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UN ohne Ordnung | Internationale Sicherheit | bpb.de

Internationale Sicherheit Editorial Weltordnung vor dem Zerfall? Ende der Gewissheiten Verklärte Weltordnung UN ohne Ordnung. Vereinte Nationen und globale Sicherheit Schwieriges Selbstständigwerden. Zum Wandel der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen und den Konsequenzen für Europa "Von Freunden umzingelt" war gestern. Deutschlands schwindende Sicherheit ABC-waffenfreie Welt? Stand und Perspektiven von Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung Sanktionen in den internationalen Beziehungen. Werdegang, Wirkung, Wirksamkeit und Wissensstand Wo sind sie geblieben? Zur heutigen Relevanz der Theorien der internationalen Beziehungen

UN ohne Ordnung Vereinte Nationen und globale Sicherheit

Philipp Rotmann

/ 15 Minuten zu lesen

Die Erosion der liberalen Weltordnung entzieht der UNO die Grundlage, um Gewalt zu lindern. In geopolitischen wie technologischen Zukunftsfragen spielt sie keine Rolle. Über Rückzugsgefechte hinaus muss Europa moderne Ordnungsprinzipien finden, die nicht nur im Westen überzeugen.

"Wir, die Völker der Vereinten Nationen, fest entschlossen, zukünftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat", haben offensichtlich versagt, so möchte man die ersten Zeilen der Charta der Vereinten Nationen heute vervollständigen. In Syrien sind seit Beginn des Krieges 2011 rund eine halbe Million Menschen gestorben, im Jemen sind es Zehntausende seit 2014, in Mali droht die Lage erneut zu eskalieren. Weltweit sind immer noch über 65 Millionen Menschen auf der Flucht, auch wenn die wenigsten in Europa ankommen. Dazu tobt die Gewalt unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der deutschen Öffentlichkeit im Südsudan, in der Zentralafrikanischen Republik, in Myanmar und an vielen weiteren Orten. Der russische Präsident Wladimir Putin konnte die Krim annektieren und unterstützt bis heute die gewaltsame Besetzung von Teilen der Ostukraine durch Milizionäre.

In keinem einzigen der großen Kriege der vergangenen Jahre konnten die Vereinten Nationen Frieden schaffen, den Aggressoren Grenzen setzen oder die Einhaltung des Völkerrechts erzwingen. US-Präsident Donald Trumps Ausstieg aus dem Atomabkommen mit Iran und dem UN-Menschenrechtsrat, seine Angriffe auf die Finanzierung des UN-Systems sowie das aggressive Vorgehen von Chinas Präsident Xi Jinping im Südchinesischen Meer machen deutlich, dass keiner der beiden mächtigsten Staatschefs bereit ist, sich dem Völkerrecht und der bestehenden internationalen Ordnung in irgendeiner Weise unterzuordnen oder zu deren Durchsetzung beizutragen. In keiner der strategischen Zukunftsfragen zur Vermeidung neuer Großkonflikte – vor allem bezüglich des Verhältnisses zwischen China und den USA, der Veränderung der regionalen Ordnung in Asien sowie zur Regulierung von Cybertechnologien wie Künstlicher Intelligenz – spielt die Weltorganisation eine ernsthafte Rolle. Ist also die Zeit der Vereinten Nationen nach über 70 mehr oder weniger erfolgreichen Jahren abgelaufen?

Das Glas ist ziemlich leer

Eine Beantwortung dieser Frage erfordert einen genaueren Blick sowohl auf die Bilanz der Vereinten Nationen der vergangenen Jahre als auch auf die eigentlichen Ursachen hinter den eklatanten Misserfolgen in ihrer friedens- und sicherheitspolitischen Hauptaufgabe.

