I. Merkmale des deutschen Föderalismus
Der deutsche Föderalismus war zu keiner Zeit am Ideal einer klaren Aufgabentrennung zwischen der Bundes- und der Landesebene orientiert. Vielmehr herrschte bereits in den Verfassungen von 1871 und 1919 eine gesamtstaatliche Kooperation unter funktionalen Aspekten vor, d.h., die verschiedenen staatlichen Ebenen sind in unterschiedlicher Funktion verantwortlich. Staatliche Aufgaben werden nach Kompetenzarten und nicht nach Politikfeldern verteilt, wie dies z.B. in den USA der Fall ist.
Das Bundesstaatsprinzip hat in der Bundesrepublik Deutschland immer stärker Züge eines kooperativen Föderalismus angenommen mit der Konsequenz, dass die Entscheidungsebenen zwischen Bund und Ländern zunehmend verflochten und vermischt sind. Diese Entwicklung ist bereits in den Konstruktionsprinzipien des Grundgesetzes angelegt, das den Bund und die Länder zur engen Zusammenarbeit bei einer Vielzahl staatlicher Aufgaben und Kompetenzen verpflichtet. Ein markantes institutionelles Merkmal ist der Bundesrat, der die Länder an der Gesetzgebung des Bundes mitwirken lässt.
Die Verfassungsreform von 1969 stellt in der geschichtlichen Entwicklung des Föderalismus nach 1949 insofern eine markante Zäsur dar, als sie dem Bund die Befugnis einräumt, die Länder auf eine einheitliche Konjunktur- und Haushaltspolitik zu verpflichten. Diese haben zwar im Gegenzug über den Bundesrat weiterreichende Zustimmungsrechte erhalten, aber hieraus resultiert eine weitere Verstärkung des kooperativen Föderalismus, der sich auch auf jene Bereiche erstreckt, die in der Gesetzgebungskompetenz der Länder verblieben sind. Verlierer dieser Umformung der Entscheidungsstrukturen sind die Landesparlamente in ihrer Funktion als Gesetzgeber und Institutionen dezentraler Politikformulierung. Ihr Kompetenzverlust wird durch den Bundesrat nicht kompensiert. Die Landtage nehmen allenfalls auf der Länderebene ihre Kontrollfunktion wahr. Ein zusätzliches Instrument der Politikverflechtung wurde 1969 mit den Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91a und 91b GG geschaffen. Bund und Länder sind zur gemeinsamen Planung, Entscheidung und Finanzierung bei Aufgaben verpflichtet, die grundsätzlich in den Kompetenzbereich der Länder fallen. Mit Hilfe von Finanzzuweisungen hat der Bund so Zugang zu Aufgabenbereichen der Länder. Zusätzlich hat der Bund seinen Einfluss auf die Länder über seine Kompetenzen in der Rahmengesetzgebung ausgeweitet.
Dieser Verlagerung von originären Gesetzgebungskompetenzen der Länder auf den Bund vor allem durch die extensive Auslegung der konkurrierenden Gesetzgebung hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 72 GG in der alten Fassung weiter Vorschub geleistet. Hieran hat auch die Neufassung dieser Bedürfnisklausel 1994 wenig geändert. Obwohl nunmehr im neuen Absatz 2 des Artikels 72 GG an Stelle der "Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" die "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse" verankert ist, wird dadurch der Autonomieverlust der Länder nicht wirkungsvoll eingedämmt. Vielmehr kann der Bund unter der Voraussetzung, "gleichwertige Lebensverhältnisse" herzustellen oder die Rechts- und Wirtschaftseinheit zu wahren, nach wie vor nach Art. 75 GG in bestimmten Politikfeldern Rahmenvorschriften für die Gesetzgebung der Länder erlassen.
Die Gesetzgebungskompetenzen liegen also überwiegend beim Bund. Die primäre Aufgabe der Länder besteht neben dem Gesetzesvollzug in der Wahrnehmung von Verwaltungszuständigkeiten und Kompetenzen bei der Entscheidung über die öffentlichen Ausgaben. Da der Bund aber auch Bestand und Inhalt der Verwaltungsaufgaben und den finanziellen Handlungsrahmen der Länder und Gemeinden im Wesentlichen bestimmt, führt die Politikverflechtung dazu, die Kompetenzen so zu verteilen, dass dem Interesse gesamtstaatlicher Steuerung und möglichst bundeseinheitlicher Politik gedient wird. Die Politikverflechtung birgt zudem bei unterschiedlichen parteipolitischen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat die Gefahr einer "Blockade" in sich.
