Einleitung
Der Irak-Krieg hat die westliche Allianz in eine tiefe Krise gestürzt. Dabei geht es auch um Fragen der internationalen Ordnung. Wenn man die entsprechenden Beiträge in Europa verfolgt, so gewinnt man den Eindruck, es gehe darum, zwischen multilateraler Ordnung und Hegemonie zu wählen. Multilaterale Ordnung, das sei das, was die Europäer wollten: die Vorherrschaft des Rechts und die Anerkennung des Primats der Vereinten Nationen. Hegemonie sei das, was die USA unter der gegenwärtigen Bush-Administration verfolgten, eine Art institutionalisierte Form der amerikanischen Vorherrschaft. Nach Ernst-Otto Czempiel sind es nur die Europäer, die ein Interesse an Ordnungsbildung hätten. Den USA ginge es um Weltherrschaft, aber nicht um Ordnung, bestenfalls um die gewaltsame Aufoktroyierung einer amerikanischen Ordnung, die keine internationale Ordnung sei.
Die Behauptung dieses Gegensatzes zwischen den Ordnungsmächten Europas (unterstützt von den Ordnungsmächten Russland und China) auf der einen Seite und den die internationale Ordnung durch ihre Machtpolitik herausfordernden USA auf der anderen Seite ist politisch griffig. Allerdings lässt sich die Realität nicht in dieses einfache Erklärungsschema pressen. Die Behauptung einer Machtanmaßung kommt schnell über die Lippen, aber jeder, der die USA kennt und die dortige Politik verfolgt, weiß, dass derartige Fundamentalvorwürfe an der politischen Realität vorbeigehen. Es gibt vieles an der derzeitigen Bush-Administration zu kritisieren, aber die zurzeit in Deutschland erhobenen Fundamentalvorwürfe sind unberechtigt. Wenn man nicht die USA zum neuen Feindbild aufbauen will, dann sollte man differenzierter vorgehen und die Motivationen der USA und ihrer Verbündeten mit der nötigen Sorgfalt analysieren. Immerhin haben die US-Administration ebenso wie die britische Regierung aus Anlass der Irak-Krise recht schlüssig argumentiert, dass sie im Sinne der internationalen Ordnung der Kollektiven Sicherheit handeln.
Um dies beantworten zu können, muss man sich zuerst die Frage stellen, was unter dem Begriff internationale Ordnung zu verstehen ist. Dieser Begriff wird in der politischen Alltagssprache zumeist undifferenziert gebraucht. Zudem gibt es je nach theoretischer Positionierung unterschiedliche Vorstellungen davon, was das Wesen internationaler Ordnung ist. Diese unterschiedlichen Grundkonzepte werden zuerst dargestellt. Auf dieser Basis soll eine Verortung der unterschiedlichen politischen Ordnungsvorstellungen der USA einerseits und des so genannten "alten Europa" andererseits versucht werden.
I. Der Gegenstand: internationale Ordnungsbildung
Ordnungsbildung ist seit dem 17. Jahrhundert - das heißt seit der Herausbildung des europäischen Staatensystems - ein zentraler Aspekt der internationalen Politik in Europa bzw. der westlichen Welt. Das Ziel von Ordnungspolitik war die Verhinderung des Krieges oder die Bewahrung des Friedens (einschließlich der Kontrolle von kleinen Konflikten) unter den großen Mächten. Die Existenz oder Nicht-Existenz funktionierender internationaler Ordnung - so lässt sich mit Blick auf die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte sagen - war immer ein wichtiger Bestimmungsfaktor dafür, ob es Krieg oder Frieden gab. Die Phase des langen Friedens des 19. Jahrhunderts wird in der Geschichtswissenschaft mit dem Funktionieren einer internationalen Ordnung ebenso in Zusammenhang gebracht, wie umgekehrt das Scheitern ordnungspolitischer Bemühungen in den zwanziger und dreißiger Jahren als ein wesentlicher Grund für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs angesehen wird.
