Einleitung
Das amerikanische Vorgehen gegen den Irak hat die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der Europäischen Union einer schmerzlichen Belastungsprobe ausgesetzt und tiefe Gräben hinterlassen. Seit über drei Jahrzehnten versuchen die EU-Mitgliedstaaten durch gemeinsame Positionen und Aktionen, ihr Gewicht in der internationalen Politik zu erhöhen.
I. Die amerikanische Irak-Politik als Herausforderung für die GASP
Der Irak-Krieg reicht in seiner Bedeutung weit über die betroffene Region hinaus. Das amerikanische Vorgehen, so die Einschätzung einer Reihe von Beobachtern, markiere einen Bruch mit historischen Kontinuitätslinien. Er bringe eine Zwischenkriegszeit zum Abschluss, und stelle ähnlich wie der Zeitenwechsel 1947/48 den Beginn einer längeren Nachkriegsphase dar.
Dass ein Sturz des Regimes im Irak die erste Konsequenz dieses radikalen Bruchs sein würde, zeichnete sich spätestens im Sommer 2002 ab.
II. Europäische Reaktionen
Europa wurde von dieser Entwicklung geradezu überwältigt. Bei den europäischen Ratstreffen im März und Juni 2002 stand der Irak offiziell nicht auf der Tagesordnung. Hinter den Kulissen begannen sich die das folgende Jahr prägenden Frontstellungen aber schon zu formieren.
Stattdessen bestimmten nationale Reaktionen das Bild. Großbritannien folgte der etablierten Tradition der "special relationship", hoffend, durch eine entschlossene Beteiligung Einfluss auf den Entscheidungsprozess in Washington ausüben zu können. Diese vor allem einer außenpolitischen Logik folgende Strategie war nicht ohne innenpolitische Risiken. Eine Mehrheit der Labour-Wählerschaft und große Teile der Fraktion standen einem Krieg gegen den Irak, ohne UN-Mandat zumal, ablehnend gegenüber.
Die deutsche Position und ihre Probleme waren spiegelbildlich.
Die französische Position war einerseits sehr viel grundsätzlicher, andererseits flexibler. Paris hatte ebenfalls die unilateralen Tendenzen der amerikanischen Politik scharf kritisiert, gleichzeitig aber anerkannt, dass die Missachtung der UN-Resolutionen durch den Irak einen Zustand darstellte, den die Weltgemeinschaft nicht länger tolerieren konnte. In dieser Situation plädierte Frankreich erstens dafür, die Autorität des Sicherheitsrates zu stärken, zweitens, gegenüber Bagdad auf der Umsetzung der einschlägigen Resolutionen zu beharren und ein verschärftes Inspektionsregime zuzulassen, und drittens, dieser Forderung durch den Aufbau einer militärischen Drohkulisse Nachdruck zu verleihen.
Eine europäische Kompromisslinie zeichnete sich erst wieder im Frühherbst ab. Bei ihrem informellen Treffen in Helsingör (30./31. August) verständigten sich die EU-Außenminister auf die Formel, der Diplomatie zunächst den Vorrang vor militärischer Gewalt einzuräumen.
III. Der Bruch des politischen Westens
Kurze Zeit später wurde deutlich, dass der Kompromiss auf Sand gebaut war. Von den USA wurde der 12 000 Seiten lange Bericht, den der Irak am 8. Dezember über sein Waffenprogramm und seine Bestände an relevanten Materialien vorlegte, als ungenügend eingestuft. Mit dieser Einschätzung fiel auf amerikanischer Seite endgültig die Entscheidung für eine militärische Lösung.
Ausschlag gebend für die Entscheidung beider Länder war ein Bündel von Faktoren.
Die EU schien nach der Verabschiedung der Resolution 1441 langsam wieder zu einer gemeinsamen Position zurückgefunden zu haben. Am 19.November 2002 verabschiedete der Rat Schlussfolgerungen zum Irak, in denen er die einstimmige Annahme der Resolution 1441 begrüßte.
Nur drei Tage später zerfiel der Eindruck von Einigkeit. Am 30. Januar 2003 veröffentlichten acht EU-Mitglieder und -Kandidaten einen gemeinsamen Aufruf, in dem sie ihre Solidarität mit den USA ausdrückten.