Eigentlich sollte das föderal organisierten Staaten immanente Spannungsfeld von Autonomie und Solidarität der Gliedstaaten die schwierige Aufgabe lösen, die sichere Mitte zwischen Selbstständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und Bewahrung der Individualität der Länder einerseits und solidarischer Mitverantwortung andererseits zu finden. In der Realität des deutschen Föderalismus ist dieses Spannungsfeld jedoch tief greifenden Problemen ausgesetzt, die Anlass zu Kritik geben.
II. Der kooperative Föderalismus in der Finanzverfassung
Die vielfältigen Verschränkungen und Verflechtungen spiegeln sich auch in der Finanzverfassung wider. Im Idealfall sollte im Bundesstaat die Zuständigkeit für die Erbringung einer Staatsaufgabe und die Verantwortung für deren Finanzierung in einer Hand vereinigt sein. So tragen nach Artikel 104a GG Bund und Länder gesondert die Ausgaben, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben. Es ist ihnen danach verwehrt, Vorhaben zu finanzieren, die nicht in ihre Zuständigkeit fallen. Man spricht hier vom Konnexitätsprinzip, von der Verknüpfung von Regelungskompetenz und Finanzierungsverantwortung auf einer Ebene. Ausnahmen hiervon sind nur erlaubt, sofern es das Grundgesetz ausdrücklich gestattet. Neben den Gemeinschaftsaufgaben betreffen diese die Bestimmungen in Art. 104a Abs. 2 bis 4 GG, welche die Gewährung von Geldleistungen und Finanzhilfen sowie bestimmte Verwaltungsaufgaben regeln, und die Sozialversicherungszuschüsse nach Art. 120 GG. Im weiteren Sinne fallen unter diese Formen der Mischfinanzierungen auch die Zuweisungen aus dem Steueraufkommen des Bundes an die Länder für den Öffentlichen Personennahverkehr. Alle diese Instrumente eröffnen dem Bund Mitwirkungsmöglichkeiten in Länderangelegenheiten und erfordern notwendige Kooperationen, die auf Länderseite von der Exekutive geführt werden und damit zu Lasten der Länderparlamente gehen.
Betrachtet man die Entwicklung der Finanzverfassung seit der Finanzreform 1969, die mit dem "Großen Steuerverbund" die ertragreichsten Steuerarten - neben der Einkommen- und Lohnsteuer auch die Umsatz- und Körperschaftsteuer - zu Gemeinschaftsteuern des Bundes und der Länder zusammengeführt hat, besitzen die Länder kaum noch Eigenständigkeit in der Steuerpolitik. Bis auf wenige unbedeutende Ausnahmen ist bei den Steuern der Bund für die Gesetzgebung und die Wahl der Steuersätze zuständig. Da die Finanz- und Steuergesetze das Verhältnis von Bund und Ländern betreffen, sind sie zustimmungspflichtig. Damit sind die Länder(exekutiven) zwar über den Bundesrat an der Steuergesetzgebung beteiligt, aber kein einzelnes Bundesland kann die Steuersätze oder die Steuerbemessungsgrundlage für die landeseigenen Steuern in eigener Verantwortung verändern.
Die Überwälzung finanzieller Lasten durch die Bundesgesetzgebung haben die Möglichkeiten von Ländern und Gemeinden, finanzpolitisch selbstverantwortlich Politik zu gestalten, erheblich verringert und damit zugleich auch den politischen Handlungsspielraum der Länder eingeengt. Hinzu kommt, dass finanzschwache Länder sich ihre Zustimmung zu Maßnahmen des Bundes 'abkaufen' lassen. Indem sie dann im Bundesrat Regelungen des Bundes zustimmen, schwächen sie die Stellung der Ländergesamtheit gegenüber dem Bund.
Insbesondere der Finanzausgleich, das wichtigste Instrument im deutschen Föderalismus, um die Verteilung der Steuereinnahmen auf die Gebietskörperschaften zu regeln, ist in die Kritik geraten. Diese setzt ökonomisch gesehen bei den negativen Anreizwirkungen des Systems an.
