentlich unterstützen. Konsequenterweise wurden die innereuropäischen Verbindungen wie z.B. das Bündnis Polens mit Deutschland und Frankreich im sog. "Weimarer Dreieck" von der neuen Interessenverknüpfung mit den USA überlagert. So ließ der polnische Ministerpräsident Leszek Miller keinen Zweifel daran, dass Polen im Falle einer Wahl zwischen Westeuropa oder amerikanischen Sicherheitsgarantien im Rahmen der NATO sich für Letztere entscheiden würde.
Millers Unterzeichnung des "Briefs der Acht" als Solidaritätsbekundung für die Irakpolitik der USA ohne vorherige Konsultation Berlins war eine klare Absage an den deutschen Weg, der als Bruch des transatlantischen Verhältnisses, ja als Einflussverlust deutscher Ostpolitik verstanden wird. Dass man zu Amerika stehen müsse, war nicht nur für die polnische Regierung, sondern über Parteigrenzen hinweg für die gesamte polnische politische Klasse eine Selbstverständlichkeit,
IV. "Alt" gegen "Neu": Der Irak- konflikt als Spaltpilz Europas?
Der "Brief der acht", von den Staats- bzw. Regierungschefs von fünf EU-Mitgliedsländern, allen voran Großbritanniens Premierminister Tony Blair, sowie den EU-Kandidatenländern Tschechien, Ungarn und Polen unterzeichnet, hat Europa in der zentralen Frage der transatlantischen Solidarität vermeintlich in "alt" und "neu" gespalten. Zum "alten" Europa zählen nach Verteidigungsminister Donald Rumsfeld seit dem 22. Januar 2003 Frankreich und Deutschland; ihm gegenüber steht das "neue", mittelöstliche Europa der EU-Beitrittsländer. Jenseits der Begrifflichkeit "alt" und "neu" sind die Interessengegensätze in Europa offenkundig. Am Beispiel Polen und Frankreich zeigen sich diese am deutlichsten. Kein anderes europäisches Land verfügte 1989 über ein so großes politisches und kulturelles Kapital in Polen wie Frankreich. Dass die französisch-polnischen Beziehungen außerhalb des symbolischen "Weimarer Dreiecks" heute trotzdem im Argen liegen, hat zwei Gründe: Frankreich entwickelte sich zum Opponenten der EU-Osterweiterung und wegen seiner Kritik an der NATO und den USA zum Risikofaktor aus mittel- und osteuropäischer Sicht. Umgekehrt sieht Paris Polen als trojanisches Pferd der Amerikaner in Europa.
Der von Warschau mit unterzeichnete "Brief der acht" hat folglich eine antifranzösische Spitze, die die Reaktion des französischen Präsidenten am 18. Februar 2003 in Brüssel erklärt: Die "leichtfertigen" und "ahnungslosen" EU-Beitrittskandidaten hätten "eine gute Gelegenheit zum Schweigen" verpasst.
Außenminister Fischers Charakterisierung des deutsch-französischen Verhältnisses gegenüber der Bush-Administration als "Partnerschaft im Widerspruch" vermittelt den Eindruck von Ratlosigkeit angesichts der Heftigkeit, mit der Jacques Chirac auf die teileuropäische Solidaritätserklärung an die Adresse Washingtons reagierte. Doch ist jetzt über die Irakfrage hinaus in Europa ein diplomatischer "Krieg um die Deutung Europas"
Ungehemmt macht sich Chirac zum Sprecher des alten Europa, um dem Unilateralismus der "Hypermacht", so der frühere französische Außenminister Hubert Védrine, in der UNO einen Riegel vorzuschieben. Weil Frankreich und Russland als Schlüsselstaaten Europas "mit Deutschland als Frankreichs Anhängsel"
Doch was des einen Euphorie, ist des anderen Alptraum. Empfinden sich Frankreich, Deutschland und Russland im Frühjahr 2003 als Avantgarde Europas,
Die deutschen Ideen eines Kerneuropas, Chiracs Vorstellung einer groupe pionnier oder das Modell vom Gravitationszentrum von Außenminister Fischer wirken heute weltfremd, denn der Irakkrieg hat Europa nachhaltig gespalten. Porzellan wird derzeit in Europa zerschlagen; es mag notdürftig gekittet werden, aber an Glanz und Wert hat es allemal verloren. Auch deshalb werden die zehn zu erwartenden neuen Mitglieder der EU der französisch-deutschen Avantgarde nicht mehr folgen, denn das Tandem Paris-Berlin wird für eine doppelte Spaltung mitverantwortlich gemacht: für die innereuropäische und für die transatlantische.
