I. Schattenland des Neoliberalismus - Überlegungen zum Schrumpfungsprozess ostdeutscher Städte
Anderthalb Millionen leer stehende Wohnungen in Ostdeutschland zwingen zum Umdenken. Der Wohnungsüberhang entspricht nämlich keinem der typischen Stadien im so genannten "Schweinezyklus" aus Verknappung und Überproduktion, sondern er hat sich zur konstanten Größe verfestigt und eine brisante Eigendynamik entwickelt: Da man vier vermietete Wohnungen braucht, um die Ausfälle einer leeren fünften zu kompensieren, liegt der ökonomische Umschlagspunkt bei etwa 15 Prozent Leerstand. Bei 20 Prozent ist der Konkurs nur noch eine Frage der Zeit. Anfang 2001 war in Leipzig-Grünau die erste Wohnungsgenossenschaft zusammengebrochen. Treten solche Insolvenzen erst einmal wellenartig auf, so die Befürchtung etwa der Sächsischen Aufbaubank, ist eine Zerstörung des gesamten ostdeutschen Wohnungsmarktes durchaus vorstellbar.
Weder dem Wittenberger Packhofviertel oder der Görlitzer Südstadt noch Neubaustädten wie Wolfen-Nord, Schwedt oder Hoyerswerda wird man also nach altvertrautem Schema, etwa durch den Ersatz der "Platte" durch "Stadtvillen", wirksam helfen können. Es fehlen die im "alten Westen" bewährten Gegenkräfte: Es gibt hier keine rettenden Besserverdiener, nirgends. Auch die Empfehlung, beim Abriss nicht zimperlich zu sein, weil freigelegtes Bauland werthaltiger sei als eine durch unnütze Substanz blockierte Immobilie, verkennt das Wesen der Sache: Wo die Menschen davonlaufen, verlieren selbst Grund und Boden alle Heiligkeit.Autor des ersten Kapitels ist Wolfgang Kil. Das zweite Kapitel hat Marta Doehler verfasst, das dritte Michael Bräuer.
Diese Krise wird sich als ein allein wohnungspolitisches Problem weder erklären noch lösen lassen, denn erstens ist der Leerstand kein Reflex auf die verrufene "Plattenästhetik"; in besonders betroffenen Städten wie Leipzig, Halle oder Görlitz sind bisher vorrangig die Alt- und Innenstädte betroffen. Zweitens lässt sich die Entvölkerung ostdeutscher Städte mit allgemeinen demographischen Tendenzen oder gar dem extremen Geburtenknick nach der "Wende" nur ungenügend begründen; die eigentliche demographische Entvölkerungswelle kommt erst noch. Auch der immer wieder genannte Nachholbedarf an Eigenheimen ist - vom Berliner "Speckgürtel" einmal abgesehen - nach dem Zurückfahren der verlockenden Subventionen weithin gedeckt; die Bewohnerverluste gehen aber ungehemmt, in bestimmten Regionen sogar noch rasanter, weiter. Drittens sind es bezeichnenderweise vor allem bestimmte ländliche Regionen, die an Bevölkerungsschwund leiden; geradezu dramatisch ist die Entwicklung in der Uckermark und in Vorpommern, aber auch in Teilen Mecklenburgs, in der Altmark und der Lausitz. In diesen traditionell dünn besiedelten Landschaften war zu DDR-Zeiten mit umfänglichen Industrieansiedlungen (Schwedt, Neubrandenburg, Stendal, Eisenhüttenstadt, Schwarze Pumpe) und hoch technisierter Agrarwirtschaft massive Strukturförderung betrieben worden. Da stellt ein sich selbst überlassener Markt nun den Status quo ante wieder her: die im vorindustriellen Schattendasein dahindämmernde Arme-Leute-Gegend. Für viele der mühevoll aus dem Boden gestampften Industrie-Wohnstädte dürfte dies wohl vor allem eines bedeuten: Sie sind schlicht überflüssig geworden.
