Der Politikwissenschaftlicher Daniel Drezner warf 2016 in einem Meinungsbeitrag für die "Washington Post" eine Frage auf, die von VertreterInnen der politikwissenschaftlichen Teildisziplin der Internationalen Beziehungen (IB) immer häufiger gestellt wird: "Where have all the big international relations theories gone?" Es ist in der Tat bemerkenswert, dass die großen IB-Theoriedebatten inzwischen aus den Fachzeitschriften und Konferenzprogrammen verschwunden sind. 2014 ergab die TRIP-Umfrage (Teaching, Research and International Policy), dass der Anteil nichtparadigmatischer Forschung innerhalb der IB von 30 Prozent 1980 auf über 50 Prozent 2014 angestiegen ist. Zwar wurden in den vergangenen Jahren bei der International Studies Association, der größten internationalen Standesorganisation für die Beschäftigung mit internationaler Politik, eine Theoriesektion neu eingerichtet und Journals wie "International Theory" gegründet. Dennoch ist eine der meist gehörten Klagen, "dass die IB gar keine großen theoretischen Debatten mehr haben" und sich nur noch im "Klein-Klein der jeweiligen Analysemodelle" verlieren.
Dabei zeichneten sich gerade die IB lange Zeit durch die Abfolge "großer Debatten" aus. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg erschütterten im Wettbewerb über das beste Erklärungsmodell für das Weltgeschehen regelrechte "Paradigmenkriege" die Teildisziplin. Und nach dem Ende des Ost-West-Konflikts überschlugen sich von Francis Fukuyamas Verkündung des "Endes der Geschichte" bis hin zu Samuel Huntingtons Gegenthese vom "Kampf der Kulturen" eine Reihe spekulativer Theorien darüber, wie sich die Welt künftig politisch entwickeln würde. Zwar hat, wie auch Drezner beschreibt, das neue Jahrtausend mit "9/11", der Rückkehr Chinas auf die Weltbühne oder dem "democratic rollback" und dem Vormarsch von Autokraten ähnliche Einschnitte und Umbrüche mit sich gebracht wie frühere Dekaden. Aber um theoretische Ansätze zur Erklärung dieser Entwicklungen ist es ruhiger geworden.
Nun könnte es sein, dass dies Teil eines größeren Trends in den Sozialwissenschaften ist, im Zuge dessen Theorien und Ideen an Bedeutung verlieren oder durch Daten ersetzt werden. Chris Anderson, ehemaliger Chefredakteur des "Wired"-Magazins, hat angesichts der Datenrevolution schon vor Jahren das "Ende der Theorie" ausgerufen: "Vergesst Taxonomie, Ontologie und Psychologie! Wer weiß schon, warum Menschen sich so und nicht anders verhalten? Wenn wir nur genug Daten haben, sprechen sie für sich selbst." Doch so einfach ist es nicht, denn Forschungen belegen, dass die Nachfrage nach theoretischen Ideen im Bereich der Außenpolitik eher zunimmt.
Während also die Abkehr von den großen theoretischen Entwürfen von vielen VertreterInnen des Fachs als positive Entwicklung gepriesen wird – die theoretische Grundierung habe ohnehin nur die Praxisferne der Zunft befördert –, sehen andere das Ende der Großtheorien in den IB mit Sorge und möchten ihm durch mehr und bessere Theoriebildung entgegenwirken. Einig ist sich die IB-Zunft zumindest darin, dass der Markt an Theorien der internationalen Politik im 21. Jahrhundert wenig Neues zu bieten hat. In diesem Beitrag gehe ich deshalb der Frage nach, warum die großen Theorien scheinbar an Bedeutung verloren haben, bevor ich mögliche Strategien zur Revitalisierung der IB-Theorien exemplarisch mit Blick auf die Nahost- und Golfregion skizziere. Zunächst gilt es jedoch, ganz allgemein die Notwendigkeit und Nützlichkeit von Theorien zu vergegenwärtigen.
Notwendigkeit und Nützlichkeit von Theorien
Eine weit verbreitete Meinung ist, dass Theorien irrelevant für die praktische Politik seien – ganz im Sinne des Gemeinspruchs, wonach etwas zwar in der Theorie richtig sein könne, aber nichts für die Praxis tauge. Theorieorientiertes Denken wird oft als Ablenkung von den realweltlichen Problemen, manchmal sogar als Mangel an Verantwortungsbewusstsein für die Probleme der internationalen Politik empfunden. Nicht wenige in der IB-Zunft fordern einen stärkeren Praxisbezug.