V. Die Irakkrise als Katalysator Europas?
Europa muss sich heute auf zwei Perspektiven einstellen: Angeführt von Großbritannien, Spanien und Polen wird in der einen Richtung ein atlantisches und zugleich sich kraftvoll nach Osten erweiterndes Europa angestrebt, wobei die regionale und globale Ordnungsfunktion der USA auf ausdrückliche Zustimmung stößt. Doch angesichts der Dynamik und der wachsenden Überlegenheit der Regierung Bush wird auch in diesem transatlantischen Verbund eine verstärkte Unipolarität sichtbar. Diese Vision einer atlantischen Zivilisation stützt sich auf die angelsächsische "special relationship" und auf neue Partner wie Spanien, Italien, Polen und andere. Deutschland spielt hier derzeit keine Rolle mehr, allenfalls die des Störenfrieds.
Die zweite, "karolingische" Perspektive entwickelt sich unter der Führung Frankreichs mit deutsch-russischer Gefolgschaft, die vor allem in Washington, aber auch in Mittel- und Osteuropa wie auch in Westeuropa auf Skepsis und Kritik stößt.
Beide Perspektiven, die atlantisch-kontinuierliche wie auch die neu-karolingische, prallen derzeit fast kompromisslos aufeinander, sodass der Wunsch, die Irakkrise als Katalysator für Fortschritte in der EU zu verstehen, "wenn alle den politischen Willen für Reformen aufbringen",
Dieser Eindruck kontrastiert mit der politischen Dynamik, die seit Amtsantritt der Regierung Bush in die Weltpolitik eingetreten ist. Wie immer man diese Politik bewertet, sie überrollt Europa, setzt neue Kräfte frei und lässt bisher bewährte Politik als anachronistisch erscheinen. Gerade der Erweiterungsprozess der NATO und die Partnerschaftsbeziehungen mit Staaten im eurasischen Raum belegen einen gestärkten amerikanischen Gestaltungswillen. Amerika ist und bleibt eine europäische, ja mittlerweile eurasische Macht. Deshalb gibt es keine Alternative zur Rekonstruktion der transatlantischen Beziehungen ohne Würdigung von Amerikas ordnungspolitischer Leistungsfähigkeit. Daraus folgt: Wer in Europa für Scheidung von den USA plädiert, gewinnt nicht an Einfluss über den amerikanischen Partner, sondern gibt ihn auf, ja macht ihn sich zum Gegner.
War die Geschichte der europäischen Integration bisher eine Geschichte von erfolgreich bestandenen Krisen, dann hinkte Europa außen- und sicherheitspolitisch nur deshalb voran, weil Amerika letztlich sicherheitspolitisch für und in Europa Ordnung schaffte. Seit Jahrzehnten bemühen sich die Europäer vergeblich um verbesserte europäische Rüstungskapazitäten, um Modernisierung der nationalen Streitkräfte sowie um eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Was in Anlehnung oder gemäßigter Distanz zu den USA und im Rahmen der alten, westeuropäisch ausgerichteten EU misslang, soll nun in Konfrontation zu den USA angesichts tiefer Spaltung Europas und mittel- und osteuropäischer Entfremdung zu Deutschland und Frankreich gelingen?
Deshalb erscheint die Planung gemeinsamer europäischer Rüstungsprojekte und eine Harmonisierung der nationalen Verteidigungsstrukturen in den Augen der meisten EU-Mitglieder als antiamerikanisches Komplott der "Viererbande",
Wo ist Europa organisatorisch, integrationspolitisch und weltpolitisch hingeraten? Wo ist Deutschland geblieben? Es wächst die bohrende Erkenntnis, dass Deutschland ein beträchtliches Maß an Mitschuld, wenn nicht sogar Hauptschuld für viele Fehlentwicklungen trägt. Die Bundesregierung hat die amerikakritische Atmosphäre in Deutschland und Europa mit verursacht. Auch dadurch werden alle entsprechenden europapolitischen Vorschläge, wie sie jetzt aus Berlin formuliert werden, vergiftet.
VI. Deutschland, Europa und die Zukunft der transatlantischen Beziehungen
Europa steht gegenwärtig nicht am Scheideweg, weil ein europäischer Bundesstaat um den Preis der Aufgabe von Nationalstaatlichkeit von der großen Mehrzahl der EU-Mitgliedstaaten abgelehnt wird, sondern mit Blick auf die Frage, ob es ein europäisches oder in bewährter Tradition ein atlantisches Europa wünscht.