Was die Beschäftigung mit internationaler Ordnung erschwert, ist die Tatsache, dass in der politischen wie der theoretischen Debatte unterschiedliche Vorstellungen davon bestehen, was man darunter verstehen soll und was tatsächlich dazu beiträgt, dass durch Ordnung Krieg vermieden und Frieden gesichert werden kann. Es lassen sich entlang der bekannten theoretischen Denkschulen mindestens vier unterschiedliche Definitionen ausmachen:
- eine der Theorie des strukturellen Realismus zugehörige Definition, der zufolge internationale Ordnung gleichzusetzen ist mit einem internationalen System, welches sich aus dem Prozess der Herausbildung von Macht und Gegenmacht entwickelt. Für Autoren wie Kenneth Waltz ist zur Erklärung der internationalen Politik primär die Logik von Macht und Gegenmacht entscheidend. Ordnung wird mechanistisch mit dem Vorliegen einer Machtbalance gleichgesetzt. Erst wenn sich Mächte gegenseitig balancieren, gibt es so etwas wie Ordnung, entweder im Rahmen eines multipolaren Systems, eines bipolaren oder aber auch im Rahmen eines unipolaren Systems, bei dem sich der Hegemon wie weiland Gulliver bei den Liliputanern freiwillig Fesseln anlegen lässt (benign hegemon) oder wo der Hegemon sich unilateral durchsetzt.
- eine historisch-soziologische, auf normative Kategorien zurückgreifende Definition, die auch der realistischen Denkweise zugeordnet werden muss. Internationale Ordnung reflektiert hier den Willen, bei Anerkennung aller Unterschiedlichkeit der Interessen und unter Bedingungen prinzipieller Anarchie zumindest zu einem Modus Vivendi und zur Vereinbarung gewisser Spielregeln zu kommen. Die traditionelle Variante begnügt sich damit, internationale Ordnung mit den allgemeinen Prinzipien der Staatenordnung des Westfälischen Friedens (Anerkennung des Prinzips der Souveränität der Staaten, Anerkennung der Immunität von Diplomaten etc.) gleichzusetzen.
- eine institutionalistische Definition, der zufolge eine Ordnung daraus erwächst, dass Staaten das Völkerrecht beachten und wesentliche Bereiche ihrer Souveränität zugunsten eines internationalen Normen- und Institutionengefüges aufgeben. Eine derartige Ordnung ist in der Charta der Vereinten Nationen angelegt, insbesondere im System der kollektiven Sicherheit, in dem der Sicherheitsrat die zentrale Rolle bei der Sicherung des internationalen Friedens spielt.
- eine liberale Ordnungsperspektive, wonach die Ausbreitung von Demokratie, Menschenrechten, Freihandel und gesellschaftlicher Entwicklung sowie die Förderung von zwischenstaatlicher Kooperation die wichtigsten Bausteine für eine friedliche internationale Ordnung seien. Vertreter der liberalen Denkschule der internationalen Beziehungen gehen davon aus, dass es so etwas wie einen zivilisatorischen Fortschritt in der Menschheitsgeschichte und somit auch in der internationalen Politik geben kann, der die Perspektive eines "Endes der Geschichte" eröffnet.
Es mag erstaunlich klingen, dass in dieser Aufzählung institutionalistische und liberale Ordnungsvorstellungen getrennt voneinander aufgeführt werden. In der Regel wird in der theoretischen Diskussion vom "(neo)liberalen Institutionalismus" gesprochen, was bereits impliziere, dass beide aufs Engste zusammengehören.
Die historische Realität internationaler Ordnungsbildung war immer sehr viel komplexer, als die theoretische Debatte vermuten lässt. Tatsächlich haben sich im Erfolgsfall häufig Elemente unterschiedlicher Theorien gemischt. Dies galt zum Beispiel für die Zeit des Ost-West-Konfliktes, in der sich auf globaler Ebene eine machtpolitische Ordnungsstruktur im Sinne realistischer Konzepte herausgebildet hatte, während innerhalb der westlichen Welt ein anderes internationales Ordnungs- und Strukturmuster entstand, welches primär liberalen und institutionalistischen Konzepten entsprach. Die wichtigste Erfolgsbedingung dieser Neuordnung der westlichen Welt war jedoch die Tatsache, dass die USA als wohlwollender Hegemon dahinter standen. Letztlich war es also eine Kombination aus liberalen, institutionalistischen und realistischen Elementen, die für eine erfolgreiche Ordnung sorgte.