Diese Forderungen sind nicht falsch, sie verkennen aber die Pointe der Praxisrelevanz von Theorie. Um es erneut mit einem Gemeinspruch zu sagen: Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie! So empfahl Immanuel Kant nicht etwa Theorieabstinenz als Remedur für praxisuntaugliche Theorie, sondern mehr und bessere Theorie. Dem liegt nicht nur die Annahme zugrunde, dass uns reale Phänomene nur über theoretische Begriffe zugänglich sind, sondern dass empirische Aussagen immer schon auf theoretischem Vorwissen basieren. Sowohl unsere Alltagswahrnehmungen als auch unser Handeln beruhen auf einem einzigen Geflecht von Hypothesen, ohne die wir unsere Gedanken nicht sinnvoll artikulieren und Handlungen begründen können. Folglich sind Beschreibungen, Erklärungen oder Prognosen stets durch theoretische Vorentscheidungen geprägt, und um diese zu treffen oder infrage zu stellen, erweisen sich Theorien als "praktisch".
Insofern sind Theorien in jedem Lebensbereich hilfreich. Ihre Notwendigkeit und Nützlichkeit nehmen jedoch in dem Maße zu, in dem der zu analysierende Gegenstand komplexer wird. Die IB befassen sich "mit dem denkbar größten und kompliziertesten Sozialsystem", weshalb sie stärker von Theorie abhängig sind als andere Sozialwissenschaften. Dennoch wird den IB heute ihre Theorievielfalt vorgehalten. Das steht in einem starken Kontrast zu der Kritik, die noch in den 1960er Jahren an die Zunft gerichtet wurde, sie spekuliere lediglich über die internationale Gesellschaft. Sowohl ein Zuviel als auch ein Zuwenig an Theorie ist unbefriedigend. Vielmehr kommt es darauf an, was Theorien leisten sollen.
Auf einer basalen Ebene können Theorien ganz allgemein als generalisierende Aussagen verstanden werden. Jeder von uns verwendet derartige "Theorien" ständig im alltäglichen Sprachgebrauch, etwa wenn wir davon sprechen, dass Regierungen primär eigene Interessen verfolgen: Aus der Beobachtung, dass einige Regierungen außenpolitische Entscheidungen zu ihren eigenen Gunsten treffen, schließen wir, dass alle Regierungen eigennützig handeln. Wissenschaftliches Denken funktioniert im Prinzip ähnlich, freilich mit dem Unterschied, dass hier Theorien gezielt verwendet und hinterfragte Annahmen explizit gemacht werden. Theorien machen erstens ontologische Aussagen über die "Realität". In den IB sind das für RealistInnen die nach Sicherheit und Macht strebenden souveränen Staaten in einer anarchischen Umwelt, für feministische TheoretikerInnen sind es die Geschlechterverhältnisse und für MarxistInnen der durch den ökonomischen Determinismus angetriebene Kampf zwischen sozialen Klassen. Zweitens machen Theorien Aussagen über die Methode der Erkenntnisgewinnung und das dahinter liegende Wissenschaftsverständnis. Drittens tragen Theorien dazu bei, die Anwendung unseres Wissens in der Praxis zu ermöglichen und damit zu begründen, was "sein soll".
Geht man also von einem pragmatistischen Theorieverständnis aus, enthalten Beobachtungen "unvermeidlich bereits Theorien, die die Aufmerksamkeit auf bestimmte Phänomene lenken und die Art, wie wir Phänomene wahrnehmen, mitbestimmen". Insofern gibt es keine "theorielose" Beschäftigung mit internationaler Politik. Wenn nun aber die politische Praxis zumindest implizit immer von Grundannahmen über die internationale Politik ausgeht, was unterscheidet dann die wissenschaftliche Beschäftigung mit außenpolitischen Fragen von der Praxis? Die Theoriebezogenheit sicherlich nicht. Wenn außenpolitisches Handeln immer schon theoriegeleitet ist, dann ist nicht so sehr die Frage zentral, ob Theorien notwendig und nützlich sind, sondern nur noch, welche.