Die Motive der acht bzw. zehn sind vielfältig. Für Großbritannien zählte die "special relationship", für die Regierungschefs Spaniens und Italiens die politische Nähe zum amerikanischen Präsidenten, für die Osteuropäer die Überlegung, dass die USA sie am effektivsten im Falle einer Rekonstitution der russischen Bedrohung schützen würden. Sie alle eint darüber hinaus das gleiche Motiv, das den Deutschen Bundestag dreißig Jahre zuvor dazu bewegt hatte, das französische Angebot abzulehnen. Die USA erbringen für die europäische Integration Leistungen, die von Europa alleine nur schwer und aus der Sicht der "Atlantiker" zu ungünstigeren Bedingungen zu ersetzen wären. Die amerikanische Hegemonie stellt nach dieser Lesart einen willkommenen innereuropäischen Stabilitätsfaktor dar, und ihre Führungsrolle innerhalb der NATO erleichtert die gemeinsame Reaktion auf externe Krisen. Ohne die USA müsste Europa diese Leistungen entweder durch einen Integrationssprung oder durch die Schaffung einer "europäischen Führungsmacht" etwa in Form eines Direktorats ersetzen - beides aus der Sicht einer Mehrheit der EU-Staaten und der Kandidaten keine attraktive Alternative. Europäische und transatlantische Sicherheitsstrukturen sollten aus dieser Sicht folglich so verflochten bleiben, dass europäische Strukturen nur eine Verstärkung und Ergänzung, nicht aber eine Alternative zur NATO darstellen. Der ehemalige polnische Botschafter in Deutschland, Janusz Reiter, brachte dieses Motiv auf den Punkt: "Vielen Europäern fällt es leicht, Amerikas Führungsrolle zu akzeptieren. Sie würden sich aber energisch wehren, wenn eine europäische Macht den Führungsanspruch erhöbe. Wer Europa zum Vehikel eigener nationaler Ambitionen machen möchte, muss damit rechnen, dass ihm die Nachbarn die Gefolgschaft verweigern."
Besonders aufgebracht hatte die acht, dass Schröder und Chirac bei den Feierlichkeiten zum Elysée-Vertrag im Namen Europas zu sprechen schienen. Die Interpretationshoheit über Europa und das, wofür Europa steht, ist seitdem Teil des Streits. Verteidigungsminister Rumsfeld trug hierzu stellvertretend für die Bush-Administration mit der Unterteilung in ein neues und ein altes Europa seinen Teil bei.
IV. Zwischen Vierergipfel und Konvent
Einer verbreiteten Auffassung zufolge sind es gerade Krisen, die der europäischen Integration neue Impulse verleihen. Abschließend wollen wir daher diskutieren, inwiefern die deutsch-französischen Vorschläge für den Konvent sowie der auf belgische Initiative zustande gekommene 'Vierergipfel' mit Frankreich, Deutschland, Belgien und Luxemburg geeignet sind, die in der Irak-Krise deutlich gewordenen Schwächen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu überwinden.
Im Konvent sieht die gemeinsame Initiative
Sehr viel problematischer ist der Vierergipfel.
Bedenklich ist der mit dem Vierergipfel eingeschlagene Weg aus drei Gründen: Erstens dupliziert er die in der NATO vorhandenen Kapazitäten. Zweitens vertieft er die Spaltung innerhalb der EU und gefährdet damit sogar mögliche Fortschritte im Rahmen des Konvents. Die Bundesregierung hatte zwar auf eine Teilnahme Großbritanniens gehofft, doch hatte die britische Regierung die Einladung nach Brüssel abgelehnt, weil das Treffen im Kontext der Irak-Krise als antiamerikanische Koalition erscheinen musste. Drittens ist eine funktionsfähige rüstungs- und sicherheitspolitische Kooperation im Kreis der vier kaum denkbar, und diese minilaterale Lösung würde die viel versprechenden Kooperationsprojekte Deutschlands und Frankreichs mit anderen europäischen Partnern gefährden. Ohne einen britischen Beitrag erscheint eine funktionsfähige Eingreiftruppe kaum denkbar. Auch kostspielige gemeinsame Kooperationsprojekte wie der A 400 M, das deutsch-niederländische Lufttransportkommando und die geplante britisch-französische Kooperation bei Flugzeugträgern sind auf die Mitwirkung weiterer Staaten angewiesen. Das bisher erreichte Niveau rüstungspolitischer Zusammenarbeit wird durch den Vierergipfel somit gefährdet.
