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Die neue Unsicherheit nach dem Irak-Krieg | Sicherheitspolitik | bpb.de

Sicherheitspolitik Editorial Die neue Unsicherheit nach dem Irak-Krieg Multilaterale Ordnung oder Hegemonie? Unilateralismus der USA als Problem der internationalen Politik Arroganz der Macht, Arroganz der Ohnmacht Europäische Kollateralschäden

Die neue Unsicherheit nach dem Irak-Krieg

Jochen Thies

/ 9 Minuten zu lesen

Den Krieg gegen den Irak hat US-Präsident Bush für beendet erklärt. Die deutsche Außenpolitik muss jetzt alles daran setzen, angesichts anhaltender Probleme mit den USA in eine europäische Mittellage zwischen Frankreich und Großbritannien zurückzukehren.

I. Abschnitt

Deutschland und Europa haben sich in der Folge des 11. September 2001 in zwei Schritten für ein folgenreiches militärisches Engagement in der Weltpolitik entschieden. Zunächst fiel der Beschluss, dem NATO-Partner USA nach den Anschlägen von New York und Washington sichtbar beizustehen. Erstmalig in der Geschichte der NATO wurde der Bündnisfall festgestellt. Drei Monate später kam es zum Einsatz der Europäer in Afghanistan. Danach setzte sich die Drift zwischen Amerika und Europa, die mit dem Ende des Kalten Krieges eingesetzt hatte, sichtbar fort. Frankreich und Deutschland gingen im Zusammenspiel mit Russland am Vorabend des Irak-Kriegs auf deutliche Distanz zu den USA.


Präsident Putin hat mittlerweile die "Wende" wieder geschafft. Das sich nach wie vor als große Macht begreifende Land verfolgt eine eigene Politik. Dagegen ist als offen anzusehen, ob sich die tief greifenden Meinungsverschiedenheiten zwischen Teilen Westeuropas und Amerikas fortsetzen, gegebenenfalls vertiefen, oder ob es zu einer Wiederannäherung und damit zu einer Normalisierung der Beziehungen kommt. Darüber werden auch die nächsten Wahlen in den Vereinigten Staaten und in der Bundesrepublik Deutschland entscheiden. In beiden Ländern setzt man zurzeit erkennbar auf einen Wechsel der Regierungen, auf neue Gesichter und neue Politikinhalte. Ob sich damit die tiefer liegenden Probleme zwischen Europa und den USA beheben lassen, scheint jedoch äußerst zweifelhaft. Die ökonomischen und kulturellen Ursachen der Entfremdung werden zur Zeit noch tabuisiert bzw. gar nicht diskutiert. Selbst die außen- und sicherheitspolitischen Experten verdrängen, dass das halbe Jahrhundert einer europäisch-amerikanischen Sonderbeziehung unweigerlich an sein Ende gekommen ist.

Dies wurde auf dramatische Weise deutlich, als es den Amerikanern in einem Entscheidungsjahr für die politische Union der Europäer gelang, in der Irak-Frage einen Keil zwischen die Europäer zu treiben. Großbritannien, das sich nach wie vor in einem Sonderverhältnis zu den USA wähnt, schloss sich ebenso den Amerikanern an wie Spanien, Portugal, Italien und die Niederlande. Teile des Commonwealth, allen voran Australien, engagierten sich wie beim Vietnam-Krieg ebenfalls an der Seite der USA. Von den EU-Beitrittsländern entschied sich Polen gegen die deutsch-französische Position und optierte für Washington. Es vergaß nicht nur den Beitrag, den die Bundesrepublik für die Rückkehr Polens nach Europa geleistet hat, sondern modernisierte auch seine Luftwaffe mit EU-Geldern in den USA. Andere osteuropäische Länder folgten dem Beispiel Warschaus. In einem historischen Augenblick, als die 200-jährige Spaltung Europas vorbei schien, teilte sich der Kontinent erneut in Nationalstaaten auf, die in einer Frage von Krieg und Frieden sich im Alleingang entschieden.