Von der Theorienkonkurrenz zum -pluralismus
Spätestens seit den 1990er Jahren befindet sich die IB-Theorienlandschaft in einem Prozess der Ausdifferenzierung. Dafür gibt es mehrere Gründe: Erstens ist das rasche Wachstum an theoretischen Entwürfen das Ergebnis kumulativer Theoriebildung und einer Professionalisierung innerhalb einer Disziplin, die auf eine fast hundertjährige Geschichte zurückblicken kann. Zweitens ist Theorienpluralismus auch das Ergebnis einer inzwischen kaum mehr überschaubaren Adaption von Erkenntnissen aus benachbarten (sozial)wissenschaftlichen Disziplinen, die von der Ökonomie über die Psychologie bis hin zur Quantenphysik reicht. Drittens hat der theoretische Pluralismus auch theorieimmanente Gründe. So hat 1979 die Veröffentlichung der "Theory of International Politics" durch Kenneth Waltz, mit der er den Neorealismus begründete, zur Entwicklung einer Vielzahl alternativer Theorien geführt. Als sozialwissenschaftliche Disziplin steht die IB-Theoriebildung schließlich viertens immer auch in einem Wechselverhältnis mit ihrem realhistorischen und gesellschaftspolitischen Kontext.
Die Komplexität der Theoriebildung wurde lange Zeit nicht gut sichtbar, da die Disziplin lediglich als Abfolge sogenannter großer Debatten dargestellt wurde. In dieser "Geschichte" beginnt die Entwicklung der Disziplin in den 1930er und 1940er Jahren zunächst als Auseinandersetzung zwischen der realistischen Schule, die davon ausgeht, dass Menschen von Angst und Gemeinwesen von Unsicherheit getrieben werden und daher nach Macht streben, und der idealistischen Schule, die aufgrund der Vernunftbegabung des Menschen an die Möglichkeit von Frieden glaubt, über die Frage, ob und inwieweit es Fortschritte in den Beziehungen zwischen den Staaten geben könne. Dieser Auseinandersetzung folgte die in den 1950er und 1960er Jahren einsetzende zweite große Debatte zwischen TraditionalistInnen und SzientistInnen, die weitestgehend die fachspezifische Version des damals allgemeinen sozialwissenschaftlichen Methodenstreits um den Vorrang von geisteswissenschaftlichem "Verstehen" oder naturwissenschaftlich orientiertem "Erklären" war.
Die "großen Debatten" ermöglichten lange eine recht übersichtliche Theorienklassifikation, die jedoch spätestens mit der Identifikation einer "dritten Debatte" seit den 1980er Jahren fragwürdig wurde. Allein der Umstand, dass der Begriff der "dritten Debatte" für zwei unterschiedliche theoretische Auseinandersetzungen verwendet wird – zum einen als "interparadigmatische Debatte" zwischen RealistInnen, PluralistInnen und StrukturalistInnen seit den 1970er Jahren, in der es vor allem um die Rolle von Staaten und nichtstaatlichen Akteuren und um das Wechselverhältnis von internationaler Politik und Ökonomie ging, zum anderen als Debatte zwischen PositivistInnen und PostpositivistInnen seit Mitte der 1980er Jahre, die eine intensive Auseinandersetzung mit den wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Disziplin mit sich brachte, im Zuge derer zahlreiche bisherige Annahmen über die Beschaffenheit der internationalen Beziehungen wie etwa die Anarchie des internationalen Systems infrage gestellt wurden – zeigt die Problematik der "orthodoxen" Geschichtsschreibung. Im Unterschied zu den beiden vorangegangenen Kontroversen, die inhaltlich (Realismus/Idealismus) und methodisch (Traditionalismus/Szientismus) ausgefochten wurden, drehte sich die "dritte Debatte" vor allem um grundsätzliche Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen von Erkenntnissen und Intersubjektivität in den IB. Mit der noch in den 1970er und frühen 1980er Jahren geführten interparadigmatischen Debatte hat die fragmentierte Theorie- und Diskurslandschaft seit den späten 1990er Jahren folglich kaum mehr etwas gemein. Zudem hat das steigende Interesse an nichtwestlichen Theoriebeständen die Zerklüftung der Debattenlandschaft weiter verstärkt.