II. Die Neuordnung seit dem Ende des Kalten Krieges
Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts ist die Weltpolitik in eine Übergangsphase eingetreten, die bislang zu keiner neuen, wie auch immer gearteten "Ordnung" geführt hat, die mit gleicher Deutlichkeit beschrieben werden kann, wie die des Ost-West-Konflikts. Aber es zeichnen sich Konturen ab:
- Erstens ist die Konsolidierung und Ausbreitung einer nach weitgehend liberalen Konzepten strukturierten atlantisch-pazifischen Ordnungszone festzustellen. Man spricht heute von einer Zone des Friedens und der Kooperation in der westlichen Welt, die den Kernbereich einer liberalen internationalen Ordnung darstellt.
- Zweitens ist festzuhalten, dass die in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegte institutionalistische Ordnung der Kollektiven Sicherheit, die während des Kalten Krieges totgesagt war, zunehmend Anerkennung als Modell der Wahrung internationaler Sicherheit findet. Allerdings ist die faktische Bilanz dieser Ordnung ein Dutzend Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges alles andere als überzeugend, was zur grundlegenden Infragestellung dieser Ordnung durch die Bush-Administration geführt hat.
- Ein zunehmend wichtigerer Faktor ist drittens, was gemeinhin als "Globalisierung" bezeichnet wird. Damit ist im Kern gemeint, dass die Zunahme des internationalen Handels, das enorme Wachstum der internationalen Arbeitsteilung in den Bereichen Produktion und Dienstleistungen und die Expansion der internationalen Finanzmärkte eine derartige Dynamik geschaffen haben, dass dadurch die klassischen Grenzen von Nationalstaaten relativiert werden.
Jede Debatte über internationale Ordnung sollte von diesen Voraussetzungen ausgehen und vermeiden, die Fragen der Ordnungspolitik lediglich durch die derzeit vorherrschende Auseinandersetzung mit dem Unilateralismus der US-Administration bestimmen zu lassen.
III. Unterschiede zwischen den USA und Europa?
Gibt es grundsätzliche Unterschiede zwischen den USA und den meisten Staaten Europas in der Frage der ordnungspolitischen Orientierung? Viele in Deutschland bejahen diese Frage und behaupten, dass die US-Politik (nicht erst unter George Bush jr.) durch ein Ordnungskonzept angeleitet worden sei, welches sich an John Mearsheimers progressivem Realismus orientiere, während die Europäer eine kooperative Ordnungsvorstellung hätten, die dem diametral entgegenstehe. Die USA hätten aufgehört, sich als wohlmeinender Hegemon zu verstehen, und verfolgten nunmehr eine nackte Machtpolitik. Dies müsse zum Scheitern führen. Die Europäer hingegen ließen sich in ihrer Mehrheit von einem ordnungspolitischen Konzept leiten, welches liberale und institutionalistische Elemente mische. Es sei auf die Vorherrschaft von Recht, auf multilateralen Dialog und Weltinnenpolitik aufgebaut und bemühe sich darum, Probleme vor allem friedlich und im Konsens aller zu lösen.
Wie realistisch ist dieses Argument? Der in Chicago lehrende Politikwissenschaftler John J. Mearsheimer ist heute einer der markantesten Vertreter der strukturalistisch-realistischen Schule. Er vertritt die These, dass nur ein starker und andere dominierender Staat wirklich sicher sein kann. Nur wer wie die USA Hegemonie besitzt, kann sicher sein, dass ihn keiner attackiert. Er schließt zwar die Möglichkeit aus, dass ein Staat die gesamte Welt beherrschen kann, interpretiert aber die US-Außenpolitik (schon vor Bush) als den Versuch, regionale Hegemonie zu erhalten bzw. zu bewahren und mögliche Konkurrenten (peer competitors) von vornherein daran zu hindern, zu ernsthaften Rivalen zu werden.
