Seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten häufen sich die Warnungen vor einem bevorstehenden Zerfall der Weltordnung. So schrieb der Analyst Robert Kagan kurz nach Trumps Amtsantritt, "der Kollaps der Weltordnung, mit allem, was dazu gehört, könnte nicht so weit entfernt sein".
Trump ist jedoch nicht die Ursache, sondern zunächst einmal ein Ausdruck einer tiefer liegenden Krise – und gleichzeitig ihr Brandbeschleuniger. Denn er verkörpert einen geradezu plakativen Gegenentwurf zu jenem überparteilichen Konsens, der die US-Außenpolitik und die von ihr wesentlich gestaltete Ordnung seit 1945 prägte. Anders als häufig behauptet, ist Trumps außenpolitisches Weltbild nämlich keinesfalls erratisch, sondern verfügt über einige klare Überzeugungen. Dazu gehört eine grundlegende Skepsis gegenüber multilateralen Organisationen, wobei Trump immer wieder zum Ausdruck gebracht hat, dass die USA seiner Meinung nach von anderen Staaten, insbesondere von ihren Bündnispartnern, über den Tisch gezogen würden. Ähnlich konstant ist seine Ablehnung des Freihandels. Seit Jahrzehnten wettert Trump gegen angeblich unfaire Handelsabkommen. Und schließlich hat Trump seit langer Zeit eine große Sympathie für autoritäre Machthaber gezeigt.
Kernelemente der liberalen Weltordnung
Zwar ist das, was häufig mit dem Schlagwort "liberale Weltordnung" beschrieben wird, ein komplexes Geflecht von Normen und Institutionen, das weder übersichtlich in einem Dokument niedergelegt wurde noch jemals widerspruchsfrei war.
Die in der Mitte des 20. Jahrhunderts begründeten Institutionen wie die Vereinten Nationen, im wirtschaftlichen Bereich die durch das Bretton-Woods-Abkommen geschaffenen Institutionen und im Sicherheitsbereich die NATO, aber auch das Netz bilateraler Sicherheitsgarantien der USA bilden bis heute das Rückgrat dieser Ordnung, die in der Zeit des Ost-West-Konflikts noch im Wesentlichen auf die westliche Welt beschränkt war, nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zerfall der Sowjetunion aber in gewisser Weise "globalisiert" wurde. Nie zuvor bestimmten liberale Vorstellungen in so tief greifender Weise die Weltpolitik. In fast allen Teilen der Welt verabschiedeten Regionalorganisationen Verträge zum Schutz der Demokratie. Die UN-Friedensmissionen folgten einem liberalen Skript und dienten als Transmissionsriemen für liberale Ordnungspolitik.
Illiberale Gegenbewegung
Dieser Prozess scheint sich mittlerweile umgekehrt zu haben. Die gegenwärtige Phase lässt sich eher als "illiberaler Moment" beschreiben,
Die Überzeugung, es handele sich bei der liberalen Demokratie um das einzig legitime politische Ordnungsmodell, wird von verschiedenen Akteuren infrage gestellt. Auf der einen Seite hat sich ein alternatives illiberales Ordnungsmodell – der autokratische Staatskapitalismus – herausgebildet, das zumindest aufgrund seines wirtschaftlichen Erfolgs Anhänger findet und von seinen Vertretern immer offensiver und selbstbewusster als Alternative zur Kombination aus liberaler Demokratie und Marktwirtschaft präsentiert wird. Nachdem China lange Zeit darauf verwies, keinerlei Ambition zu hegen, das eigene Modell zu exportieren, pries Staatspräsident Xi Jinping den chinesischen Weg vor dem Nationalen Volkskongress 2017 als neues Modell für jene Länder, die ihre Entwicklung beschleunigen und gleichzeitig ihre Unabhängigkeit bewahren wollten.
Auf der anderen Seite zeigen Umfragen in vielen Ländern der Erde zunehmende Unzufriedenheit mit liberal-demokratischen Normen und Institutionen sowie wachsende Unterstützung für autoritäre Politikstile.
Ähnlich steht es um die wirtschaftliche Integration durch die Förderung des freien Handels, dessen ungleich verteilte Gewinne und Verluste durchaus zum Aufstieg des Populismus beitrugen.