Ob man die "orthodoxe" Geschichtsschreibung als Debattenabfolge teilt oder nicht: Sie macht die tatsächliche Bandbreite an theoretischen Kontroversen mit unterschiedlichsten wissenschaftstheoretischen Positionen sichtbar. Während die einen die Abfolge von Theoriedebatten als vorparadigmatisch kritisieren, heben andere den identitätsstiftenden Charakter "großer Debatten" hervor. So würden KritikerInnen fälschlicherweise davon ausgehen, dass große Debatten mit einem Mangel an theoretischer Kohärenz innerhalb einer Disziplin einhergehen. Vielmehr sei das Gegenteil der Fall. Zudem seien Debatten Teil der sozialen und intellektuellen Struktur einer akademischen Disziplin, wodurch Macht und Privilegien zugewiesen würden. Kurzum, die "dritte Debatte" ist – anders als die beiden vorangegangenen – eine Debatte "not to be won, but a pluralism to live with".
Erschöpfung oder Vitalität?
Während in Disziplinen wie der Physik oder auch Psychologie der Theorienwettbewerb mit einer Verdrängung von Theorien durch andere, erklärungskräftigere Theorien einhergeht, ist das in den IB nicht der Fall. So scheiden sich auch heute noch die Geister darüber, welche Standards angelegt werden sollten, anhand derer man die Qualität von Theorien bewerten könnte. Viele VertreterInnen des Fachs erheben erst gar nicht den Anspruch, Erklärungen oder Prognosen zu liefern, und lehnen ein an den Naturwissenschaften orientiertes Theorieverständnis mit wissenschaftstheoretisch gestützten Argumenten ab. Statt zu einer Verdrängung von Theorien führten die großen Debatten zu einer Weiterentwicklung, die sich bis heute fortschreibt: Etablierte Theorien werden durch poststrukturalistische Theorien ergänzt, und selbst marxistische Theorien, die seit dem Zerfall des Ostblocks als überholt galten, erfahren angesichts wirtschaftlicher Krisen eine Renaissance. Selbst das realistische Paradigma ist wieder populär.
Für die einen ist der Theorienpluralismus ein Armutszeugnis, weil Theorieverdrängung offensichtlich nicht funktioniert. Für andere wiederum ist der zelebrierte Theorienpluralismus eher Ausdruck von Vitalität. Viele sogenannte Theorien mittlerer Reichweite beanspruchen nicht, die internationalen Beziehungen insgesamt zu erfassen, sondern erheben einen zeitlich und räumlich begrenzten Erklärungsanspruch. Folglich stehen sie auch nicht in Konkurrenz zueinander, sondern ergänzen sich wechselseitig.
Die Konsequenzen sind aber dieselben: das Ende der großen Theorien und Debatten in den IB. Ihren Teil dazu beigetragen haben vor allem zwei Entwicklungen: Zum einen haben in den 1990er Jahren jene VertreterInnen in den IB Oberwasser bekommen, die einen übertriebenen Hang zur Epistemologisierung der IB pflegten. Wurde in den ersten beiden "großen Debatten" noch vorranging über ontologische und methodische Fragen gerungen, so war die Debatte zwischen PositivistInnen und PostpositivistInnen primär eine über Wissenschaftstheorie. Epistemologische Fragen stehen zwar in einem unauflösbaren Zusammenhang mit den inhaltlichen Schwerpunkten der Disziplin. Im Gegensatz zu den ontologischen und normativen Fragestellungen sind sie aber nicht IB-spezifisch. Mit der zunehmenden Epistemologisierung der IB ging auch eine Relativierung von Wahrheitsansprüchen einher. Daran sind VertreterInnen der Zunft nicht unschuldig, haben sie doch lange "ihren eigenen Wahrheitsanspruch kleingeredet, die Möglichkeit gesicherten Wissens bezweifelt und ihre Analyse in einem reflexiven Regress auf die eigene Arbeit konzentriert".
