Einleitung
Der Föderalismus gilt in Deutschland allgemein als Reformbremse. Das hohe Maß an Politikverflechtung und die dadurch verursachten Verhandlungszwänge zwischen Bund und Ländern erzeugen nach allgemeiner Auffassung eine Politik, die Institutionen, Programme und Leistungen bestenfalls schrittweise verändert. Dafür, dass diese verflochtenen Strukturen des Bundesstaats nicht "entflochten" werden, werden unter anderem die Parteien verantwortlich gemacht. Einerseits wird argumentiert, den Parteieliten sei am Bestand des kooperativen Föderalismus und seiner institutionalisierten Politikverflechtung gelegen, weil sie sich so der Verantwortung gegenüber der Wählerschaft entziehen und nach der Art eines Kartells ihre Macht gegenüber gesellschaftlichen Interessengruppen und Bürgerinnen und Bürgern erhalten oder vergrößern könnten.
Diese Argumente sind auf den ersten Blick einleuchtend. Richtig ist, dass die Parteien bzw. die Strukturen des Parteiensystems sowohl für die Funktionsweise als auch für die Reformfähigkeit des Bundesstaats entscheidend sind.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Behauptung, Parteien würden Veränderungen des Bundesstaats blockieren, in der Regel auf der Vorstellung beruht, der kooperative Bundesstaat müsste in das Gegenmodell eines dezentralisierten, entflochtenen Wettbewerbsföderalismus transformiert werden.
Um die Frage zu beantworten, ob Parteien Föderalismusreformen blockieren oder nicht, will ich zunächst die durchaus ambivalenten Funktionen der Parteien für die Funktionsweise des kooperativen Bundesstaats erläutern. Hiervon ausgehend werde ich dann die Regionalisierung im Parteiensystem und deren Konsequenzen für die Politik im Bundesstaat darstellen. Dabei will ich zeigen, dass in der Bundesrepublik gegenwärtig in der Tat der problematische Fall eines hohen Reformbedarfs bei geringer Reformfähigkeit vorliegt. Deswegen verspricht nur eine "situationsangemessene" Reformpolitik Aussicht auf Erfolg, welche die aktuellen Veränderungen im Parteiensystem durch differenzierte Dezentralisierung nutzt und einen fairen Politikwettbewerb der Länder unterstützt. Ein Systemwandel in Richtung eines entflochtenen Bundesstaats und eines reinen Wettbewerbsföderalismus ist dagegen zum Scheitern verurteilt.
I. Funktionen der Parteien im kooperativen Bundesstaat
Parteien stellen intermediäre Organisationen zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und den Institutionen der repräsentativen Demokratie dar. Sie artikulieren Probleme, die von staatlichen Institutionen bearbeitet werden sollen, und beeinflussen damit entscheidend die Agenda der Politik, sie bieten der Wählerschaft Personen und Programme zur Auswahl, sie stellen über das Handeln von Parlamenten und Regierungen Öffentlichkeit her und sie kontrollieren die von ihnen rekrutierten Volksvertreter. Die ersten drei Funktionen erfüllen sie in der Konkurrenz mit anderen Parteien, während die Kontrollfunktion innerhalb der Partei ausgeübt wird.
Im kooperativen Bundesstaat sind diese Funktionen der Parteien innerhalb der parlamentarischen Systeme des Bundes und der Länder relevant.
Zum einen tragen sie dazu bei, dass das Handeln der von den Landesregierungen delegierten Mitglieder des Bundesrats sowie der in bundesstaatlichen Verhandlungssystemen agierenden Regierungsvertreter als demokratisch legitimiert gelten kann. Zwar sind diese Akteure nicht an Weisungen ihres Parlaments und schon gar nicht ihrer Partei gebunden, sie sind aber nach den Regeln des parlamentarischen Systems gegenüber der Volksvertretung verantwortlich. Nun kann man von den Mehrheitsfraktionen keine öffentliche Kritik an ihrer Regierung erwarten, zumal ihre eigene Macht vom Erhalt der Regierung abhängt. Innerhalb des Landesparlaments ist es die Opposition, welche Verantwortlichkeit einfordert, allerdings ohne die Macht, ihre Kritik durch Sanktionsdrohungen zu untermauern. Die effektive demokratische Kontrolle von Akteuren in föderativen Verhandlungssystemen findet daher informell statt, und für sie sorgen nicht zuletzt die Parteien.
Zum zweiten bieten Parteien eine Arena, in der Konflikte zwischen Bund und Ländern im Vorfeld der offiziellen Verfahren ausgetragen werden können. Diese Leistung erfüllen sie, da in der Bundesrepublik ein für einen Bundesstaat eigentümliches, die Ebenen übergreifendes Parteiensystem existiert. In Deutschland wurde bei der Ausformung des Parteiensystems zur Zeit der Industrialisierung der Klassenkonflikt durch Konfessionskonflikte und ungelöste territoriale Konflikte überlagert.