Die Kritik an der "Politikverflechtung"
III. Reforminitiativen von politischer Seite
Die Reform der föderalen Ordnung ist seit den achtziger Jahren ein politisches Dauerthema.
Im Mittelpunkt der aktuellen Reformdiskussion steht der Wettbewerbs- oder Konkurrenzföderalismus, der eine Entflechtung der bundesstaatlichen Ordnung mit dem Ziel anstrebt, die Gestaltungsmöglichkeiten und Kompetenzen der Länder - und damit der Landtage - im Bereich der Gesetzgebungszuständigkeiten ebenso zu stärken wie in den damit verbundenen föderativen Finanzbeziehungen. Neben Entflechtung wird dabei auch ein Mehr an Autonomie, Subsidiarität und Wettbewerb der Länder gefordert.
Grundgedanken des Konzepts eines Wettbewerbsföderalismus finden sich ab Herbst 1997 in mehreren Reformansätzen der FDP und ihr nahe stehender Einrichtungen,
Solche Reformüberlegungen haben Länderexekutiven in der Erkenntnis aufgegriffen, dass die Länder zwar über den Bundesrat ihre Mitwirkungsrechte verstärkt haben, ihre Gestaltungskompetenz aber zugleich durch die Ausdünnung ihrer Gesetzgebungsbefugnisse vermindert wurde. Die Ministerpräsidenten Bayerns und Baden-Württembergs haben ab 1996 mehrere Initiativen mit dem Ziel gestartet, den Wettbewerbsgedanken auch im Föderalismus zu stärken. Edmund Stoiber und Erwin Teufel plädierten für mehr Konkurrenz unter den Ländern, für mehr "Vielfalt in der Einheit". Insbesondere mahnten sie die Neugestaltung des Finanzausgleichs an.
Das Leitbild eines wettbewerbsorientierten Föderalismus wird in der politischen Landschaft in jüngster Zeit vor allem durch die CDU und ihr nahe stehende Einrichtungen propagiert.
Solche Vorschläge zur Föderalismusreform werden mittlerweile von allen politischen Parteien aufgegriffen und diskutiert. Ein Beispiel hierfür ist die aus acht Abgeordneten und sieben Sachverständigen zusammengesetzte Enquete-Kommission des Bayerischen Landtags "Reform des Föderalismus - Stärkung der Landesparlamente", die im März 2002 ein Reformpapier vorgelegt hat, in dem eine massive Beschneidung der Machtbefugnisse des Bundes und der Europäischen Union zugunsten der Länder gefordert wird. Hier taucht auch wieder der Vorschlag auf, dass die Länder in ausgewählten Bereichen berechtigt sein sollten, Bundesgesetze durch eigene Regelungen zu ersetzen.
In die gleiche Richtung tendiert die Lübecker Erklärung aller deutschen Landesparlamente vom 31. März 2003, die nachdrücklich für die Stärkung der Kompetenzen der Landesparlamente insbesondere im Bereich der Gesetzgebung eintritt. Außerdem sehen sie einen Reformbedarf bei den Gemeinschaftsaufgaben und den Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern.
Die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) hat 1998 die "umfassende Überprüfung mit dem Ziel der Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung" auf ihre Tagesordnung gesetzt. Diese Modernisierung umfasst ein breites Spektrum miteinander vernetzter Bereiche von der Überprüfung der Aufgabenverteilung und der Entflechtung der Kompetenzen in Gesetzgebung und Verwaltung über die Stärkung der autonomen Gestaltungsmacht der Länder, die konsequente Umsetzung des Konnexitätsprinzips und die Entflechtung bei der Finanzierungsverantwortung, die Neuordnung der bundesstaatlichen Finanzbeziehungen bis hin zur Frage einer Länderneugliederung. Die MPK-Initiative scheiterte jedoch zunächst. Gleichwohl hat am 18. Juni 2001 der damalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wolfgang Clement in seiner Rede "Verantwortung - Entscheidungsfähigkeit - Transparenz. Gedanken zur Modernisierung des Föderalismus in Deutschland" im Bundesrat betont, dass die Ministerpräsidenten sich über einen verbindlichen Fahrplan zur Entflechtung von Gemeinschaftsaufgaben und Mischfinanzierungen weitgehend einig seien: mehr Transparenz und klare Verantwortung für politische Entscheidungen, Erweiterung der Gestaltungsspielräume der Länder und der Handlungsmöglichkeiten der Länderparlamente sowie angemessene Berücksichtigung regionaler Besonderheiten. In einem erneuten Anlauf hat die MPK im Dezember 2001 einen Lenkungsausschuss "Föderalismusreform" und die beiden Arbeitsgruppen "Finanzen" und "Innerstaatliche Kompetenzabgrenzung" eingesetzt. Im März 2002 hat der Bundesrat beschlossen, dass im Zuge der Neugestaltung der föderativen Aufgabenzuteilung und der Finanzbeziehungen nach 2004 die Aufteilung der "nationalen Kofinanzierung" (Mischfinanzierung) zwischen Bund und Ländern zu überprüfen und weiter zu entwickeln sei.