Das Engagement der Europäischen Union im Kongo ist somit als eine direkte Auswirkung der Kontroversen um den Irak anzusehen. Mehrere Intentionen und Handlungsstränge werden dabei sichtbar. Treibende Kraft ist ohne jeden Zweifel Frankreich, das sich in Nord- und Zentralafrika immer als Hegemon gesehen hat, ehe in den neunziger Jahren eine klare Tendenz zum Disengagement einsetzte. Unter Präsident Jacques Chirac ist Frankreich jedoch zu seiner alten Afrika-Politik zurückgekehrt. Das Land kann mit Amerika auf gleicher Augenhöhe verkehren. Es tut etwas im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Folglich kommt es zwischen Frankreich und den USA zu einer Art von Aufgabenteilung. Washington kann sich dem Nahen und Mittleren Osten sowie der asiatischen Gegenküste zuwenden. Darüber hinaus hat diese unter dem Dach der Europäischen Union betriebene Politik den Vorteil, auch als eine Politik der Selbstbehauptung der Europäer angesehen zu werden. Sie eröffnet Paris die Chance, bislang fehlende EU-Ressourcen für diese kostspielige Interventionspolitik anzapfen zu können. Innenpolitisch ist sie leicht vermittelbar, weil Frankreich sich über 100 Jahre lang in Afrika als Kolonialmacht engagiert hat und es einen zahlenmäßig großen Austausch von Menschen zwischen beiden Kontinenten gibt. Darüber hinaus wird bei den gefährlichsten Aktionen die Fremdenlegion eingesetzt, eine multinationale Truppe mit einem geringen Anteil von Franzosen, die zudem die höheren Positionen im Offizierskorps bekleiden.

Deutschland kann vergleichsweise wenig von dieser neuen Politik der EU profitieren. Fast jeder Pluspunkt zugunsten Frankreichs wirkt sich als Risiko für Deutschland aus. Die kurze koloniale Phase des Landes zwischen 1884 und 1914 ist im kollektiven Bewusstsein der Deutschen nicht verankert. Trotz des entwicklungspolitischen Engagements seit den sechziger Jahren ist Afrika weit von Deutschland entfernt, weiter jedenfalls als für die meisten anderen Westeuropäer, deren Kolonialreiche bis 1945 existierten, im Falle von Frankreich, Großbritannien oder Belgien sogar bis in die frühen sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts - mit Folgen bis zum heutigen Tag. Anders als Frankreich gehört Deutschland nicht zu den EU-Mittelmeeranrainern, die mit großer Sorge die demographische Entwicklung an der Gegenküste und die politische Instabilität verfolgen. Von daher lässt sich ein deutsches militärisches Engagement in Afrika politisch nur schwer begründen.

Während die meisten europäischen Länder mittlerweile die Wehrpflicht abgeschafft haben, hält Deutschland an der (Fiktion einer) Wehrpflichtigenarmee fest. Aufgrund der jüngeren deutschen Geschichte und der speziellen bundesrepublikanischen Verfassungslage mit Parlamentsvorbehalt wird damit jeder Militäreinsatz außerhalb der Grenzen zum Risiko für die amtierende Regierung. Deutsche Interessen stehen im Kongo nicht auf dem Spiel. Im Gegenteil, es könnte in Berlin damit argumentiert werden, dass Deutschland das Glück hatte, anders als die europäischen Kolonialmächte hier nicht in Vorgänge nach dem Zweiten Weltkrieg verwickelt gewesen zu sein, die London oder Paris zu einem anderen Verhalten in der Gegenwart zwingen.