Niemals zuvor war im Westen ein Strukturwandel dermaßen planlos und ungeschützt dem Selbstlauf überlassen worden. Der nach Kräften verzögerte und kompensatorisch weitgehend abgefederte Niedergang des "alten" Ruhrgebiets ist mit der kollapsartigen Preisgabe der ostdeutschen Industrien in keiner Weise zu vergleichen. Allein am Chemiestandort Bitterfeld-Wolfen-Dessau waren von 1990 bis 1993 durch wilde Abrisskampagnen, aus Gründen der Arbeitsbeschaffung oder zur Freilegung von "jungfräulichem" Investitionsbauland über 80 großbetriebliche Anlagen demontiert worden. Dabei sank die Zahl der noch irgendwie produktiv Beschäftigten auf unter ein Drittel der Stärke vor 1989. Wohin man auch blickt, überall finden sich ähnliche Relationen: Dessau (Waggonbau, Chemie) hat 5 500 produktive Arbeitsplätze verloren, Görlitz (Waggonbau, Textil- und Elektromaschinenbau) sogar über 15 000. Der Anlagenbauer Bergmann-Borsig in Berlin schrumpfte von 4 500 auf 300 Arbeiter, im Halbleiterwerk Frankfurt/Oder sind von 8 500 gerade noch 160 Beschäftigte übrig. "Von der ostdeutschen Wirtschaft blieb vielfach kaum mehr zurück als der berühmte ,Staub von Brandenburg'", stellt der Berliner Soziologe Wolfgang Engler in einer jüngst veröffentlichten Studie fest.
So stehen wir vor den Auswirkungen einer ökonomischen Transformation, die sich nicht als Strukturwandel, sondern als rapider Strukturbruch vollzogen und im Osten Deutschlands deshalb keine postindustrielle (wie im Westen), sondern eine deindustrialisierte Landschaft hervorgebracht hat. Dass diese beiden Gesellschaftszustände - postindustriell und deindustrialisiert - in ihrer grundsätzlichen Differenz nicht verstanden wurden, gehört nach Engler zu den zentralen Irrtümern deutscher Vereinigungspolitik. Denn die von der Deindustrialisierung Betroffenen erfahren diesen Unterschied ganz existenziell: Sie haben keinen "Modernisierungsschub" zu verkraften, also individuelle Neuorientierungs- oder Anpassungsprobleme zu lösen, sondern sie kämpfen, einzeln wie kollektiv, ums Überleben - weniger materiell-finanziell (das zunehmend auch) als mehr im Sinne einer jeden Morgen neu zu findenden Rechtfertigung: Warum soll man als aktiver, mobiler und ehrgeiziger Mensch in einer Region bleiben, die dauerhaft mit einer Arbeitslosigkeit von 25 Prozent und mehr zu kämpfen hat, in der die Bahn erst einzelne Bahnhöfe, dann ganze Strecken stilllegt, wo Sparkassen und Postfilialen reihenweise schließen, wo Ärzte und Schulen nur noch in der Kreisstadt zu finden sind, der Einzelhandel zum Erliegen kommt und - als finale Katastrophe - die letzte Kneipe aufgibt. Wenn dann nur noch die Tankstelle als Zuflucht aller Alltagsbedürfnisse übrig bleibt, sollte man sich nicht wundern, dass früher oder später alle vom "Abhauen" träumen. Alarmierte Regionalforscher warnen inzwischen vor einer mentalen Verinnerlichung der Krise: Die Betroffenen selbst sprechen von ihren Heimatorten als "sterbenden Städten" und verfallen angesichts der ausweglosen Peripherisierung in Depressionen.
Die Krise der ostdeutschen Städte lässt sich als Muster wie als Signal für das Ende einer Epoche interpretieren. An deren Beginn, im 19. Jahrhundert, hatte die industrielle Revolution und die Suche nach Arbeit wahre Völkerwanderungen kreuz und quer durch Europa ausgelöst. Um Wohnraum für das neu entstandene Proletariat zu schaffen, waren in einem gewaltigen Kraftakt zahllose Städte aus ihrer mittelalterlichen Beschränktheit gerissen und den neuen Produktions- und Konsumbedürfnissen angepasst worden. Heute stammen immer mehr Alltagswaren und Rohstoffe aus Ländern, in denen die Arbeitskraft deutlich billiger ist. In Mitteleuropa lösen sich die auf Industriearbeit ausgerichteten Lebenswelten auf, was ihre neuerliche Verwandlung erwarten lässt. Nur - welche Verwandlung?