Zum anderen machte sich gleichzeitig ein oberflächliches Theorieverständnis breit. So wurden in den vergangenen Jahren weit weniger Anstrengungen hinsichtlich der Synthese oder Verfeinerung von Theorien unternommen. Stattdessen hat sich die Forschung auf "vereinfachende Hypothesentests" konzentriert. Dieser Entwicklung mag einerseits sicherlich das Vorhandensein neuer Daten und der generelle Trend zur Quantifizierung des Sozialen in die Hände gespielt haben. Andererseits ist der Hang zur Überprüfung von Hypothesen aber ein methodenübergreifendes Phänomen. Theoriebildung und Hypothesentests sind zwar beides wichtige Komponenten der Sozialwissenschaften, aber der Vorzug der Methode vor der Theorie weist in die falsche Richtung: "Privileging simplistic hypothesis testing is a mistake, because insufficient attention to theory leads to misspecified empirical models or misleading measures of key concepts."
Revitalisierung am Beispiel Nahostforschung
Um theoretisches Ansehen zurückzugewinnen, sollten sich die IB wieder stärker mit ontologischen Fragen beschäftigen, sich auf das genuin Politische der internationalen Beziehungen konzentrieren und sich von theorieorientiertem Denken leiten lassen. Doch wie könnten mögliche Strategien zur Revitalisierung der großen Theorien und Debatten aussehen, und wie erklärungskräftig sind die heutigen IB-Theorien in einer Welt, die aus den Fugen geraten scheint? Diese abstrakt anmutenden Fragen möchte ich exemplarisch am Beispiel der regionalen Ordnung im Nahen Osten erörtern, wo sich die neue Unübersichtlichkeit der Weltpolitik in besonderer Weise zeigt. Was also könnten die IB zur Beschreibung und Erklärung der regionalen Dynamiken im Nahen Osten und in der Golfregion beitragen? Meines Erachtens lassen sich zwei mögliche Strategien identifizieren, die zugleich einen generellen Beitrag zur Belebung der IB-Theorien leisten könnten.
Rätsellösen und Theorie-Raffinement
Eine erste Strategie könnte darin bestehen, die existierenden IB-Theorien wieder verstärkt zur Beantwortung konkreter empirischer Fragestellungen zu nutzen und Theorien zu verfeinern.
Wie eine solche Strategie aussehen könnte, lässt sich an der Allianzforschung illustrieren: Obwohl die Regionalmacht Iran seit der Invasion des Irak durch US-Truppen 2003 am meisten profitiert hat, hat sich in der Region bislang keine starke Allianz gegen Teheran gebildet. Genau eine solche Gegenmachtbildung würden strukturelle RealistInnen jedoch erwarten. So geht der Balance-of-power-Ansatz davon aus, dass Staaten immer gegen den mächtigsten Staat balancieren. Vertreter des Balance-of-threat-Ansatzes erwarten hingegen, dass Staaten nicht gegen den mächtigsten, sondern gegen den bedrohlichsten Pol balancieren. Damit wird das Moment der Wahrnehmung in die Analyse eingeführt: Die Existenz von Waffen allein ist also nicht entscheidend für die realistische Allianztheorie, sondern die Frage, ob diese Waffen in den Händen eines bedrohlichen Staates liegen.
Keiner der beiden Ansätze vermag es, das Allianzverhalten in der Golfregion schlüssig zu erklären. Nach der reinen Gleichgewichtstheorie hätte sich eine türkisch-saudisch-israelisch-ägyptische Allianz bilden müssen, um Iran zurückzudrängen, denn alle vier Staaten müsste der iranische Machtgewinn in Sorge versetzen. Stattdessen haben Israel und Saudi-Arabien eine offene Koordination erwogen, während die Türkei und Ägypten sich in manchen Punkten Iran angenähert haben. Nicht balancing, sondern regionales underbalancing, also das Versäumnis von Staaten, eine effektive Politik der Gegenmachtbildung zu betreiben, ist das vorherrschende Verhaltensmuster. Dass sich empirisch oft auch – bedingt durch innerstaatliche Faktoren wie fehlenden Elitenkonsens, Regimeverletzlichkeit oder geringe soziale Kohäsion – underbalancing beobachten lässt, ist in der neorealistischen Forschung durchaus bekannt. Im vorliegenden Fall sprechen die innerstaatlichen Bedingungen jedoch eher dagegen, scheint der Elitenkonsens beispielsweise in Saudi-Arabien doch vergleichsweise hoch und die Regimestabilität nicht ernsthaft gefährdet.