Zunächst zur Bilanz: Die Vermeidung oder Lösung von Gewaltkonflikten anhand der Regeln der liberalen Weltordnung, die sich die 51 Gründungsmitglieder unter Führung der USA in Form der UN-Charta 1945 gegeben haben, war nie eine reine Erfolgsgeschichte. Der Kalte Krieg schuf seine eigenen Stellvertreterkonflikte und blockierte in vielen Fällen sowohl Friedensprozesse als auch die Durchsetzung des Völkerrechts. Mächtige Staaten brachen in unterschiedlichem Umfang die völkerrechtlichen Regeln zum eigenen Vorteil, während sie von der großen Masse der weniger mächtigen Staaten ihre Einhaltung verlangten. Auch die "Neue Weltordnung" (George H.W. Bush) nach dem Ende der Blockkonfrontation war "liberal" vor allem in einem Sinne: Liberale Prinzipien dominierten Wirtschaft und Politik, westlich-liberale Staaten dominierten die Welt. Die selektive wirtschaftliche und politische Liberalisierung im Rahmen bestehender Machtungleichgewichte schuf neue Gewinner und Verlierer. Damit entstanden auch neue Konflikte und Verflechtungen zwischen lokalen Gewaltakteuren und ihren internationalen politischen oder wirtschaftlichen Partnern, die wirksame Konfliktlösungen und faire Rechtsdurchsetzung blockieren.

Sicherheitspolitische Erfolge gab es auch während des "unipolaren Moments" nur in den Fällen, in denen die betroffenen Groß- und Regionalmächte einen gemeinsamen Grundkonsens fanden, auf dessen Basis die Vereinten Nationen durch Rechtssetzung im Sicherheitsrat, durch die Entsendung von Friedenseinsätzen und mit vielen anderen praktischen Instrumenten erfolgreich arbeiten konnten. So konnten 2001 in Mazedonien ein möglicher Bürgerkrieg verhindert und 1990 in Namibia, 1993 in Kambodscha, 1995 in Bosnien, 2008 in Sierra Leone und 2018 in Liberia schwere Konflikte beendet werden. In vielen anderen Situationen – die Völkermorde in Srebrenica 1993 und in Ruanda 1994 sind nur die schockierendsten – scheiterten die Vereinten Nationen auch in diesem welthistorisch günstigen Moment am Desinteresse der Großmächte und eigener konzeptioneller und praktischer Überforderung.

Die verbreitete und durchaus berechtigte Enttäuschung über die jüngste sicherheitspolitische Bilanz der Vereinten Nationen ist nur vor diesem Hintergrund sinnvoll zu bewerten. Die Weltorganisation ist nach wie vor ein Staatenclub in einer Staatenwelt; sie kann nur so viel, wie ihr insbesondere die mächtigsten und reichsten Mitgliedsstaaten ermöglichen. In einer Zeit neuer geopolitischer Blockaden ist deshalb auch der Handlungsspielraum der Vereinten Nationen erheblich geschrumpft. Eine positive sicherheitspolitische Rolle konnten sie nur dort spielen, wo die geopolitischen Blockaden (noch) nicht wirksam waren und sie sich auf eine außergewöhnlich starke regionale Ordnung stützen konnten: in Westafrika. Hier gelang es UN-Diplomaten gemeinsam mit führenden westafrikanischen Politikern, mögliche Bürgerkriege oder weitere Eskalationen 2009/10 in Guinea, 2012 in Mali oder 2016/17 in Guinea-Bissau zu verhindern. In Côte d’Ivoire scheint unter maßgeblicher UN-Mithilfe in einem weiteren Fall der Übergang aus zunehmend autoritärer Herrschaft und Bürgerkrieg in eine halbwegs stabile, vielleicht auch demokratische Zukunft gelungen zu sein.

Doch spätestens seit Beginn der jüngsten Aufstände und Revolutionen in der arabischen Welt 2011 sind die Vereinten Nationen im Hinblick auf die eigenen Ansprüche an jedem größeren Gewaltkonflikt in anderen Teilen der Welt gescheitert.