Schrumpfung als Symptom industrieller Wandlungsprozesse ist weder ein neues noch ein speziell ostdeutsches Phänomen. Die Krise der Montan- oder der Textilindustrie liefert hierfür viele Vorbilder, etwa in England, Ostfrankreich, Belgien oder den USA. Neu ist allerdings der nun erreichte Grad der "Überflüssigkeit": Nahezu das gesamte Erwerbsspektrum einer modernen Industriegesellschaft wurde als Folge der deutsch-deutschen Wirtschaftsunion 1990 vollkommen unvorbereitet zur Disposition gestellt. Selbst Städte mit einer vielfältig ausdifferenzierten Fertigungspalette blieben von den Einbrüchen nicht verschont, denn mit den jeweiligen Hauptprodukten verschwand auch die weit gefächerte Zuliefererstruktur. An der ostdeutschen Situation lässt sich also einiges über das Schicksal von Regionen lernen, die im Zuge globalisierter Wirtschaftsprozesse uninteressant geworden sind: Der Unterschied der ostelbischen Tiefebene zu den prosperierenden westeuropäischen Produktions- und Innovationszentren - von Rotterdam und Lille rheinabwärts bis ans Mittelmeer - ist offenbar zu groß. Außerdem reicht dank radikaler Marktöffnung die Binnennachfrage für rentable heimische Produktionen nicht aus. Angesichts dieser Bedingungen sind alle Hoffnungen auf "Nachholeffekte" und "Aufschwung" in den Wind gesprochen. Eine solche Region ernährt ihre bisherige Bevölkerung nicht mehr, sie wird zum Schattenreich des neoliberalen Globalisierungsmodells.
Während in allen Diskursen über zukünftige Wirtschafts- und Gesellschaftsformen stets nur die Gewinnerseite eine Rolle spielt, gilt den Verlierern des Epochenbruchs selten die nötige Aufmerksamkeit. In Ostdeutschland geht es aber in erster Linie um diese Verlierer, weil sie durch ihre massenhafte individuelle Anpassung eine zunehmend spürbare Umwälzung der Gesellschaftsverhältnisse bewirken: Die Menschen ziehen der Arbeit und damit den Lebenschancen hinterher. Dieser Prozess hat in einigen östlichen Bundesländern bereits eine bestürzende Dynamik gewonnen. Er könnte schon bald zu einem Wandel in der Raumstruktur führen, einschließlich der Auflassung ganzer Stadtteile oder der gezielten Absiedlung bestimmter Landstriche.
Um die massenhafte individuelle Betroffenheit und Verunsicherung aufzufangen, sind von Planern wie Politikern vor allem soziale und kulturelle Strategien gefragt - unter Stichworten wie Entschleunigung, Entdichtung, Verkleinerung, Vorläufigkeit, Abschied. Einem solchen notwendigen Wandel der Leitbilder stand bislang entgegen, dass in den auf permanentes Wachstum gegründeten Gesellschaften "Schrumpfung" oder "Rückzug" einem grundsätzlichen Tabu unterworfen waren bzw. sind. Doch gemessen an den fundamentalen Umbrüchen zu Beginn des Industriezeitalters darf an dessen Ende eine neuerliche Infragestellung aller vertrauten Verhältnisse weder verwundern noch beirren. Im Gegenteil - die dramatische Krise der ostdeutschen Städte sollte ein weiterer Anlass dafür sein, über vernünftige Rückzugsstrategien aus der herkömmlichen Arbeitsgesellschaft insgesamt nachzudenken.
Und weil Schrumpfungsprozesse von durchreisenden "Bauprimadonnen" weder verstanden noch bewältigt werden können, schlägt ja vielleicht endlich die Stunde der Geduldigen. Sie sind am ehesten bereit, die neuen Länder tatsächlich als Neuland zu begreifen, wo "Scouts und Pioniere im retardierenden Zukunftsland an den inneren Peripherien auf die ,Rückkehr der Wölfe warten und bereit sind, die Auflassungsarbeiten im Interesse des Weltklimas auf das Gewissenhafteste zu übernehmen" (Simone Hain). So könnte am Ende also der Abschied von einer Epoche noch die Wendung ins Positive finden: Die von der Industrie hinterlassenen Ländereien als Paradiese für Gärtner und Träumer, für die Kundschafter einer völlig neuen Lebensweise. Wäre das wirklich eine so erschreckende Vision?