Diese positiven Funktionen der Parteien für die Legitimation des Bundesrats und für die Effektivität der Gesetzgebung und der Bund-Länder-Kooperation haben allerdings auch negative Folgen, die aus der Konkurrenz zwischen Parteien resultieren. Während Abgeordnete von Parlamenten in Bezug auf Bund-Länder-Verhandlungen die spezifischen Belange ihrer Gebietskörperschaft im Auge haben müssten, vertreten sie als Parteimitglieder primär Interessen und Ideologien ihrer Partei, und dies in Konkurrenz mit anderen Parteien. Auch in den parteiinternen Verhandlungen über Bund-Länder-Konflikte dominiert letztlich das Ziel, eine Lösung zu finden, die auf der "Parteilinie" liegt. Dementsprechend werden Bundesratsmitglieder und Repräsentanten des Bundes veranlasst, sich an Parteiinteressen zu orientieren. Das führt dazu, dass diese sich gegenüber den Vertretern anderer Parteien kompetitiv verhalten, d.h. versuchen, ihre eigene Position von der Politik anderer Parteien abzugrenzen. Denn nur durch diese Unterscheidung können Parteien hoffen, Wähler für ihre Politik zu mobilisieren. Wenn nun in Bundestag und Bundesrat unterschiedliche Mehrheitsverhältnisse herrschen, bei zustimmungsbedürftigen Gesetzen also die großen Parteien sich einigen müssen, um ein Gesetz zu verabschieden, so stören diese kompetitiven Orientierungen die Verhandlungen und erschweren die Kompromissfindung.
Die Überformung des Föderalismus durch eine kompetitive Parteipolitik verhinderte in der Vergangenheit auch eine autonome Landespolitik und den Politikwettbewerb zwischen den Ländern, der grundsätzlich in wichtigen Politikfeldern möglich ist. Ansätze dieses Wettbewerbs zeigen sich etwa in den Bereichen der Verwaltungspolitik, der Regionalpolitik und der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Institutionell möglich, aber nicht hinreichend praktiziert wird er in den Bereichen der Schul- und Hochschulpolitik, der inneren Sicherheit, der raumbezogenen Umweltpolitik, der Verkehrspolitik und der Energiepolitik. Die zuerst genannten Politikfelder werden in der Öffentlichkeit wenig beachtet und spielen daher für Auseinandersetzungen zwischen Parteien keine besondere Rolle. Blockiert ist der Länderwettbewerb in der zweiten Gruppe von Aufgabenfeldern, die durch starke Konfrontationen zwischen Parteiideologien geprägt sind. Hier wird auf Landesebene der Parteienwettbewerb mit Bezug auf bundeseinheitliche Programme ausgetragen, statt dass die Länder untereinander um eigenständige Lösungen konkurrieren.
Im Hinblick auf die Reformpolitik im Bundesstaat ergeben sich aus diesen Funktionen der Parteien folgende Konsequenzen: Die Parteien haben sich in Deutschland an die Strukturen des unitarischen Föderalismus angepasst. Grundlegende Verfassungsänderungen, die zu einer Neuverteilung der Macht zwischen Bund und Ländern führen, sind daher nicht ihr vorrangiges Ziel, weil mit ihnen kaum Wählerstimmen mobilisiert, dagegen die internen Konfliktregelungsverfahren überlastet werden können. Und wenn Reformen des Föderalismus auf der Tagesordnung stehen, so werden Bund-Länder-Konflikte parteipolitisch überformt. Damit werden zwar Koalitionen zwischen Akteuren des Bundes und der Länder möglich, dies allerdings nur, wenn Reformziele in inkrementelle Veränderungen überführt werden. Die Geschichte der Verfassungsreformen bietet zahlreiche Beispiele dafür, wie in den bundesstaatlichen Entscheidungsprozessen ambitionierte Reformen in bescheidenen Veränderungen endeten.
Aber die Ursachen dafür liegen nicht in dem Machtstreben einer politischen Klasse, das durch die Gewaltenteilung und durch innerparteiliche Kontrollen begrenzt wird. Verantwortlich sind vielmehr die Mechanismen, die dafür sorgen, dass trotz einer engen institutionellen Kopplung von parlamentarischem Parteienwettbewerb und Bund-Länder-Verhandlungen der kooperative Bundesstaat pragmatisch funktioniert.