Libyen: Intervention außer Kontrolle

In Reaktion auf den eskalierenden Bürgerkrieg und erhebliche Risiken für massenhafte Gräueltaten vonseiten der Regierung in Libyen beschloss der UN-Sicherheitsrat im Februar 2011 noch in seltener Einigkeit schärfste Sanktionen gegen den Diktator Muammar al-Gaddafi und seine Leute. Im März folgte das Mandat für eine Militärintervention zum Schutz der libyschen Zivilbevölkerung im Sinne der sogenannten Schutzverantwortung (responsibility to protect). Die Idee: Wenn Staaten in ihrer grundlegenden Verantwortung für den Schutz der Menschen auf ihrem Territorium vor Gewalt versagen, muss die internationale Gemeinschaft helfend eingreifen – notfalls auch militärisch gegen eine Regierung, die im eigenen Land Massengewalt an der Zivilbevölkerung verübt.

Im Fall Libyens waren es Frankreich, Großbritannien und die USA, die an der Spitze einer Koalition mit einer Reihe arabischer Staaten Gaddafis Luftwaffe und Panzerverbände ausschalteten. Allerdings erreichte das militärische Engagement der Koalition, deren Führung nach einigen Wochen an die NATO überging, nicht nur den Schutz der bedrohten Zivilisten, sondern ermöglichte auch der bewaffneten Opposition den Sturz der Regierung, in dessen Zuge Gaddafi im Oktober 2011 getötet wurde. Ob dies noch legal, das heißt im Rahmen des vom UN-Sicherheitsrat verabschiedeten Mandats für die Intervention war, ist höchst umstritten.

Syrien: Die Welt schaut zu

Die Regierungen Russlands, Chinas und einer Reihe weiterer Mitglieder des UN-Sicherheitsrates reagierten auf die deutlichen Anzeichen dieser Entwicklung bereits im Frühsommer 2011 mit einer Blockadehaltung, als es wenige Wochen nach Beginn des Krieges in Libyen auch in Syrien zu wachsender Gewalt vor allem vonseiten des Regimes gegen Oppositionelle kam. Diesmal blockierte vor allem Russland jeden Versuch, den syrischen Diktator Baschar al-Assad unter Druck zu setzen. Angesichts der markigen Rhetorik westlicher Regierungen, Assad habe "jede Legitimität verloren", argumentierte vor allem Moskau, die Sorge des Westens um die syrische Zivilbevölkerung sei nur vorgeschoben. In Wahrheit gehe es erneut um den Sturz eines Regimes, ohne dass der Westen einen glaubwürdigen Plan für die nachfolgende politische Ordnung im Land habe.

Trotz Hunderttausender Toten und Millionen von Flüchtlingen, trotz des völkerrechtlich besonders geächteten Einsatzes von Chemiewaffen und der systematischen Kriegsführung gegen die Zivilbevölkerung erwies sich der blockierte UN-Sicherheitsrat seitdem als machtlos gegen das russische Veto. Keiner der Kriegsparteien in Syrien, keinem ihrer Unterstützer konnte er Einhalt gebieten. Vermittlungsversuche des ehemaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan blieben ebenso wirkungslos wie Friedensgespräche unter UN-Vermittlung in Genf.

Neben dem Assad-Regime und dessen Unterstützern Iran und Russland waren auch die meist privaten Waffenlieferungen und Finanzströme aus Golfstaaten zugunsten islamistischer Terrorgruppen in Syrien alles andere als hilfreich oder völkerrechtskonform. Auch diesen hatten die Vereinten Nationen nichts entgegenzusetzen, genauso wenig wie sie die US-amerikanischen Waffenlieferungen, Ausbildungsprogramme und den Einsatz von US-Spezialkräften zugunsten "moderater" Oppositionskräfte hätten steuern können.

Ukraine: Die Welt laviert

Als die russische Regierung 2014 in der Ukraine selbst zum Aggressor wurde, war der UN-Sicherheitsrat von vornherein blockiert: Moskau stoppte jeden Versuch eines gemeinsamen Appells oder einer Verurteilung mit seinem Veto. In der Generalversammlung gelang eine Erklärung zugunsten der "territorialen Integrität" der Ukraine, die mit 100 Ja-Stimmen von 193 Staaten jedoch keine allzu überzeugende Mehrheit erhielt, auch wenn Russland nur zehn andere Länder zu einer Nein-Stimme bewegen konnte.