Sucht man nach Stichwortgebern und intellektuellen Vorkämpfern der Bush-Administration in der Außenpolitik, sollte man eher an die Neokonservativen denken. Diese Gruppe von Intellektuellen hat in den vergangenen 15 Jahren einen zunehmenden Einfluss auf die Politik der Republikaner erst im Kongress und nun auch im Weißen Haus bekommen. Ihnen wird von vielen Beobachtern vorgeworfen, die wesentlichen Elemente der liberal-institutionalistischen Ordnung beiseite geschoben und die Bush-Administration auf eine Politik des Unilateralismus eingeschworen zu haben.
Die aus dieser Verdrängungshaltung resultierenden analytischen Schwächen werden deutlich, setzt man sich mit Originaltexten namhafter Neokonservativer auseinander. Von "progressivem Realismus" im Sinne Mearsheimers oder von religiös-fundamentalistischen Vorstellungen ist da gar nicht die Rede, vielmehr von internationalen ordnungspolitischen Vorstellungen, die Elemente von Realismus und Liberalismus mischen. Lawrence F. Kaplan und William Kristol, zwei der führenden Neokonservativen, haben in ihrem Buch "The War over Iraq" eine weltpolitische Vision formuliert, die völlig anders ist als die des progressiven Realismus: Sie schreiben, dass es darum gehe festzulegen, "what sort of world Americans intend to inhabit - a world of civilized norms that is congenial to America, or a world where dictators feel no constraints about developing weapons of mass destruction at home and no compunction about committing aggression and supporting terrorism abroad"
Differenzierte Analysen des Denkens der Neokonservativen lassen denn auch erkennen, wo die Besonderheiten und Unterschiede zu anderen konservativen oder sonstigen Denkrichtungen liegen. In der Regel ist es die Rigorosität, mit der die Ausrichtung der amerikanischen Außenpolitik an universellen Werten (Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit) gefordert wird sowie die Ablehnung "fauler Kompromisse", sei es aufgrund innenpolitischer Umstände oder aufgrund diplomatischer Notwendigkeiten.
Im Wesentlichen läuft neokonservatives Denken darauf hinaus, die bestehende liberale Ordnung der westlichen Welt gegen neue Herausforderungen zu verteidigen, die diese Ordnung umfassende Zone im Rahmen einer konsequenten Politik (gegebenenfalls auch unter Einsatz militärischer Gewalt) zu erweitern und damit den Wünschen der Menschen weltweit zu entsprechen. Das ist im Grunde ein radikales liberales (dem neoliberalen Denken in der Wirtschaft vergleichbares) Denken, welches nicht als militanter Unilateralismus oder als Anleitung zur amerikanischen Weltherrschaft bezeichnet werden kann und wenig mit Mearsheimers Realismus gemein hat. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, wenn es große Überschneidungen mit den Ideen führender liberaler Autoren wie Francis Fukuyama oder Michael Mandelbaum gibt. Was den Unterschied zu diesen ausmacht, ist die Rigorosität, die Radikalität und die Bereitschaft zum Alleingang für den Fall, dass Alliierte nicht mitziehen oder internationale Institutionen sich als unfähig erweisen. Es ist wahr, die Neokonservativen sind die Apologeten des einseitigen Vorgehens der USA sowohl in der Irak-Politik wie in anderen Feldern, aber nicht um der Vorherrschaft der USA willen, sondern weil sie für eine bessere und gerechtere Welt im Sinne einer (klassischen) liberalen Ordnungsvorstellung eintreten und faule Kompromisse fürchten.
Analysiert man die Weltpolitik der heutigen Bush-Administration, so ist diese tatsächlich in starkem Maße vom neokonservativen Denken bestimmt. Die Nationale Sicherheitsstrategie vom September 2002 ist ein typisches Dokument, in dem liberales und realistisches ordnungspolitisches Denken vereint sind.