II. Wandel im Parteiensystem
Bevor man angesichts dieser Analyse die Hoffnungen auf Reformen des Bundesstaats aufgibt, sollte man untersuchen, welchen Veränderungen das Zusammenspiel zwischen Parteiendemokratie und Föderalismus unterliegt. Seit der deutschen Einheit wurden zwar alle günstigen Gelegenheiten für Reformen vergeben, aber es gibt Anzeichen für eine Veränderung des Parteiensystems und damit der politischen Strukturen im Bundesstaat. Wir beobachten eine Regionalisierung der Politik, die eine Aufwertung der Landesebene herbeigeführt hat.
Angesichts der Beständigkeit der politischen Institutionen schlägt sich die Regionalisierung zunächst im Parteiensystem nieder, das auf verändertes Wahlverhalten und neue Konfliktstrukturen reagiert. Folgende Aspekte der Entwicklung sind dabei bemerkenswert:
- Zum einen stellen wir eine Regionalisierung innerhalb der Parteien fest, weil die Vertreter der Landesebene gegenüber den Bundespolitikern zunehmend divergierende Interessen artikulieren.
- Zum zweiten weichen die Parteiensysteme in den Ländern von der etablierten Konstellation im Bund inzwischen deutlich ab.
- Drittens wirkt sich auf der Ebene der Länder die Fluktuation der Wählerschaft stärker aus als im Bund mit der Folge, dass die Zahl verschiedener Regierungskoalitionen ebenso zunimmt wie die Wahrscheinlichkeit von Regierungswechseln. Damit hängt zusammen, dass die Zahl der nicht eindeutig dem Regierungs- oder dem Oppositionslager zurechenbaren Regierungskoalitionen in den Ländern im Vergleich zu den achtziger Jahren zugenommen hat.
- Schließlich verstärkt sich die Auflösung des vertikal integrierten Parteiensystems durch die Regionalisierung von politischen Konfliktlinien, die mit der Globalisierung von Wirtschaft und dem erforderlichen Umbau des Sozialstaats zusammenhängen. Während sich die großen Parteien über die Reform der Wirtschafts- und Sozialpolitik weitgehend einig sind, brechen Konflikte zwischen Bund und Ländern auf, weil die Folgen dieser Reform regional variieren.
Angesichts dieser Veränderungen wird die integrative Funktion der Parteien, ihre Fähigkeit, Konflikte zwischen Bund und Ländern und zwischen Ländern zu reduzieren, beeinträchtigt. Wenn gleichzeitig die Interessendivergenzen zwischen Bund und Ländern sowie die Zahl unterschiedlich zusammengesetzter Landesregierungen zunehmen, werden Verhandlungslösungen über Gesetzesvorschläge des Bundestags und das Erreichen einer Bundesratsmehrheit für zustimmungspflichtige Gesetze schwieriger.
Der Druck auf die Politik, den Bundesstaat zu reformieren, hat auch zugenommen, weil er in den Parteien wie in parteiübergreifenden Veranstaltungen der Länder inzwischen deutlicher artikuliert wird. Die Regionalisierungstendenzen innerhalb der Parteien stärkten die Position der Ländervertreter, die für mehr Dezentralisierung im Bundesstaat eintreten. Unter den Parteien war es nicht zufällig die bayerische CSU, die sich zum Vorreiter der jüngsten Föderalismusdiskussion aufschwang.
Die Tatsache, dass Bund-Länder-Konflikte dominant werden und die Konfliktentlastung durch Parteien schwächer wird, spricht allerdings nicht für eine höhere Reformfähigkeit des deutschen Bundesstaats. Das gilt jedenfalls für Reformen, die auf Entflechtung, Dezentralisierung und Wettbewerb gerichtet sind. Hinter abstrakten Bekenntnissen zu "mehr Föderalismus" verbergen sich erhebliche Interessendivergenzen zwischen Bund und Ländern, wenn es um die Neuverteilung von Kompetenzen und Finanzen geht. Auch die Interessen der Länder sind im Hinblick auf eine Dezentralisierung und einen Wettbewerbsföderalismus nicht einheitlich, vielmehr fordern primär die wirtschaftlich starken Länder mehr Autonomie und Wettbewerb. Die wirtschaftlich schwachen Länder bevorzugen dagegen nach wie vor die Unterstützung durch den Bund in den Strukturen des kooperativen Bundesstaats, weshalb sie wahrscheinlich gegen konkrete Dezentralisierungs- und Entflechtungsmaßnahmen ihre Vetomacht einsetzen.