Die Enthaltungen einflussreicher Länder wie China, Indien und Brasilien machten deutlich, wie gering dort die Bereitschaft war, die bestehende Ordnung samt des Prinzips der Unverletzlichkeit der Grenzen auch gegen einen gewaltbereiten Machtpolitiker wie Wladimir Putin zu verteidigen. Dass "die Frage von Krieg und Frieden zurück auf unseren Kontinent gekehrt" ist, wurde zwar zum traumatischen Erlebnis für viele Europäer, begründete für den Rest der Welt aber noch lange keine besondere Dringlichkeit. Woanders war der Krieg nie weggewesen, und Europa hatte sich auch stets vor allem nach eigener Interessenlage engagiert.

Gewalt, Waffen, Daten und Technologie

Weitgehend unter der Wahrnehmungsschwelle vieler in Deutschland eskalierten weitere Kriege: seit 2013 im Südsudan, seit 2014 in der Zentralafrikanischen Republik und seit 2015 im Jemen. Die Unterdrückung der muslimischen Minderheit der Rohingya in Myanmar erzeugte auch dort wachsende Gewalt, während in Afghanistan und in der Demokratischen Republik Kongo die Gewalt kein Ende nimmt und der sogenannte Islamische Staat zwischen 2014 und 2016/17 vorübergehend einen erheblichen Teil der arabischen Halbinsel unter seine Kontrolle bringen konnte, bis ihn die militärische Macht einer großen Koalition von den USA bis zum Iran zumindest wieder in den Untergrund zwang. An all diesen Schauplätzen waren und sind die Vereinten Nationen mit ihren Friedenseinsätzen, Vermittlern, politischen Missionen, Menschenrechtsbeobachtern oder Entwicklungsorganisationen auch sicherheitspolitisch aktiv. Doch in keinem dieser Fälle konnten sie die Gewalt beenden; immer häufiger sind es nicht nur die lokalen Konfliktparteien selbst, sondern auch die geopolitische Patronage durch Regional- und Großmächte sowie das schwindende Vertrauen in die internationale Ordnung an sich, die die Wirksamkeit des UN-Konfliktmanagements mindern.

Zudem wächst das mittelfristige Risiko einer militärischen Eskalation im Zuge der Machtverschiebungen in Asien, ohne dass die Mechanismen der Vereinten Nationen bislang in der Lage gewesen wären, präventiv und mäßigend zu wirken. Auf Pekings wachsende politische Ansprüche und militärische Muskelspiele haben vor allem Indien und Japan mit Aufrüstung reagiert, und die chinesische Ablehnung des Urteils eines internationalen Schiedsgerichts zu Gebietsansprüchen im Südchinesischen Meer 2016 hat die Rüstungsspirale in Asien weiter beschleunigt.

Insgesamt stehen die Zeichen auf Aufrüstung. Zwar ist mit dem Inkrafttreten des Arms Trade Treaty 2014 ein wichtiger Schritt zur Kontrolle konventioneller Waffen gelungen, doch gleichzeitig steht das europäische Rüstungskontrollregime wegen russischer Regelverletzungen vor dem Scheitern. US-Präsident Trumps einseitige Aufkündigung des Nuklearabkommens mit Iran und der hundertfache Einsatz chemischer Waffen durch das Assad-Regime in Syrien hat die Nichtverbreitungsregimes für Atom- und Chemiewaffen weiter geschwächt.

"Und während sich die Vereinten Nationen schon mit den derzeitigen Kriegen schwer tun", so der Politikwissenschaftler Richard Gowan, "stellen sich neue Fragen bezüglich ihrer Fähigkeiten zum Umgang mit zukünftigen Konflikten, in denen Desinformation, Cyberwaffen und Künstliche Intelligenz eine entscheidende Rolle spielen könnten." In keinem dieser Felder spielen die Vereinten Nationen auch nur als Forum eine zentrale Rolle, trotz Aufrufen wie dem des Microsoft-Präsidenten Brad Smith zur Schaffung einer "Digitalen Genfer Konvention" zur Einhegung der digitalen Kriegsführung. Das liegt allerdings weniger an den Vereinten Nationen, die trotz redlicher Bemühungen Pekings und Moskaus bei Weitem noch nicht von überwachungssüchtigen Autokraten beherrscht werden, als vielmehr daran, dass nationale Hauptstädte auch nicht besser für die digitale Zukunft gerüstet sind – auch in Europa. Gowan bringt es auf den Punkt: Der UN-Sicherheitsrat ist heute "gefangen zwischen dem Erbe alter Kriege, von denen die Mitglieder nicht lassen können, laufender Kriege, die sie nicht stoppen können, und der Gefahr einer Zukunft, die die meisten Diplomaten kaum verstehen".