IV. Die Reformdiskussion in der Wissenschaft
Die unterschiedlichen Interessen der Bundesländer und die divergierenden Ansichten der politischen Parteien lassen vermuten, dass die Positionen der Wettbewerbsföderalisten und der Befürworter des solidarischen Föderalismus weiter verhärtet bleiben. Vor diesem Hintergrund sind kritische Anmerkungen der Wissenschaften zum Erscheinungsbild des deutschen Föderalismus und zu politischen Reformprojekten, aber auch Reformanregungen von Interesse.
Die Wissenschaft hat früh Kritik am deutschen Föderalismus geübt. Bereits 1962 sprach Konrad Hesse vom "unitarischen Bundesstaat", der - wie es 1992 Heidrun Abromeit formuliert hat - ständig auf der Kippe zum "dezentralisierten Einheitsstaat"
Neben der These von der "Politikverflechtungsfalle" erklärt die Politikwissenschaft den Widerspruch zwischen Reformnotwendigkeit und Reformpraxis mit der "institutionellen Pfadabhängigkeit"
Anpassungsreformen reichen nach überwiegender politikwissenschaftlicher Meinung nicht aus, um der Politikverflechtungsfalle zu entkommen. Gefordert werden daher Strukturreformen, die das verloren gegangene föderale Gleichgewicht wieder herstellen "durch klare Verantwortlichkeiten und Entscheidungskompetenzen, durch erhöhte Transparenz und verbesserte Beteiligungsmöglichkeiten, durch solidarischen Wettbewerb der Länder untereinander"
Die historische und politische Forschung meldet auch prinzipielle Bedenken gegenüber der Übertragung des Modells der ökonomischen Wettbewerbstheorie auf den Föderalismus an. Für Arthur Benz ist der Wettbewerbsföderalismus, wie er üblicherweise verwendet wird, weder ein Konzept für wissenschaftliche Diskussionen noch eine Grundlage für praktikable Reformvorschläge.
Skepsis gegenüber der Gleichsetzung von Wettbewerb in den unterschiedlichen Handlungszusammenhängen von Politik und Wirtschaft äußert auch die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch. Sie möchte in die gegenwärtige "Reformdebatte zwischen Wunschdenken und politischer Machbarkeit" ein modifiziertes Vokabular einführen, das der bundesstaatlichen Ordnung eher gerecht wird: "Verständigte man sich darauf, dass mit der Forderung nach mehr Wettbewerb zwischen den Gliedstaaten vor allem gemeint ist, anstatt der zweifelsohne erforderlichen Einheit besser die Vielfalt in den Vordergrund zu stellen und in allen Handlungsfeldern anzustreben, bewegte man sich auf besser gesichertem Grund."
Seitens der historisch-politischen Forschung wird außerdem der Einwand erhoben, dass föderale Staaten wie die Schweiz oder die USA, die von Verfechtern des Wettbewerbsföderalismus gerne als Vorbilder herangezogen werden, eine von Deutschland unterschiedliche politische Kultur haben. Roland Sturm weist zu Recht darauf hin, dass ein Wettbewerbsföderalismus nach amerikanischem Vorbild eine politische Kultur voraussetze, in der die Frage nach dem Grad der Vielfalt der Lebensbedingungen zweitrangig sei.