Im ersten Jahrzehnt des weltpolitischen Engagements der Bundesrepublik Deutschland in Verbindung mit UN-Operationen waren Soldaten nur bei Unglücksfällen ums Leben gekommen, wie sie sich auch daheim hätten ereignen können. Dieses Bild könnte sich nun ändern. Ähnlich wie in Somalia vor einem knappen Jahrzehnt befinden sich deutsche Soldaten in Afghanistan und in Afrika in der konkreten Gefahr, Opfer von Anschlägen zu werden. Sollte sich diese Entwicklung fortsetzen, wird sich schon bald die Frage stellen, wie lange die europäischen Zivilgesellschaften eine derartige Belastung aushalten. Vielleicht erweisen sich archaische Gesellschaften der Dritten Welt am Ende als die stärkeren. Ebenso könnten sich Modelle für die Stabilisierung von Staaten oder für Staatenneugründungen als unrealistisch erweisen, weil sie nicht mehr in die Welt nach dem 11. September 2001 passen.

Wie immer dieses Ringen zwischen Erster und Dritter Welt am Ende auch ausgehen mag, sicherlich müssen die Westeuropäer eines sofort tun: Sie müssen ihre Soldaten optimal ausstatten. Es kann nicht sein, dass schon der Flug ins Einsatzgebiet zum Risiko wird, weil die Flugzeuge und Hubschrauber zu betagt sind. Ein Fanal für alle Europäer war in diesem Zusammenhang der Absturz eines Flugzeuges im Juni 2003 in der Türkei, das aus der Konkursmasse der Sowjetunion stammte und unter ukrainischer Flagge für harte US-Dollars spanische NATO-Soldaten beförderte. Wenn die NATO, wenn die Westeuropäer Weltpolitik betreiben wollen, fängt dies bei modernen Transportmitteln an. Die Etats für militärische Hardware müssen daher binnen kürzester Zeit deutlich aufgestockt werden. Warum werden moderne Transportflugzeuge erst in frühestens fünf Jahren an die europäischen Armeen ausgeliefert? Mindestens ein Teil der europäischen Truppen muss kompatibel mit den modernen Divisionen der USA gehalten werden. Der Irak-Krieg hat gezeigt, was die Amerikaner für die Modernisierung ihrer Streitkräfte seit dem letzten Golfkrieg getan haben. Mit drei Divisionen, unterstützt von einer britischen Kampfeinheit, wurde der Irak von Süden nach Norden aufgerollt. Nur die Panzer, gepanzerten Fahrzeuge und Lastkraftwagen entsprachen noch dem Standard der europäischen NATO-Partner. Alles andere, vor allem Schiffe, Flugzeuge und Hubschrauber, Kommunikationsmittel, Raketen und Zielerfassungsgeräte, befanden sich auf modernstem Niveau.

II. Abschnitt

Die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland, die infolge des Irak-Kriegs ins Schlepptau des französischen Partners geriet, muss sich rasch größere Spielräume erarbeiten, um in eine Mittellage zwischen Frankreich und Großbritannien zurückkehren zu können. Nur so kann unterbunden werden, dass die nicht zu vermeidende Diskussion mit den USA um die Zukunft der transatlantischen Beziehungen keinen konfrontativen Charakter annimmt. Selbst bei einem günstigen Verlauf des europäischen Einigungsprozesses ist nämlich davon auszugehen, dass sich die Staaten Europas in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik keinem Mehrheitsvotum unterwerfen werden. Die Krisen der letzten zwei Jahre haben darüber hinaus gezeigt, dass die Zeit der Nationalstaaten keinesfalls vorbei ist. Sie bilden die fassbare Größe für Gesellschaften, die sich in harten Modernisierungsprozessen befinden. Alle Anpassungsleistungen werden auf nationaler Ebene, mit unterschiedlicher Akzentsetzung, vollzogen, wie die Massenproteste der letzten Monate in Frankreich oder in Österreich zeigten. Regierungen werden weiterhin gewählt und abgewählt aufgrund ihrer nationalen Performance. Europäische Themen spielen, man mag es bedauern, nur eine marginale Rolle. Die Massenmedien haben stärker denn je eine nationale Ausrichtung. Es gibt keine europäischen Zeitungen und damit keine europäische öffentliche Meinung. Auf breiter Front gehen in Europa Sprachkenntnisse zurück.