Dass die Neokonservativen mit ihren Thesen so viel Einfluss haben, liegt u.a. auch daran, dass es in den USA seit einiger Zeit eine Renaissance liberaler ordnungspolitischer Ideen im Bereich der internationalen Beziehungen gibt, wie sie von Francis Fukuyama, Richard Rosecrance oder Michael Mandelbaum und einer Reihe von wirtschaftswissenschaftlichen Autoren repräsentiert werden.
Dieser Liberalismus muss als pragmatisch bezeichnet werden. Im Gegensatz zum universalistischen Liberalismus setzt sich pragmatischer Liberalismus nicht der Gefahr aus, als unrealistisch und idealistisch abqualifiziert zu werden. Es gibt eine Zone, in der die liberale Ordnung funktioniert und es gibt darüber hinaus eine Zone, in der die harten Gesetze des Realismus gelten. Die liberale Zone zu verteidigen und auszuweiten sei Politik der USA, daran mitzuwirken sind die Alliierten gerne eingeladen. Wenn sie dazu nicht bereit sind, sollten die USA versuchen, diese Gelegenheiten zur Schaffung einer liberalen Weltordnung alleine oder in Zusammenarbeit mit "Koalitionen der Willigen" zu nutzen.
Wie sieht es mit den entsprechenden ordnungspolitischen Vorstellungen der Europäer, insbesondere der "alten" Europäer aus? Im Gegensatz zu den USA hat es weder in Deutschland noch in Frankreich in den vergangenen 15 Jahren eine nennenswerte ordnungspolitische Diskussion gegeben. Allerdings haben die Debatten über die Vertiefung der EU und über deren Osterweiterung erkennen lassen, dass bei den meisten Europäern liberale Ordnungsvorstellungen vorherrschen. Die Kopenhagener Kriterien der EU für die Erweiterung (1993) reflektieren ebenso wie weitere Dokumente des Rates der Europäischen Union ein liberales internationales Ordnungsverständnis gemischt mit institutionalistischen Elementen.
Allerdings gibt es innerhalb Europas große Unterschiede in der Ernsthaftigkeit, mit der liberale Ideen verfolgt werden. Die Unterschiede verlaufen nicht zwischen "altem" und "neuem" Europa, sondern mitten durch das "alte" Europa, insbesondere zwischen Deutschland und Frankreich. Während für die deutsche Außenpolitik eine klare Präferenz für eine liberale internationale Ordnung in Kombination mit einer institutionalistischen Ordnung erkennbar ist, sieht die Lage mit Blick auf Frankreich anders aus. Die außenpolitische Führungselite Frankreichs lebt in einer Welt, die durch die Gedanken des politischen Realismus geprägt ist und in der liberale und institutionalistische Ordnungsvorstellungen keine große Rolle spielen. In der Hauptsache geht es darum, die Größe Frankreichs zu wahren sowie ein Gegengewicht zu den USA herzustellen.
Wo liegen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem liberalen Ansatz der US-Strategie und dem der Bundesrepublik Deutschland? Wenn der Grundansatz der deutschen Politik auch einem liberalen Muster folgt, müsste doch eigentlich kein Anlass zum Streit bestehen. Tatsächlich lassen sich die folgenden Unterschiede ausmachen:
- Der in der deutschen Politik (besonders bei den Grünen, der SPD sowie der FDP) vorherrschende außenpolitische Liberalismus ist eher ein universalistischer denn ein pragmatischer. Das bedeutet, dass jener pragmatische Umgang mit Fragen der Machtpolitik, der den Neokonservativen eigen ist, hierzulande auf Unverständnis stößt. Hier wird die direkte und kompromisslose Umsetzung liberaler Prinzipien angesteuert. Damit ist Deutschland relativ gut gefahren im Umgang mit der Bewältigung des Kalten Krieges und mit der Einbeziehung der osteuropäischen Staaten in die EU. Dieser Ansatz erwies sich jedoch als wirkungslos im Umgang mit wirklichen sicherheitspolitischen Herausforderungen wie Irak, Nordkorea oder Serbien unter Milosevic.