In die Richtung einer "indirekten Entflechtung" tendieren die unter dem Titel "Entflechtung 2005" von der Bertelsmann Stiftung vorgelegten zehn Vorschläge zur Optimierung der Regierungsfähigkeit im deutschen Föderalismus. Die unterbreiteten Vorschläge, die auch Anregungen aus dem internationalen Vergleich aufgreifen, streben eine innerstaatliche Reform der bundesstaatlichen Ordnung durch die Stärkung eines sozialpolitischen Wettbewerbsföderalismus an. Die in den Reformvorschlägen enthaltenen Maßnahmen zur Dezentralisierung und Entflechtung sollen die Eigenverantwortung der Länder stärken - begleitet von Ausgleichsmaßnahmen für die wirtschaftlich schwächeren Länder. Vorgeschlagen wird u.a., die Rahmengesetzgebung durch eine "Grundsatzgesetzgebung" zu ersetzen, die den Bund nur zu allgemein leitenden Rechtssätzen zur Sicherstellung der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse befugt. Diese können die Länder ausgestalten und an die unterschiedlichen Verhältnisse anpassen.
Zur Stärkung der Länder im föderalen Gefüge sollte die konkurrierende Gesetzgebung insofern geändert werden, als die Länder dem Bund beim Zugriffsrecht gleichzustellen sind. Außerdem sollten in einzelnen Bereichen Zuständigkeiten an die Länder rückverlagert werden. Zur Beseitigung des "Reformstaus" schlägt die Kommission vor, dass mit der Stärkung der Gesetzgebungsbefugnisse der Länder die zustimmungspflichtigen Gesetze reduziert werden. Die Entscheidungsfähigkeit der Länderkammern sollte durch Einführung der relativen Mehrheit bei Abstimmungen im Bundesrat gesteigert werden, um auf diesem Wege die zur Zeit bei kontroversen Themen bestehende Handlungsunfähigkeit des Gremiums abzubauen. Der vorgeschlagene Abbau der Mischfinanzierungen ist zwangsläufig verbunden mit einer Neuverteilung der Steuereinnahmen zwischen Bund und Ländern. Die Reform der Finanzverfassung soll die Eigenverantwortung der Länder stärken und ihnen finanzielle Anreize für die Pflege ihrer Steuerquellen geben. An die Stelle der politisch nicht umsetzbaren Rückkehr zum Trennsystem wird ein eigenes Tarifgestaltungsrecht bei Einkommen- und Körperschaftsteuer vorgeschlagen. Hierdurch könnten ein gewisser Wettbewerb zwischen den Ländern und klare Verantwortlichkeiten erreicht werden.
V. Erste Reformschritte
Die Länder Bayern und Baden-Württemberg hatten 1998 gegen den geltenden Finanzausgleich geklagt, da das Ausgleichssystems zu einer "massiven Veränderung der Finanzkraftreihenfolge" unter den Ländern führe und deshalb verfassungswidrig sei. In seinem Entscheid vom 11. November 1999 folgt das Bundesverfassungsgericht teilweise der Argumentation der Beschwerdeführer: "Mit einer gewissen historischen Berechtigung könne die Bewahrung der historischen Individualität der verschiedenen Länder und der regionalen Pluralität Deutschlands als wichtiges Ziel der bundesstaatlichen Ordnung gelten. Voraussetzung sei allerdings ein gewisses Maß an Finanzautonomie (...) Die vom Bundesstaatsprinzip intendierte bessere Aufgabenerfüllung durch dezentrales und sachnäheres Entscheiden sowie das vom Bundesstaatsprinzip gesicherte Maß an Wettbewerb zwischen den einzelnen Ländern setzten den Erhalt der finanziellen Grundlagen eines solchen begrenzten Wettbewerbs voraus. Eine völlige Einebnung der Finanzkraftunterschiede, wie sie vom geltenden Finanzausgleichsgesetz bewirkt werde, widerspreche diesem Grundgedanken. Eine wesentliche Legitimationsgrundlage des Föderalismus liege in der innovationsfördernden Funktion des politischen Wettbewerbs der Länder untereinander und gegenüber dem Bund."