Die Frage nach der völkerrechtlichen Legitimität des Krieges ist weniger relevant als vielmehr die politische Rückbesinnung auf Deutschlands Rolle als Garant transatlantischer Orientierung und auf seine ausgleichende Funktion innerhalb der Europäischen Union.
Was ist Frankreich, wird zunehmend kritisch gefragt: "Ein Land, das nach einem Krieg, der vor fast sechzig Jahren beendet wurde und nach dem es nur gnadenhalber zu einer Siegermacht erklärt wurde, immer noch weltpolitisch entscheiden soll. Ein Land, das sich damals nicht gerade heroisch verteidigt hat und doch wie ein lebendiger Anachronismus als ständiges Mitglied im Sicherheitsrat sitzen darf."
Wenn Frankreich mehr außenpolitische Zurückhaltung entwickeln und seine nationalen Interessen stärker gemeinschaftsorientiert ausrichten würde, dann fiele es Deutschland leichter, zwischen atlantischem und europäischem Europa, zwischen großen und kleinen Mitgliedstaaten auszubalancieren. Vor allem darf Deutschland nie wieder selbstverschuldet oder von Frankreich animiert in eine außenpolitische Falle laufen, sondern sollte die bewährte Maklerposition wieder ernst nehmen. Der Weg aus Isolierung und Marginalisierung deutscher Außenpolitik im Zuge der Verengung auf den "deutschen Weg" führt deshalb vorerst über Washington, London, Madrid und Warschau. Nur so kann wieder volle außenpolitische Handlungsfähigkeit erreicht werden. Großbritannien, Spanien und Polen sind für die USA zu zentralen Partnern eines transatlantischen Europa geworden. So entstehen mit Rückendeckung der USA vielfach neue Kraftzentren in Europa. Gerade Polen hat von seiner Solidarität mit den USA im Zuge des Irakkrieges profitiert, weil es mit seinen Soldaten die Ölförderanlagen im Irak sichern half. Polen knüpft an traditionell enge Beziehungen zu den Angelsachsen an. Heute bildet es mit Großbritannien die transatlantische Klammer eines erweiterten Europa und wird vermutlich im Irak eine Besatzungszone zur Verwaltung übernehmen. Polen, nicht Deutschland, ist in der Sicht der USA auf dem Weg zur Zentralmacht Europas. Deutschland hingegen ist zum Problem geworden.
Zurzeit erscheint eine Wiederannäherung zwischen Washington und Berlin schwierig, solange Präsident Bush und Bundeskanzler Schröder regieren. Doch auf der Arbeitsebene der Ministerien könnte mehr "rhetorische Abrüstung, Zuwendung, neuer Dialog mit der amerikanischen Politik entwickelt" werden.
Die Bundesregierung Schröder/Fischer hat Deutschlands Außenpolitik im Zuge der Irakfrage schwer beschädigt, denn sie konnte sich nicht durchsetzen. Auch hat sie die Verletzung der Menschenrechte im Irak, die Despotie, die Gefahr der Massenvernichtungswaffen und Saddam Husseins Kriegsbereitschaft geflissentlich übergangen. Ja, Bushs Forderung nach Regimewechsel wurde in Berlin kategorisch abgelehnt. Nicht "Nie wieder Krieg", sondern "Nie wieder Diktatur und Aggression" hätte die Erkenntnis heißen müssen, die aus der Erfahrung des nationalsozialistischen Terrors und der deutschen Entfesselung des Zweiten Weltkriegs resultiert.
Wer Krieg verhindern will, muss letztlich bereit sein, ihn zu führen. Darin besteht das Abschreckungsmoment, darauf beruht die Krisendiplomatie der Stärke, welche die Vereinigten Staaten als Vor-, Hegemonial-, Imperial- oder als Ordnungsmacht (wie immer man sie bezeichnen mag) auch in Zukunft praktizieren werden. Die Zukunft von Europa und der "atlantischen Zivilisation" sowie die ihrer tragenden Institutionen wie UNO, NATO, WEU und OSZE und die Rolle des tradierten Völkerrechts sind ungewiss, doch gibt es keinen Weg zurück in die Vorkriegsordnung. Seit dem 11. September 2001, dem Afghanistan-Krieg und dem fortgesetzten Krieg gegen den Terrorismus und vor allem seit dem Sieg über Saddam Hussein sind Macht- und Selbstbewusstsein der Regierung Bush weiter angestiegen. Ihre Bereitschaft, international und regional noch stärker einzugreifen, ist entsprechend gewachsen. Auf diesem Hintergrund wäre Berlin gut beraten, folgende Erkenntnis zu berücksichtigen: Wer von der amerikanischen Hegemonie nichts wissen will, "der kann die Hoffnung auf Weltfrieden begraben"