II. Die perforierte Stadt - Chaos oder Methode?
Leipzig hat schon viele Prädikate erhalten: Von Johann Wolfgang von Goethe mit dem Kompliment Klein-Paris bedacht, war die Stadt tatsächlich lange Zeit eine weltläufige Handelsstadt und Messemetropole, deren Einwohnerverlust mit der Vertreibung der jüdischen Wohnbevölkerung in der Nazizeit begann. In den späten achtziger Jahren war die einst repräsentative und wohlhabende Stadt zweifellos an einem Tiefpunkt ihrer Geschichte angekommen und zur kaputtesten Großstadt der späten DDR verkommen. Nicht allein, aber auch nicht zuletzt aufgrund ihres augenscheinlichen baulichen Verfalls und des damit einhergehenden Kulturverlusts sowie der eklatanten Umweltbelastungen wurde Leipzig zu einem der Plätze des gesellschaftlichen Umbruchs und im Herbst 1989 zur Heldenstadt ausgerufen. Die eintreffenden Wendetouristen aus dem Westen erblickten ein morbides Stadtbild voller "Schätzchen", die ihnen nur kurze Zeit darauf per Einigungsvertrag und Restitution zufielen. Erben und Investoren, Liebhaber und "Developer" machten sich daran, ein bemerkenswertes Potenzial an vornehmer und schlichter gründerzeitlicher Altbausubstanz zu verkaufen oder selbst zu sanieren. In der Boomtown Leipzig drehten sich alsbald die Kräne über den Großprojekten Messe, Flughafen und Autobahn. Parallel dazu wurden nahezu 80 Prozent der Altbausubstanz saniert und modernisiert.
Schon Mitte der neunziger Jahre kam freilich der Katzenjammer. Im Windschatten des Booms stellten die Akteure auf dem Immobilienmarkt erschrocken fest, dass sie selbst den Aufschwung ausgelöst hatten, für den sie doch zu bauen glaubten. Das frühzeitige Aufzeigen von etwa 800 000 Quadratmetern leer stehender Büro- und Gewerbefläche sowie annähernd 60 000 leeren Wohnungen brachte der Stadt den zweifelhaften Ruf der Stadt in Ostdeutschland mit den größten Leerständen ein. Diesem problematischen Image begegnet die Stadt seither mit einem offenen und innovativen Umgang mit dem Leerstand. Leipzig kann gewiss für sich in Anspruch nehmen, die Debatte um den Leerstand in Ostdeutschland ausgelöst zu haben, die sich innerhalb weniger Monate zu dem Slogan der schrumpfenden Stadt verdichtete.
Als würden Städte schrumpfen! Was sich tatsächlich vollzieht, ist ein anhaltender und massiver Nachfragerückgang nach Wohnungen und anderen bebauten Flächen, der nicht - wenigstens nicht überall oder vollständig - durch Mehrverbrauch an Wohnfläche kompensiert werden kann. Für eine Nutzung entfallen die schlechtesten Lagen und Bestände; der gesamte Immobilienmarkt verliert an Dynamik und wird zum riskanten Unternehmen, Sanierungs- und Neubauvorhaben stagnieren oder kommen völlig zum Erliegen. Parallel dazu dehnen sich die Baugebiete von Städten und Gemeinden auf die "grüne Wiese" am Stadtrand aus. So wird die Nutzungsdecke immer dünner, bis sie am Ende reißt.
Inzwischen gibt es eine städtebauliche Metapher für diese Art von Umverteilungsprozessen im Raum: die perforierte Stadt. Dieser Begriff tauchte erstmals auf, als die Zeitschrift "Stadtbauwelt" eine Ausgabe unter den Titel stellte: "Was meint das Schlagwort Die perforierte Stadt?"