V. Zur Reform der Bundeswehr
Während sich die Bundesregierung mit ihren Initiativen im Verfassungskonvent zu den integrationspolitischen Vorreitern rechnen kann, gehört sie im Bereich der Armeereform eher zu den Nachzüglern in Europa. Wie andere europäische Armeen auch musste die Bundeswehr nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes mit einem geringeren Wehretat auskommen. Hatte die Bundesrepublik Ende der achtziger Jahre noch über drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgegeben, sank dieser Anteil Ende der neunziger Jahre auf 1,5 Prozent.
Diese Einsätze führen die Bundeswehr an die Grenzen ihrer Fähigkeiten. Denn die Ausrüstung der Bundeswehr ist nach wie vor auf die Landesverteidigung ausgerichtet, die vor allem eine große Zahl von Soldaten und Panzern erforderlich machte. Für friedenserhaltende oder -schaffende Maßnahmen aber werden weniger, jedoch gut ausgerüstete und spezialisierte Truppen benötigt, die innerhalb kurzer Zeit über weite Strecken verlegt und versorgt werden können. Die entsprechenden Fähigkeiten im strategischen Lufttransport fehlen der Bundeswehr ebenso wie moderne Präzisionswaffen und Aufklärungssysteme - von einer integrierten Kommunikationsstruktur, wie sie die USA etwa im Irak-Krieg zum Einsatz gebracht haben, ganz zu schweigen.
Aufgrund ihrer immensen Kosten werden die erforderlichen Anschaffungen nur in Kooperation mit anderen Staaten möglich sein. Die beschlossene Beschaffung des Transportflugzeugs A 400M, an der neben Deutschland noch Frankreich, Spanien, Großbritannien, die Türkei sowie Belgien/Luxemburg beteiligt sind, hat allerdings die Finanzierungsprobleme gerade auf deutscher Seite offen gelegt. Denn der Anteil am Verteidigungshaushalt, der für die Entwicklung und Beschaffung von Rüstungsgütern zur Verfügung steht, sank von über 30 während des Kalten Krieges auf 21 Prozent im Jahr 1994
Um ihre Streitkräfte den neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen anzupassen, haben die meisten NATO-Staaten im Verlauf der neunziger Jahre ihre Armeen verkleinert und die Wehrpflicht ausgesetzt oder abgeschafft. Denn Wehrpflichtige erhöhen die Personalkosten, können aber nur eingeschränkt out of area eingesetzt werden.
Auch in Deutschland würde eine Abschaffung der Wehrpflicht und ein Umstieg auf eine verkleinerte Berufsarmee zu erheblichen Einsparungen führen, die für dringend erforderliche Investitionen eingesetzt werden könnten.
Die von Verteidigungsminister Struck im Mai 2003 vorgelegten neuen 'Verteidigungspolitischen Richtlinien' stellen zwar fest, dass "die herkömmliche Landesverteidigung gegen einen konventionellen Angriff als allein strukturbestimmende Aufgabe der Bundeswehr (...) nicht mehr den aktuellen sicherheitspolitischen Erfordernissen" entspricht und "die nur für diesen Zweck bereitgehaltenen Fähigkeiten (...) nicht länger benötigt" werden.
Um das Projekt einer Europäischen Eingreiftruppe zum Erfolg zu führen, hat die Bundesregierung einen deutschen Beitrag von insgesamt 33 000 Soldaten zugesagt.
VI. Zur Zukunft einer GASP nach dem Irak-Krieg
Erfolg oder Misserfolg einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik hängen nicht nur von der Fähigkeit der Mitgliedstaaten ab, ihre Zusagen zur geplanten Eingreiftruppe einzuhalten. Mindestens ebenso bedeutend ist, inwieweit sich die Europäer durch eine entschiedene amerikanische Politik spalten lassen. Trotz zahlreicher Fortschritte in der Außen- und Sicherheitspolitik scheiden sich nämlich an der sicherheitspolitischen Rolle der USA in Europa nach wie vor die Geister. Während für die einen amerikanische Hegemonie nach wie vor die am wenigsten schlechte Antwort auf die Frage nach der innereuropäischen Stabilität und der außenpolitischen Führung darstellt, wächst bei den anderen das Unbehagen an der Abhängigkeit von den USA. Während die einen in der ESVP eine Unterstützung und Ergänzung der NATO sehen, ist sie für andere zumindest potenziell und zukünftig auch eine Alternative.