Die Regionalisierungstendenzen im Parteiensystem scheinen somit in die paradoxe Situation zu führen, dass Reformen nunmehr dringlicher werden, sie aber noch schwerer realisierbar sind als zu Zeiten, da Parteien noch stärker vertikal integriert waren. Man könnte daraus den Schluss ziehen, dass wenn schon nicht die Parteien als solche, dann jedenfalls die veränderten Strukturen des Parteiensystems zum Hindernis der Föderalismusreform geworden sind. Diese Diagnose würde jedoch die eigentlichen Ursachen, nämlich die ökonomischen Disparitäten im Bundesstaat des vereinigten Deutschlands, verdecken. Nicht durchsetzbar sind nur solche Reformen, die dieser Tatsache nicht Rechnung tragen, einem unfairen Wettbewerb zwischen wirtschaftlich starken und wirtschaftlich schwachen Ländern um wirtschaftliche Potentiale Vorschub leisten und das sozialstaatliche Postulat der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse als Relikt eines überkommenen Wohlfahrtsstaats aufgeben wollen. Sie sind schwer zu verwirklichen, weil sie die Länder politisch spalten und damit auch die Desintegration des Parteiensystems verschärfen.
III. Folgerungen für Reformpolitik
Die Regionalisierungstendenzen im Parteiensystem und in den politischen Konfliktstrukturen erhöhen den Bedarf für eine Reform des Bundesstaats. Erfolg verspricht aber nur eine Politik, welche die Chancen nutzt, die in der Auflösung parteipolitischer Konfrontationen liegen, und welche auf die unterschiedlichen Situationen der einzelnen Länder Rücksicht nimmt. Mehr denn je muss auch vermieden werden, Dezentralisierungspolitik als Nullsummenspiel zwischen Bund und Ländern zu betreiben. Da sich der deutsche Bundesstaat seit der Wiedervereinigung in Richtung auf einen asymmetrischen Föderalismus
- Da eine Einigung über signifikante Rückverlagerungen von Gesetzgebungskompetenzen vom Bund auf die Länder heute weniger denn je realistisch ist, sollte die Dezentralisierungspolitik bei einer Differenzierung der Gesetzgebungsaufgaben ansetzen. Dabei sollte unterschieden werden zwischen einer Grundsatzgesetzgebung (oder Richtliniengesetzgebung) des Bundes und einer Detailgesetzgebung der Länder.
- Eine weitere, im kanadischen Bundesstaat praktizierte Möglichkeit einer differenzierten Dezentralisierung und Entflechtung
- Als Variante dieses Dezentralisierungsmodus könnte im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung den Ländern die Möglichkeit eingeräumt werden, eigene Gesetze zu erlassen, die als experimentelle Politik an die Stelle geltender Bundesgesetze treten und über deren Übernahme in Bundesgesetze (oder Auslaufen) nach einer begrenzten Zeit zu entscheiden wäre.
- Ein fairer Wettbewerb zwischen Gebietskörperschaften setzt in einem sozialen Bundesstaat gleiche Ausgangsbedingungen der konkurrierenden Einheiten voraus. Deswegen kann Dezentralisierung und Entflechtung den Finanzausgleich zwischen den Ländern nicht ersetzen, sondern macht ihn geradezu notwendig. Allerdings sollte er vereinfacht und transparenter werden, indem klar zwischen dem Einnahmenausgleich und einem Lastenausgleich unterschieden wird. Ersterer bringt die Länder sozusagen auf die gleiche Startlinie, Letzterer fördert diejenigen, die durch besondere Belastungen benachteiligt sind. Einnahmenausgleich zwischen Ländern und Lastenausgleich, für den der Bund verantwortlich sein müsste, sollten getrennt werden.
- Da eine Neugliederung des Bundesgebiets schwerlich zu realisieren ist, die Koordinationsprobleme zwischen Ländern und Kapazitätsdefizite kleiner Länder aber eine Dezentralisierung im Bereich der Leistungsaufgaben begrenzen, sollte die regionale Kooperation zwischen Ländern gefördert werden. Dies kann einerseits im Rahmen des Lastenausgleichs geschehen, wenn dieser, nach dem Vorbild des in der Schweiz diskutierten Modells eines neuen Finanzausgleichs,
Diese Elemente einer Föderalismusreform erfordern keinen umfassenden Umbau der Verfassungsordnung, sondern zielen auf Schritte, die in der gegenwärtigen politischen Situation realisierbar sind. Damit soll weiter gehenden Reformprojekten keine Absage erteilt werden. Allerdings müssen diese im Rahmen einer längerfristig angelegten Reformpolitik angestrebt werden, und im Prozess ihrer Verwirklichung bedarf es wesentlich mehr Phantasie hinsichtlich institutionenpolitischer Möglichkeiten, als in der vergangenen Föderalismusdiskussion zum Vorschein kam. Beides, sowohl die schrittweise Umsetzung weiter reichender Reformprojekte als auch Reformphantasie, wird gefördert, wenn die Institutionenpolitik im Bundesstaat als Daueraufgabe betrieben