Weit weniger rätselhaft ist regionales underbalancing, wenn die reine Machtgleichgewichtslogik um den Erklärungsansatz der "ideologischen Polarität" erweitert und verfeinert wird: Nicht nur die tatsächlichen oder wahrgenommenen Machtverhältnisse definieren die Struktur eines regionalen Systems. Auch die ideologische Polarisierung spielt offenbar eine wichtige Rolle bei der Freund-Feind-Unterscheidung. So neigen bipolare ideologische Systeme wie zu Zeiten des Kalten Krieges eher zur Allianzbildung entlang ideologischer Konfliktlinien als – wie dies offenbar im Nahen Osten und am Golf der Fall ist – Systeme, die durch machtpolitische und ideologische Multipolarität geprägt sind. Führt man als zusätzlichen Erklärungsfaktor und damit als Verfeinerung der realistischen IB-Theorie die ideologische Polaritätskonfiguration ein, dann lässt sich das rätselhafte Ausbleiben der Gegenmachtbildung im Nahen und Mittleren Osten erklären, ohne die realistische Allianztheorie in Gänze verwerfen zu müssen.
Testfeld von Theorien und Theoriegenerierung
Eine zweite Strategie zur Wiederbelebung der theoretischen Debatten könnte darin liegen, die politischen Dynamiken im Nahen Osten nicht nur zu nutzen, um Theorien zu testen, sondern auch um neue Theorien zu generieren. Dies setzt ebenfalls auf der ontologischen Theorieebene an, allerdings mit dem Unterschied, dass es hier um die Frage geht, "how insights into and studies of the new Middle East can contribute to the academic field of IR and enrich our general understanding of international relations".
Eine seit dem Arabischen Frühling bemerkenswerte Entwicklung ist beispielsweise der häufige Staats- und Regierungschefwechsel in der Region, unter anderem in Iran, Saudi-Arabien, Katar, Jemen oder Ägypten, sodass Perspektiven auf fruchtbaren Boden fallen dürften, die im Unterschied zum anarchischen internationalen System (Neorealismus) oder den innerstaatlichen und gesellschaftspolitischen Bedingungsfaktoren das Individuum und damit die Persönlichkeitsmerkmale von politischen EntscheidungsträgerInnen in den Mittelpunkt stellen. Auch die spezifische Rolle von Katar könnte die klassische Debatte darüber neu entfachen, ob sich eine allgemeine IB-Theorie nur auf Großmächte konzentrieren sollte. Die 2017 ausgebrochene Katar-Krise – der neureiche "Emporkömmling" hat sich mit seiner pragmatischen Haltung gegenüber Iran und seiner Unterstützung der Muslimbruderschaft und radikalislamischen Milizen bei Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Ägypten unbeliebt gemacht – hat nicht nur die Grenzen der regionalen Führerschaft unter dem saudischen Königshaus, sondern auch den geringen Einfluss Washingtons auf das kleine Emirat am Golf aufgezeigt.
Während (früher) vor allem der Westen die Projektionsfläche für neue IB-Theorien bildete, die dann weltweit erprobt wurden, so ließe sich (heute) umgekehrt fragen, "how a new Middle East could be a place to develop new IR theories of general scope". Warum gelingt es Katar mit zwei Millionen Einwohnern, in der Liga der Regionalmächte zu spielen? Könnten Erkenntnisse über den regionalen Einfluss des "tiny giant" die Basis für eine neue allgemeine Theorie über "subtile Macht" bilden und damit eine neue Debatte über Macht in den internationalen Beziehungen anstoßen? Und wenn die ForscherInnen verstärkt den Nexus zwischen politischer Herrschaftsform und Außenpolitik thematisierten und empirisch erhärtete Hypothesen formulieren, dann dürfte die Golfregion mit ihren Monarchien ein höchst interessantes Betätigungsfeld sein. Sie könnten eine der empirisch gehaltvollsten IB-Theorien infrage stellen, nämlich dass nur Demokratien untereinander friedlich sind. Erste Analysen der Golfmonarchien legen die Vermutung nahe, dass es neben dem "demokratischen Frieden" auch einen "monarchischen Frieden" gibt.
Für hilfreiche Anmerkungen danke ich Michael Nuding und Carolin Hillenbrand.