Als vor fast dreißig Jahren die Blockkonfrontation des Kalten Krieges endete, schien es, als würde sich der liberale Gesellschaftsentwurf weltweit durchsetzen. In weiten Teilen des früheren "Ostblocks" leiteten bis dato kommunistische Parteidiktaturen den Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft ein, und auf internationaler Ebene intensivierte sich der Austausch von Waren, Kapital und Dienstleistungen ebenso wie die multilaterale Zusammenarbeit.
Heute scheint sich die Entwicklung umzukehren: Während in fast allen Staaten des Westens der rechte Rand des politischen Spektrums erstarkt und manchen Demokratien im mittelöstlichen Europa nur noch mit gutem Willen das Attribut "freiheitlich" zugeschrieben werden kann, treten die autoritär regierten Großmächte Russland und China immer selbstbewusster auf die Weltbühne. Angesichts wieder aufkommender ökonomischer Nationalismen warnen Kommentatoren vor einem Handelskrieg. Zudem befindet sich der Multilateralismus in einer tiefen Krise, sei es im Rahmen der Vereinten Nationen, die bei den jüngsten größeren Gewaltkonflikten handlungsunfähig blieben; der NATO, deren Garantiemacht USA immer weniger willens ist, diese Rolle auszufüllen; oder der EU, deren Integrationsprozess ins Stocken geraten ist.
Im Lichte deutlich hervortretender Spannungen zwischen den Großmächten bei zunehmenden Zweifeln an der Belastbarkeit von Bündnisstrukturen werden die Risse im Fundament des Weltordnungsgefüges immer tiefer. Droht ein Zerfall der internationalen Sicherheitsarchitektur, wie sie mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges entworfen wurde? Gibt es "den Westen" noch? Die Folgen für Deutschland, das wie kaum eine andere Nation in der bisherigen Ordnung prosperiert hat, sind weitreichend, und die Debatte über seine (neue) außen- und sicherheitspolitische Rolle in der Welt steht erst am Anfang.