Bröckelndes Fundament

Die herrschende Blockade der Vereinten Nationen in ihren sicherheitspolitischen Kernaufgaben reflektiert eine Erosion vor allem der liberalen Elemente der Nachkriegsordnung, die damit in vielerlei Hinsicht zum Opfer ihrer eigenen Erfolge wird. Ohne die Liberalisierung des Welthandels hätten Länder wie China nicht so schnell aufsteigen können, selbst Moskaus Großmachtambitionen und der Wiederaufbau der russischen Streitkräfte wäre ohne den massiven Energiehunger einer wachsenden Weltwirtschaft und die damit verbundenen Rohstoffeinnahmen nicht denkbar gewesen. Im Umgang mit sicherheitspolitischen Krisen vor allem in Asien und Afrika waren die Vereinten Nationen "ein Vehikel der normativen Integration" in eine westlich dominierte liberale Ordnung: Frieden schaffen durch demokratische Wahlen, individuelle Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit.

Es war gerade der Siegeszug von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als Leitbild eines guten politischen Systems in den 1990er und 2000er Jahren, der den herrschenden Eliten in Peking oder Moskau die Prekarität ihrer Macht deutlich machte. Zusammen mit den Folgen der katastrophalen Experimente wirtschaftlicher Liberalisierung wie im Russland der 1990er Jahre ist die liberale Weltordnung dadurch in der Wahrnehmung einer wachsenden Zahl von Hauptstädten zu einer Bedrohung geworden.

Das militärische Scheitern der USA und ihrer engsten Alliierten im Irak von 2003 bis 2008 sowie die Finanzkrise 2008/09 und die Eurokrise von 2010 bis 2014 unterstrichen die Verwundbarkeit des Westens und ließen den Kampf gegen die liberalisierenden Elemente der internationalen Nachkriegsordnung aus Sicht der Autoritären nun auch realistisch und gewinnbar wirken.

Das ist der Hintergrund, vor dem vor allem Moskau in den Vereinten Nationen geradezu eine Rollback-Kampagne gegen liberale und demokratische Prinzipien als Mittel zur Konfliktbeilegung betreibt. Dabei haben Putin und sein Gelegenheitsalliierter Xi Jinping immer mehr Verbündete, von der ungarischen Regierung unter Viktor Orbán über die der Philippinen unter Rodrigo Duterte bis zu Ägyptens Abdel Fatah al-Sisi.

Gemeinsam haben diese Regierungen in den vergangenen Jahren nicht nur militärisches Eingreifen, Sanktionen oder Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs beim Verdacht auf schwerste Straftaten wie Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhindert. Sie blockieren auch die UN-Berichterstattung über Gewalt und Menschenrechtsverletzungen sowie diplomatische Ermahnungen zur Einhaltung nationaler Verfassungen und Wahlregularien. Die autoritäre Front nutzt hier die berechtigte Kritik an der oft naiven Hoffnung auf einzelne Elemente von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wie etwa Wahlen als Motor der Befriedung. Dem wird allerdings weder im Einzelfall noch auf der konzeptionellen Ebene ein plausibles Gegenmodell gegenübergestellt. Damit dient die Blockade nur der gemeinsamen Verteidigung der autokratischen Regime gegen politischen Wandel sowie einer zunehmenden Zerrüttung der liberalen Weltordnung.

Reformvorschläge: Pfeifen im Walde?