Gerade nach dem militärischen Erfolg im Irak spricht wenig dafür, dass eine Strategie des '"divide et impera'" von den USA nicht auch in anderen außenpolitischen Fragen - von Nordkorea über den Iran bis zum Internationalen Strafgerichtshof - erfolgreich angewandt werden könnte. Es ist nicht einmal auszuschließen, dass die USA ihre traditionell zwar ambivalente, aber letztlich die europäische Integration fördernde und unterstützende Haltung zugunsten einer systematischen Spaltung Europas im sicherheitspolitischen Bereich aufgeben könnten. Die bevorstehende Erweiterungsrunde wird nicht nur die Heterogenität außenpolitischer Positionen vergrößern; sie könnte auch zusätzliche Ansatzpunkte für eine derartige Strategie bieten.
An dieser Verwundbarkeit in zentralen außenpolitischen Fragen werden selbst die ehrgeizigeren Reformvorschläge im Verfassungskonvent wenig ändern. Europäische Institutionen können die außenpolitische Kooperation zwar erheblich erleichtern, aber nicht erzwingen. Sollte sich eine Regierung auf eine nationale Position festlegen, können auf absehbare Zeit weder die supranationalen Institutionen der EU noch die anderen Mitgliedstaaten eine gemeinsame europäische Position durchsetzen.
Mittel- und längerfristig ist dagegen durchaus zu erwarten, dass die europäischen Institutionen und die Praxis der europäischen Zusammenarbeit auch auf außenpolitischem Gebiet und im Verhältnis zu den USA Gemeinsamkeiten fördern: Durch die Dichte der Kommunikation nähern sich gerade auf der Arbeitsebene die Sichtweisen an. Mit der Institution des 'Hohen Repräsentanten' (und eventuell bald eines europäischen Außenministers) wird es der EU besser gelingen, ihrer Politik Gesicht und Stimme zu verleihen. Dass Javier Solana nach der Irak-Krise mit der Ausarbeitung einer gemeinsamen Sicherheitsstrategie beauftragt wurde, kann als hoffnungsvolles Zeichen interpretiert werden. Darüber hinaus könnte die Vielzahl der gemeinsamen wirtschafts- und ordnungspolitischen Interessen gegenüber den USA, die von der Agrar- über die Handels- bis zur Klimapolitik reichen, mehr Gemeinsamkeit auch bei sicherheitspolitischen Fragen motivieren. Dies dürfte umso eher der Fall sein, wenn die USA versuchen sollten, ihre Ziele auch durch die Verknüpfung sachfremder Themen zu verfolgen (beispielsweise die Immunität amerikanischer Soldaten vor dem Internationalen Strafgerichtshof mit der Verlängerung friedenserhaltender Einsätze auf dem Balkan). Schließlich lassen sich die Demonstrationen gegen den Irak-Krieg als Geburtsstunde einer europäischen Öffentlichkeit lesen,
Vor dem Hintergrund der europäischen Schwäche und Gespaltenheit angesichts der amerikanischen Herausforderung werden die Motive, die Gerhard Schröder dazu bewogen haben, die Einladung seines belgischen Amtskollegen zu dem Vierergipfel anzunehmen, nachvollziehbarer. Sicherlich ist die Entscheidung auch aus der Dynamik heraus gefallen, die mit der Instrumentalisierung des Irak-Themas im Wahlkampf ihren Anfang genommen hatte. Wahrscheinlich geht es darüber hinaus um den Aufbau von Rückfallpositionen, die, so die Hoffnung, die eigene Verhandlungsmacht gegenüber den USA und innerhalb Europas stärken und helfen sollen, den Kotau gegenüber Washington zu vermeiden.
Als europapolitische Strategie birgt der Weg über den Vierergipfel aber unkalkulierbare Risiken. Auch in diesem Kontext zählt die Symbolik mehr als die Substanz. Und für die "Atlantiker" innerhalb der EU musste der Gipfel aufgrund des Termins und der Teilnehmer als Gipfel der Verlierer erscheinen. Hinzu kommt, dass eine deutsch-französische Führungsrolle - ob als geschlossener Kern oder als Pioniergruppe für eine wachsende Zahl europäischer Partner - nach der Irak-Krise noch weniger attraktiv anmutet als vorher. Trotz aller atlantischen Rhetorik, in welche die Gipfelbeschlüsse eingepasst wurden, bleibt als Fazit, dass dieser Gipfel Europa eher spalten als voranbringen wird. Was bleibt, ist die Hoffnung, dass aus der Praxis der Kooperation und dem Wissen um die gegenseitige Abhängigkeit europäische Gemeinsamkeit und Identität wachsen.