- Vergleichbares gilt für den Institutionalismus der deutschen Politik. Für alle politischen Kräfte in den USA ist klar, dass das System der kollektiven Sicherheit der UN-Charta kein pazifistisches System ist, sondern eines, welches den Frieden wahren soll, indem es u.a. Friedensstörer identifiziert und auch bekämpft. Von daher war die Politik der Bush-Administration in der Irak-Frage logisch, und der Widerstand von Seiten Frankreichs und Deutschlands gegen diese Politik im UN-Sicherheitsrat traf entsprechend auf Unverständnis. Diese Sichtweise der UN-Charta wird in der deutschen Debatte weitgehend verdrängt, hier herrscht eher eine formal-juristische Sichtweise vor, die der Wahrung staatlicher Souveränität Vorrang vor den substanziellen Zielen der Charta gibt.
- In der Bundesrepublik Deutschland ist das Bewusstsein für die Dringlichkeit von sicherheitspolitischen Problemen wie Terrorismus, regionale Sicherheit im Mittleren Osten und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen nicht stark ausgeprägt, hingegen ist das Bewusstsein für die Notwendigkeit der Lösung planetarischer Probleme (Klima, Umweltschutz etc.) bei weitem größer. Hier werden multilaterale Verhandlungsforen bevorzugt, in denen alle Akteure - auch nichtdemokratische Staaten - zu Wort kommen sollen. Die USA sind prinzipiell auch an derartigen Lösungen globaler Probleme interessiert, allerdings wird deren Dringlichkeit als nicht so gravierend gesehen wie in Deutschland, zudem werden multilaterale Verhandlungsforen mit zunehmender Skepsis betrachtet. Während ein pragmatisch liberales Denken Multilateralismus weitgehend unter dem Aspekt sieht, welche substanziellen Fortschritte dabei erzielt werden können, kommt es dem in Deutschland vorherrschenden institutionalistischen Denken eher darauf an, dass der Prozess läuft.
IV. Fazit
Resümierend kann festgestellt werden, dass es keinesfalls grundsätzliche transatlantische Differenzen über die internationale Ordnung gibt. Tatsächlich besteht gerade zwischen den USA und Staaten wie Deutschland, den Niederlanden oder auch Großbritannien ein relativ breiter Konsens über die Notwendigkeit einer prinzipiell liberalen Ordnung. Die einzige Ausnahme stellt Frankreich dar, welches Fragen der internationalen Ordnung primär unter dem Gesichtspunkt der Machtbalance sieht (und da gilt es gegen die USA zu balancieren) und liberale sowie institutionalistische Ordnungskonzepte bestenfalls instrumentalisiert.
Die Unterschiede zwischen den USA und den meisten Europäern bestehen darin, dass auf der europäischen Seite liberale und institutionalistische Ordnungskonzepte in universalistischer Reinform vorherrschen, während in den USA ein eher pragmatischer Umgang mit diesen Konzepten an Raum gewinnt. Diese Auseinanderentwicklung ist nicht ohne Risiko. Die Gefahr auf Seiten der Europäer besteht darin, dass die universalistische Anwendung von Liberalismus und Institutionalismus zu Realitätsverlust und zum Verlust an moralischer Substanz führt, vergleichbar dem "Idealismus" der dreißiger Jahre. Die damalige Kritik an dem in Politik und Wissenschaft vorherrschenden liberalen Institutionalismus zielte auf zwei Punkte: Zum einen wurde die Gewissheit kritisiert, wonach eine Harmonisierung von Interessen herstellbar sei, sofern man nur lange genug miteinander verhandele und sofern man sich an die Spielregeln des Völkerbundes halte. Dies führe, so die damaligen "Realisten", zu gefährlichen Fehlperzeptionen, besonders - aber nicht nur - wenn man es mit Diktaturen zu tun habe.