Aber die perforierte Stadt beschreibt darüber hinaus auch einen Ausblick und eine Entwicklungsrichtung: Anders als es in den vergangenen zehn Jahren exzessiv geplant wurde, dürften sich die Lücken in der städtischen Struktur mit großer Wahrscheinlichkeit nicht wieder füllen. Die weitere Auflösung des "starken architektonischen Zusammenhalts" scheint vorgezeichnet, wenn niemand das Risiko der Sanierung oder den Neubau in Lücken übernehmen will. In diesem Sinne bedeutet die perforierte Stadt eine sukzessive Veränderung ganz wesentlicher Eigenschaften der europäischen Stadt, wie sie André Corboz zutreffend mit dem "Doppelprinzip der aneinander stoßenden Bauten und der einheitlichen Höhe" beschreibt.
Die Stadt verändert sich. Wann und wo welche Verluste eintreten, wird vor allem davon abhängen, wohin die Nachfrage bei einem Überangebot an Flächen driftet. Die große Frage ist, ob sich die Leerstände weiter überwiegend dispers verteilen oder ob im Extremfall einzelne Stadtquartiere von ihren Nutzern aufgegeben werden. Niemand kann das genau vorhersagen. Vor dem Hintergrund einer sich abzeichnenden degressiven Entwicklung werden räumliche Umverteilungsprozesse unsystematisch oder sogar zufällig ablaufen, ja anarchisch anmuten - das ist das Gegenteil von Planung, wie wir sie aus Zeiten des Wachstums und einer wohlfahrtsstaatlichen Fördermoral kennen.
Dass die Spieltheorie in jüngster Zeit immer wieder für den urbanen Kontext der schrumpfenden Städte herangezogen wird, könnte ein Hinweis darauf sein, dass sich unser Planungswissen und -handeln viel stärker als bisher um die Akteure der baulichen Reproduktions- und städtischen Transformationsprozesse bemühen muss. Deren Verhalten ist entweder rational und unterstellt bei den Mitspielern ebenfalls strategische Entscheidungen, wie es das Grundkonzept der Spieltheorie voraussetzt, oder es ist in einem unscharf abgegrenzten Spielraum zufällig und unbewusst. Dies könnte für die kleinteilig parzellierten Bestände der altstädtischen Strukturen des 19. und 20. Jahrhunderts - im Unterschied zu den großen Wohnsiedlungen der ökonomisch handelnden, koalitionsfähigen Wohnungsunternehmen - sehr viel weniger steuerbare Reproduktionsprozesse bedeuten.
Normative Setzung im Sinne bisherigen Planungshandelns könnte in der perforierten Stadt leicht zu Wunschdenken geraten. Vor dem Hintergrund knapper öffentlicher Kassen und hoher Risiken für die private Immobilienwirtschaft müssten sich unsere Plandokumente ohnehin auf diejenigen Bereiche konzentrieren, für die tatsächlich Interventionen stattfinden sollen und können. Dafür wird man den anderen Teil der Stadt/des Stadtteils sich selbst überlassen müssen. Planung wird vermutlich viel stärker deskriptiv als bisher betrieben werden müssen, was uns übrigens dank einer entwickelten Computertechnik ganz neue Möglichkeiten (geografische Interpretationen, komplexe Datenverknüpfungen, demokratisch zugängliche Datenbanken u.a.m.) eröffnen wird. Planen wird Mitschreiben und Sichtbarmachen.
Von der perforierten Stadt zu sprechen bedeutet nicht das Ende, wohl aber eine neue Facette der europäischen Stadt. Es ist höchste Zeit, sie in die bislang vorherrschende pathetisch-restriktive Konzeption von Stadt einzubinden.