Angesichts dieses grundlegenden Ordnungskonflikts ist zumindest fraglich, ob die seit Jahren diskutierten Vorschläge für institutionelle Reformen überhaupt noch relevant und umsetzbar sind. Eine Anpassung des UN-Sicherheitsrates an die veränderte Weltordnung wird üblicherweise im Sinne einer Erweiterung diskutiert. Brasilien, Indien, Japan und Deutschland (G4) wollen als selbsternannte Großmächte zusätzliche ständige Sitze übernehmen; daneben sind zwei ständige Sitze für "Afrika" im Gespräch, über deren Besetzung sich die 54 Staaten des Kontinents bislang nicht einigen konnten. Auf die Ausübung des Vetorechts zu verzichten, wären zumindest die G4 bereit.

Kombiniert mit einer analogen Erweiterung der nichtständigen Sitze, um auch die Vertretung afrikanischer und asiatischer Länder zu verbessern, ist die G4-Position der am weitesten entwickelte Vorschlag. Seit seiner Vorstellung 2004 ist die nötige Zweidrittelmehrheit in der UN-Generalversammlung samt Vermeidung der fünf möglichen Vetos der ständigen Mitglieder allerdings nicht realistischer geworden. Weder ist klar, wie eine deutliche Vergrößerung des Rates zu besseren Lösungen für drängende globale Probleme führen soll, noch konnten die Aspiranten deutlich machen, wie ihre jeweiligen Regionalgruppen konkret von ihrer Zustimmung profitieren würden. Auch andere idealistische Vorschläge wie die Schaffung eines EU-Sitzes – dem Frankreich selbstlos sein Veto überlassen könnte? – oder der Abschaffung ständiger Sitze mit Vetorecht zugunsten längerfristiger Wahlperioden scheitern bislang an den gleichen Fragen.

Ohnehin ist das blockierende Element nicht der Mangel an (zahlungskräftigen) Mitgliedern oder die Überrepräsentation des Westens, sondern in erster Linie die destruktive Ausübung der Vetomacht. Nicht ganz zufällig steht vor allem die französische Regierung, die seit 1989 ihr Vetorecht nicht mehr genutzt hat, an der Spitze einer Initiative zur freiwilligen Einschränkung des Vetos in Fällen von Völkermord und Massenverbrechen.

Damit wird auch deutlich, warum angesichts der Vertiefung der ordnungspolitischen Gräben so schnell mit keinem Erfolg einer solchen weichen Initiative zur Selbstbeschränkung der Vetomächte zu rechnen ist. Ob in einem bestimmten Fall Völkermord oder Massenverbrechen vorliegen, wird meist umstritten sein. Eine Zertifizierung durch den UN-Generalsekretär, wie sie der französische Vorschlag vorsieht, schafft diese Umstrittenheit nicht einfach aus der Welt – zumal ohnehin bereits viele Regierungen die Erkenntnisse und Bewertungen internationaler Organisationen zu strittigen, insbesondere Menschenrechtsfragen politisch anzweifeln und diskreditieren. Vor allem Moskau nutzt das Wissen um die Unterwanderung der vermeintlich unparteiischen UN-Waffeninspekteure im Irak 2003 durch US-Geheimdienste als rhetorischen Hebel, um jeden unliebsamen UN-Bericht zu Chemiewaffeneinsätzen oder Menschenrechtsverletzungen in Syrien und anderswo als erfunden oder übertrieben zu verleumden.

Unterhalb der geopolitischen Ebene gibt es kluge und wichtige Reformkonzepte zur Weiterentwicklung der UN-Verwaltung und wesentlicher operativer Bausteine der UN-Sicherheitspolitik wie Krisenprävention, UN-Friedenseinsätze und Konfliktnachsorge. Das derzeit wichtigste Konzept heißt sustaining peace. Damit versucht UN-Generalsekretär António Guterres, sowohl auf der politischen als auch auf der bürokratischen Ebene der Vereinten Nationen einen Kulturwandel von einem reaktiven und fragmentierten Umgang mit Konflikten zu einem präventiven und integrativen Vorgehen der verschiedenen UN-Instrumente zu erreichen.