Die Gefahr in den USA besteht darin, dass der pragmatische Liberalismus zu einem imperialen Liberalismus wird. In den USA sind durch liberale und neokonservative Denker klare Konsequenzen aus der Vergangenheit gezogen worden; daraus ist eine sinnvolle Synthese zwischen liberalen und realistischen Vorstellungen entstanden. Je weniger die Europäer Verständnis hierfür aufbringen und an universalistischen (und utopischen) Vorstellungen von Liberalismus und Institutionalismus festhalten, umso mehr wird dies den unilateralen Trend in den USA stärken. Dies findet seinen Niederschlag in einer Belebung der Diskussion um "imperialen Liberalismus", die derzeit noch auf neokonservative Kreise beschränkt bleibt.
Von daher ist der politische wie wissenschaftliche Dialog über den Atlantik hinweg wichtig, um zur Klärung dieser Fragen beizutragen. Zur Zeit kann man anhand der Debatte über die Zulässigkeit von Interventionen ablesen, wo die Differenzen liegen. Die Intervention der USA im Irak bewegt sich in einem Grenzbereich dessen, was völkerrechtlich bislang als zulässig erachtet wurde, und hat aufgrund der mangelhaften Konsultationspolitik der Bush-Administration vor der entsprechenden Entscheidung zu den bekannten negativen Reaktionen in Europa geführt. Anstatt die Debatte konstruktiv zu führen, haben die meisten Vertreter des "alten Europas" die typischen Fehler der "Idealisten" der dreißiger Jahre wiederholt und sowohl Realitätsverlust als auch einen Verlust an moralischer Substanz erkennen lassen. Der Realitätsverlust äußerte sich in einer Politik, welche die Bush-Administration und nicht Saddam Hussein als Hauptproblem identifizierte, der Verlust moralischer Standards wurde offenkundig im Bestehen auf den formalrechtlichen Bestimmungen der UN-Charter und dem Hintanstellen von deren substanziellen Bestimmungen. Nichts dokumentiert den dabei stattfindenden Verlust freiheitlicher und menschenrechtlicher Substanz mehr als die von Intellektuellen und Politikern der rot-grünen Koalition in den vergangenen Monaten geäußerte Behauptung, wonach diese Intervention das Recht des Stärkeren vor der Stärke des Rechts etabliere. Die Bürger im Irak, die jahrzehntelang das Recht des Stärkeren am eigenen Leibe erlebt haben, wissen vermutlich genauer einzuschätzen, wer das Recht gebrochen und wer es wiederhergestellt hat.
Die transatlantische Debatte über diese wie andere ordnungspolitische Fragen sollte dringend geführt werden. Sie ergibt aber nur dann Sinn, wenn auf deutscher und europäischer Seite das trotzige Beharren auf meist formalen völkerrechtlichen Bestimmungen aufhört und ein offener und konstruktiver Dialog mit den USA geführt wird. Auf amerikanischer Seite ist es notwendig, weniger Ungeduld und mehr Bereitschaft zu Konsultationen zu zeigen. Zudem ist es wichtig, dass sich die USA aus der übermäßigen Fixierung der von ihnen für zentral erachteten sicherheitspolitischen Probleme (Nichtverbreitung, Problemstaaten) lö-sen und sich auch für konstruktive und pragmatische Lösungen in jenen Politikfeldern interessieren, die den Europäern näher liegen (wie die globalen Probleme). Die Voraussetzungen dafür sind gegeben. Der transatlantische Dialog über Fragen der internationalen Ordnung ist der wichtigste Beitrag zur internationalen Friedenssicherung in den kommenden Jahrzehnten. Er ist wichtiger als Debatten darüber, wie die USA am besten einzuhegen und einzudämmen sind. Eine internationale Ordnung, die an liberalen und institutionalistischen Zielen orientiert sein soll, wird nicht ohne die USA zu bewerkstelligen sein und kann ganz gewiss nicht gegen die USA durchgesetzt werden.