Auch die multilaterale Zusammenarbeit wird von verschiedensten Akteuren infrage gestellt. Man kann argumentieren, dass die zunehmende Politisierung und Infragestellung internationaler Organisationen auch in ihrem Kompetenzzuwachs und ihren teils weitreichenden Eingriffsrechten begründet liegt. So zeigt sich heute in vielen Bereichen eine Gegenbewegung zum institutionalisierten Multilateralismus – nicht zuletzt in Europa. Im Unterschied zu den 1990er und frühen 2000er Jahren erscheint die europäische Integration heute kaum mehr als Einbahnstraße hin zu einer immer engeren Union. Das britische Referendum über den Austritt aus der EU hat klargestellt, dass die europäische Integration keinesfalls unumkehrbar ist. Die wichtigsten Organisationen im Bereich der Sicherheitspolitik befinden sich gleichsam unter Druck. Der UN-Sicherheitsrat hat sich in Bezug auf die schwersten Konflikte der vergangenen Jahre, allen voran Syrien, als nicht handlungsfähig erwiesen. Aber auch die Kerninstitution der westlichen Ordnung, die NATO, wird offen infrage gestellt, wenn Trump implizit damit droht, die USA könnten sich zurückziehen, oder in Interviews das Prinzip der kollektiven Verteidigung kritisiert.
Gefahr des Zerfalls
Eine Ordnung lebt davon, dass sie als stabil wahrgenommen wird. Sie kann dann auch ohne große Kosten aufrechterhalten werden. Anders verhält es sich, wenn ihre Grundfesten ins Wanken geraten und ihre Geltung tatsächlich infrage gestellt wird. Dann ist die Aufrechterhaltung der Ordnung viel aufwendiger. Viele Prozesse, die einmal ins Laufen gekommen sind, lassen sich nur noch schwer einfangen. Ein Sanktionswettlauf kann in einen Handelskrieg münden, der möglicherweise zu einer globalen Rezession führt und den Nationalismus weiter anheizt. Nationale Alleingänge in der EU provozieren Maßnahmen anderer Mitgliedsstaaten, an deren Ende die Idee der EU selbst Schaden nimmt und wesentliche Errungenschaften wie die Freizügigkeit infrage stehen. Gestreute Zweifel an der Bündnissolidarität unterminieren die Abschreckung der NATO und können andere dazu verleiten, sie zu testen. Dieses Albtraumszenario treibt heute zu Recht so manchen in Mittel- und Osteuropa um.
Umso beunruhigender ist es, dass vielen Akteuren der Ernst der Lage in dieser Zeit institutioneller Unsicherheit nicht bewusst zu sein scheint. Das ist angesichts dessen, was auf dem Spiel steht, bestenfalls naiv, politisch aber unverantwortlich, weil jede weitere Infragestellung der Ordnungsprinzipien ihren Niedergang wahrscheinlicher macht. Angela Merkel hat in jüngster Zeit daher wiederholt gemahnt, "dass in der Zeit, in der wir jetzt leben, wir unsere Schritte gut überlegen, dass wir besonnen agieren, dass wir in der Sprache klar sind".
Für Deutschland wäre der mögliche Zerfall der liberalen Ordnung besonders dramatisch. Schließlich gibt es kaum andere Staaten auf der Welt, die sich ähnlich gut an diese Ordnung angepasst haben und von ihr profitieren – als Zivilmacht politisch und militärisch von einem weitgehend stabilen internationalen System und der engen Einbindung in das westliche Bündnis und die EU; als Handelsstaat wirtschaftlich von einer offenen Weltwirtschaft und dem europäischen Binnenmarkt. Sollte die NATO tatsächlich eines Tages zerbrechen, erschiene die heutige Debatte darüber, ob Deutschland zwei Prozent seines BIP für Verteidigung ausgeben soll, im Rückblick reichlich absurd. Sollte die EU scheitern, würden die Auseinandersetzungen über zusätzliche deutsche Beiträge für europäische Initiativen in einem ganz anderen Licht erscheinen. Die Kosten würden gänzlich andere Dimensionen einnehmen.
Was kann und muss Deutschland also tun, um die Kernprinzipien der liberalen Ordnung zu verteidigen oder zumindest ihre weitere Erosion zu verhindern? Welche Schlussfolgerungen sind aus der veränderten Lage zu ziehen, in der alle wesentlichen Gewissheiten der deutschen Außenpolitik erodieren?