Doch solange sich die Mitgliedsstaaten in den meisten Konfliktkonstellationen gegenseitig blockieren oder zumindest einzelne mächtige Staaten ihren Einfluss in den UN-Gremien oder über den UN-Haushalt in destruktiver Weise nutzen, wird der Ertrag der Reformarbeit begrenzt bleiben. Und ein neues politisches Paradigma der Konfliktbewältigung, das – anders als das liberale Peacebuilding der zwei Jahrzehnte nach dem Kalten Krieg – alle wichtigen geopolitischen Akteure mittragen können und das gleichzeitig auch praktisch funktioniert, war von einem Arbeitskonzept wie sustaining peace ohnehin nicht zu erwarten.

Ausblick

Ob Deutschland zu einem solchen Paradigma wird beitragen können, wird sich in den nächsten beiden Jahren zeigen: "Das Leitmotiv unseres Handelns in den Vereinten Nationen und auch unserer zweijährigen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat", so der deutsche UN-Botschafter Christoph Heusgen, "wird das Eintreten und die Verteidigung einer regelbasierten Weltordnung sein." Denn, argumentiert Außenminister Heiko Maas: "Eine multilaterale, auf vereinbarten Regeln basierte Ordnung ist und bleibt die beste Antwort auf die Fragen unserer Zeit."

Regelbasiert, multilateral – das ist deutlich sperriger als der Einsatz für eine "liberale" Ordnung, aber auch bescheidener. Der jüngste Erfolg rechtspopulistischer und antiliberaler Kräfte hierzulande stellt die Glaubwürdigkeit Deutschlands als Vorkämpfer liberaler Werte zumindest infrage. Auch die globale Überzeugungskraft des liberalen Ordnungsmodells ist nach Irak, Guántanamo und Finanzkrise schwer beschädigt. Und doch ist die neue Chiffre von der "regelbasierten Ordnung" und der Verteidigung des Multilateralismus nicht nur emotional vollkommen unattraktiv als Schlachtruf zur Verteidigung einer an Freiheit und Gerechtigkeit orientierten Ordnung, sondern auch inhaltlich unzureichend.

Auch die Bundesregierung bestreitet nicht, dass der Multilateralismus weiterentwickelt werden muss. Wenn wir uns also nicht reaktionär am Status quo festklammern wollen, welche Regeln sind Verhandlungsmasse? Darf es uns wirklich nur auf die Gemeinsamkeit der Regeln ankommen und nicht mehr auf ihren Inhalt? Lassen wir uns auf die gemeinsame Regelung von Einflusssphären und Großmachtpolitik ein, sobald die Mehrheit der Mitgliedsstaaten ein bisschen Druck macht? Das könnte durchaus kurzfristig zu größerer Berechenbarkeit in der internationalen Sicherheitspolitik führen – nur eben auf Kosten kleinerer Staaten, auf Kosten von Menschen, die den Mächtigen im Weg stehen, und auf Kosten des langfristigen Friedens und Wohlstands für alle.

Irgendwelche Regeln in verbissenen Rückzugsgefechten zu verteidigen, wird deshalb nicht reichen – weder um "zukünftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren" noch um Freiheit und Wohlstand in Europa zu sichern. Statt der "regelbasierten Ordnung" werden wir ein Leitbild brauchen, das die Schwächen der alten, westlich dominierten Ordnung und ihres ebenso ineffektiven wie unfairen Systems der kollektiven Sicherheit anerkennt und seine Prinzipien weiterentwickelt – ein Leitbild, das nicht nur auf der Selbstbehauptungskraft eines schrumpfenden Westens beruht, sondern das neue Anhänger unter den Kritikern der alten Ordnung gewinnt, weil es attraktiver ist als das vergiftete Gegenangebot der Autokraten. Daran wird sich entscheiden, ob die Vereinten Nationen wieder handlungs- und reformfähiger werden und damit in Zukunft den Herausforderungen globaler Sicherheitspolitik wieder besser gerecht werden können.

Der Autor dankt Sarah Bressan und Theresa Lütkefend für sehr hilfreiches Feedback zu diesem Text.

leitet die friedens- und sicherheitspolitische Arbeit am Global Public Policy Institute (GPPi) in Berlin. E-Mail Link: protmann@gppi.net