Das Gericht fordert, einen "Maßstab für die Bestimmung der Einnahmen und Ausgaben des Bundes und der Länder" festzulegen, nach dem die "Umsatzsteueranteile von Bund und Ländergesamtheit zu berechnen sind"
Das im Dezember 2001 verabschiedete Solidarpaktfortführungsgesetz (SFG) regelt von 2005 bis zum Jahr 2019 den Finanzausgleich, die Abwicklung des Fonds "Deutsche Einheit" und die Fortführung des Aufbaus Ost. Der Finanzausgleich wird wie bisher in einem mehrstufigen Verfahren geregelt: Die vertikale Steuerverteilung zwischen Bund und Ländern in der ersten Stufe bleibt unverändert. Die Aufteilung der Umsatzsteuer in der zweiten Stufe ändert sich insofern, als die Länder zusätzlich einen Fehlbetrag (in Höhe von 1 323 Mio. EUR) bekommen. Die Umsatzsteuerergänzungsanteile werden vor allem zugunsten der ostdeutschen Länder verstärkt. Beim Länderfinanzausgleich im engeren Sinn wird die Finanzkraft der Länder künftig mäßiger degressiv und progressiv gestaltet und garantiert den Ländern einen Eigenbehalt von "Mehr- oder Mindereinnahmen gegenüber den länderdurchschnittlichen Einnahmen sowie von überdurchschnittlichen Mehreinnahmen oder unterdurchschnittlichen Mindereinnahmen je Einwohner gegenüber dem Vorjahr". Künftig dürfen höchstens 72,5 Prozent des Überschusses der länderdurchschnittlichen Finanzkraft abgeschöpft werden. Außerdem dürfen die Bundesländer von den überdurchschnittlichen Steuermehreinnahmen zwölf Prozent behalten. Die vollständige Einbeziehung der kommunalen Finanzkraft scheiterte an den Interessen der Flächenstaaten. Nach dem neuen Finanzausgleichsgesetz wird die kommunale Finanzkraft statt bisher mit 50 künftig mit 64 Prozent einbezogen.
Die Bundesergänzungszuweisungen fließen auch künftig in Form von Allgemeinen Bundesergänzungszuweisungen den finanzschwachen Ländern zu, deren Sonderlasten weiterhin, wenn auch in abgeflachter Form, durch Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen mitfinanziert werden. Mischfinanzierungen der Gemeinschaftsaufgaben und Investitions-Finanzhilfen werden mit Sonderzuweisungen an die ostdeutschen Länder (Solidarpakt II) fortgesetzt, obwohl diese Vereinbarung eigentlich dem Kompromiss der Ministerpräsidenten widerspricht, die Mischfinanzierungen zu entflechten und weitgehend abzubauen. Der neue Finanzausgleich ist nicht mehr als ein erster Schritt in Richtung auf eine Reform der Finanzordnung insgesamt.
VI. Perspektiven
Die Föderalismusdiskussion ist gekennzeichnet durch Forderungen nach Neuordnung der Kompetenzen, insbesondere nach Stärkung der Länderkompetenzen, und nach einem "Wettbewerbsföderalismus". Die von Politikwissenschaftlern geäußerten Bedenken, dass die Komplexität des Bundesstaates allzu häufig negiert werde oder die Modelle einen zu hohen Abstraktionsgrad aufweisen, wenn sie über konkrete Fragen der Einnahmen- und Ausgabenverteilung und der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern hinausgehen, treffen nur bedingt zu, wenn man die politischen Initiativen der Südländer oder das Reformprojekt der Bertelsmann Stiftung heranzieht.
Vielmehr dürften eher die sich nach wie vor unversöhnlich gegenüberstehenden Positionen des solidarischen und des wettbewerbsorientierten Föderalismus die Chancen tief greifender Reformen mindern. Nicht zuletzt die gegenwärtigen politischen Konstellationen und die Verteilungskämpfe angesichts der finanziellen Engpässe von Bund, Ländern und Kommunen lassen tief greifende Reformen, die ohne ein einvernehmliches Handeln der politischen Akteure nicht zu realisieren sind, in absehbarer Zukunft nicht erwarten. Erschwerend kommt hinzu, dass neben dem Verhältnis von Bund und Ländern weitere Problemfelder zu lösen sind. So ist die Rolle der Kommunen im föderalen Gefüge ins Zentrum einer Reformdiskussion gerückt, die durch deren finanzielle Notlage ausgelöst wurde, aber darüber hinaus inzwischen auch die Forderung nach grundgesetzlicher Verankerung des Konnexitätsprinzips für das Verhältnis von Bund und Kommunen umfasst. Im Raum stehen weiterhin Fragen föderaler Neugestaltung der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik oder des Kulturföderalismus.
Angesichts der komplexen Politikverflechtungsstrukturen und der politischen Rahmenbedingungen ist eine tief greifende Reform des Föderalismus in naher Zukunft kaum zu erwarten, was jedoch die prinzipielle Reformfähigkeit des deutschen Föderalismus nicht ausschließt.