III. Chancen für Zukunft - Erkenntnisse und Überlegungen
Der Diskurs über die Frage, welche Zukunft den Städten und Stadtquartieren Ostdeutschlands vorausgesagt werden kann, ist derzeit vorwiegend von Fragen geprägt, mit Problemen überladen und im Grundtenor negativ besetzt. Das ist aus der Konfrontation der wachstumsorientierten und bisher auf die "blühenden Landschaften" gerichteten Sicht mit den zunehmend nicht mehr zu überdeckenden Brüchen nicht verwunderlich. Es zeigt aber eben auch die nach wie vor vorherrschende Tendenz nicht nur der Politik, sondern auch der Gesellschaft, unliebsame Entwicklungen zu verdrängen, keine Prävention zu betreiben und erst dann zu reagieren, wenn schon die Grenzen der ökonomischen Handlungsfähigkeit erreicht sind. Wenn dies auch in den vergangenen 150 Jahren und allemal für die derzeit in Deutschland lebenden Generationen ungewohnt sein mag, ist der Auf- und Niedergang von Regionen, Städten, Landschaften, das Entstehen von Wüstungen auch in Mitteleuropa verbürgt. Allein der Gedanke, dass ein Politiker dies zum Thema einer vier- oder auch siebenjährigen Legislaturperiode erklären könnte, ist wenig geeignet, die Wählerschaft zu einer Wiederwahl zu animieren. Aber der Realität ist ins Auge zu sehen, und sie erfordert politisches Vorausdenken und abgewogenes, motiviertes Handeln. Hierzu ist von ermutigenden Aktivitäten zu berichten:
1. Der unter der Schirmherrschaft des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz in den Jahren 2001 und 2002 durchgeführte "Bundesweite Wettbewerb: Leben in historischen Innenstädten und Ortskernen - Zukunft für urbane Zentren und Räume" mit 129 Teilnehmerstädten aus Gesamtdeutschland hat überzeugende Ergebnisse erbracht.
2. Der Bericht der im Jahr 2000 vom Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen eingesetzten Expertenkommission "Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in den neuen Bundesländern" stellte ein Alarmsignal dar; er ging ursprünglich auf die ostdeutsche Wohnungswirtschaft zurück, die eine entlastende Regelung der Altschuldenproblematik eingefordert hatte.
Es muss als großes Verdienst der Politik anerkannt werden, dass es gelungen ist, die von der Expertenkommission zur Konsolidierung des Wohnungsmarktes empfohlene Abrissquote an eine vorlaufende Planungskomponente zu koppeln, die einer gesamtstädtischen Abwägung und Zielformulierung folgt. Die 260 Kommunen, die sich am Bundeswettbewerb "Stadtumbau Ost" im Jahr 2002 beteiligten, haben - auf der Grundlage einer hohen Bundesförderung und differenzierter landespolitischer Aktivitäten - mit in der Regel eingekauftem planerischem Sachverstand "integrierte Stadtentwicklungskonzepte" erarbeitet. Dabei haben sie erfahren, dass ressortorientierte und disperse Stadtpolitik unzulänglich funktioniert und vernetztes Handeln unverzichtbar ist. Planung hat in diesem Prozess wieder einen Stellenwert bekommen, nachdem sie vielerorts in Verruf geraten war ("Marktgläubigkeit"). Die hochkarätig besetzte Jury konnte 34 von 269 Einreichungen zum Wettbewerb für ihre innovativen und realitätsnahen Konzepte auszeichnen.
Es handelte sich dabei um die erste Phase eines für das heutige planerische und politische Verständnis unverzichtbaren Lernprozesses, so wie das ganze Stadtumbau-Thema nicht ohne Grund als "lernendes Programm" betrachtet wird. Umso bedauerlicher ist es, dass die einschlägigen Dokumentationen, insbesondere die wissenschaftliche Auswertung mit einer beeindruckend breiten Palette von Ansätzen und Lösungen, der Fachwelt und der interessierten Öffentlichkeit bisher nicht zur Verfügung stehen. Der weitere Lernprozess ist dadurch behindert. Die ursprünglich positive Grundstimmung, die auch aus dem Eindruck eines gemeinsamen Willens von Politik, Fachwelt und Unternehmen gespeist wurde, ist durch diesen Verzug bedauerlicherweise Skepsis gewichen.
Diesen Zustand gilt es schnellstens zu überwinden. Die weitere Zunahme der Leerstände, die Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz der Wohnungsunternehmen und die notwendige Qualität des Stadtumbaus lassen jede weitere Verzögerung zum Verlust werden. Die Forderung nach Qualität ist für ein solches Vorgehen, wo Umquartierungen sozialorientiert erfolgen müssen, Steuergelder eingesetzt und neue Formen von städtischem Leben angestrebt werden, unverzichtbar. Qualität muss für den Gesamtprozess immer wieder eingefordert werden, und im Rahmen des lernenden Programms sind die Kriterien durch ein entsprechendes Monitoring immer wieder zu aktualisieren bzw. in ihrem Anspruch zu verschärfen.
Das sind nur einige, aber wichtige Aspekte, die aus der Sicht und Verantwortung der Stadtpolitiker und Planer helfen können, die Zukunft von Städten, Stadtregionen und Stadtquartieren zu sichern.
Auch wenn sie stark im Bewusstsein der Akteure verankert sind, bieten sie doch nur geringe Chancen zur Abwehr von globalen Entwicklungen und des immer ungezügelteren Wirkens der Marktkräfte. Der unter sozialen Aspekten unverzichtbare Ansatz der Sicherung einer zivilisatorischen Komponente, der Humanität und ein funktionierendes Sozialgefüge impliziert, ist (noch?) deutlich unterentwickelt. Staat und Parteien - weniger wohl die Gesellschaft als Ganzes - streben einen Rückzug aus der Verantwortung, eine Abkehr von der Deregulierung und dem Primat marktwirtschaftlicher Regulative sowie einen Abbau von Subventionen an und reagieren damit auf ständig wachsende ökonomisch bedingte Einschränkungen ihres Handlungsspielraums.
Der Teufelskreis von Reform- und Problemstau und den - im Interesse des öffentlichen Friedens - begründeten Erwartungen an eine Sicherung der Lebensqualität ist noch kaum erkannt, geschweige denn gebrochen. Es wird keine Zukunft geben, ohne die ökonomischen Rahmenbedingungen zur Sicherung eines kulturellen Grundkonsenses auf solide Grundlagen zu stellen, d.h. auch kontraproduktive Subventionen zugunsten notwendiger Existenzsicherung abzubauen. In diesen Prozess werden auch die Städte, Stadtquartiere und Regionen Ostdeutschlands - ob man das will oder nicht - einzubeziehen sein. Milliarden sind in den vergangenen zwölf Jahren eingesetzt worden und haben keinen selbst tragenden wirtschaftlichen Aufschwung erzeugt. Sie sind nach dem Gießkannenprinzip in die Fläche vergossen worden. Der Länderfinanzausgleich und die EU-Förderung dürften temporäre Unterstützungsprozesse sein. Auf Dauer sind sie nicht zu verantworten. Somit steht ein hoffentlich kulturell unterfütterter Wertsetzungsprozess bevor, der möglichst bald eine sinnvolle Orientierung auf wirksame und zukunftsfähige Förderungen auslöst. Eine durch Subventionen künstlich erhaltene Wirtschaftsstruktur ist Verschwendung von Volksvermögen, und das Geld wird bei knappen Kassen in Zukunft an wichtiger Stelle fehlen. Politik wird mehr und mehr die Kunst des Machbaren werden. So ist nicht auszuschließen, dass neben den durch Wirtschaftskraft, günstige Verkehrslage und innovative Milieus geprägten Konzentrationsräumen in Mitteleuropa auch dünn besiedelte ökologische Ausgleichsräume mit landwirtschaftlichen und Freizeitfunktionen existieren werden. Wer genau hinschaut, wird bemerken, dass diese Entwicklung längst eingetreten ist. Es kann nicht falsch sein, sie mit den zur Verfügung stehenden Mitteln und im Sinne einer europäischen Raumordnungspolitik zu unterstützen und damit mittel- bzw. langfristig neue Formen sinnvoller Betätigung von Menschen und neue Wirtschaftsstrukturen zu entwickeln. Das Festhalten an Gewohntem, an in Gegenwart und Vergangenheit orientierten Denkmustern und Verhaltensweisen reicht nicht mehr, um die Zukunft zu gewinnen.
Das Problem wird auch an den Städten und Stadtquartieren, an den ländlichen Siedlungen und an den Zuständen in den Regionen nicht vorbeigehen. Da die Gesellschaft nicht gewillt ist, Anstrengungen in Richtung auf eine demographische Umsteuerung zu unternehmen, und sie sich nicht zu einer gezielten Einwanderungspolitik bekennt, wird der Rückgang der Population unwiderruflich sein. Das wird Auswirkungen auf alle Besiedlungsstrukturen haben. Schlimm ist das aber nur, wenn man sich darauf nicht einlassen will, ständig dagegen arbeitet und am Ende als Verlierer dasteht. Diese Prozesse sozial determiniert und bewusst zu gestalten ist eine Aufgabe von hohem humanistischen Anspruch und der Inbegriff einer zivilisierten Gesellschaft. Wir sollten die Herausforderung annehmen.