Für die Sicherheitspolitik Deutschlands bedeutet die neue Lage, dass sich das Land im Großen und Ganzen an dem orientieren muss, was Frankreich und Großbritannien an Verteidigungsanstrengungen unternehmen. Das ist das Richtmaß. Nach Großbritannien hat nun auch Frankreich die Wehrpflicht abgeschafft und befindet sich im Umbruch zu einer Berufsarmee. Vermutlich wird die Debatte um das Ende der Wehrpflicht bald auch in Deutschland wieder zu führen sein. Eine immer weiter schrumpfende Truppe verfügt nicht über die Einheiten, die sich in großem Stil um Ausbildung kümmern können. Schon heute zwingen die Auslandseinsätze die militärische Führung dazu, alle Truppenteile nach verwendungsfähigen Soldaten zu durchkämmen. Dabei fällt auf, wie unbeweglich die Bundeswehr bei einer vergleichbaren Truppenstärke ist, wie sie Großbritannien und Frankreich haben. Von 310 000 Soldaten befinden sich etwa 10 000 in Auslandseinsätzen. Großbritannien ist in der Lage, die fünf- bis sechsfache Anzahl zu entsenden, wie sich zuletzt beim Irak-Krieg zeigte. Trotzdem ist das Land fast überall dort zusätzlich engagiert, wo auch die Bundeswehr steht. Der Nordirland-Konflikt, der viele Soldaten bindet, dauert bereits seit 30 Jahren an. Die Schlussfolgerung für die Bundeswehr kann daher nur lauten, die Truppe massiv umzubauen, beginnend mit der wasserkopfartigen Verwaltung, welche die britische oder französische Armee nicht hat.

Die Bundeswehr, die sich aufgrund der unsicheren allgemeinen Lage nun noch schneller von einer Wehrpflicht- zu einer Freiwilligenarmee entwickeln muss - die am Ende billiger ist -, braucht zunächst zusätzliche Mittel, um den Umbau schneller voranzutreiben. Die meisten Vorschläge, welche die Weizsäcker-Kommission erarbeitete, sind mittlerweile in der Praxis realisiert worden. Aber der Irak-Krieg hat gezeigt, dass man weiter gehen muss. Nahezu alle Experten sind sich einig, dass die Bundeswehr noch weniger gepanzerte Verbände benötigt als bislang angenommen, sondern leichte, schnell verlegbare Kampfeinheiten. Die Verteidigungsanstrengungen müssen sich verlagern in Richtung jener koordinierten Führung von Truppen am Boden und in der Luft, wie sie die Amerikaner im Irak demonstriert haben.

Wenn die Freiwilligenarmee kommt, heißt dies, dass die Truppenstärke nochmals leicht absinken kann, auf etwa 250000 - 260 000 Mann, von denen etwa 100 000 Mann Einsatzkräfte bilden. In Zeiten des internationalen Terrorismus sollte aber auch daran gedacht werden, Reserven für den Notfall zu besitzen, auch zur Abwehr von Gefahren im eigenen Lande.

In Deutschland ist in den neunziger Jahren viel zu lange um Prinzipien gestritten worden. Nicht die Politik ebnete am Ende den Weg zu Auslandseinsätzen, sondern das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Die erbitterten Auseinandersetzungen um formale Gesichtspunkte haben zur Folge gehabt, dass eine Debatte um die neue deutsche Sicherheitspolitik, um deutsche Interessen und deutsche Beteiligung an UN-Einsätzen nie stattgefunden hat. Dabei haben die neunziger Jahre gelehrt, dass der Balkan zweifellos zur besonderen deutschen Interessensphäre gehört, dass Überseeeinsätze aber schon rasch die Frage nach einer Berechtigung eines militärischen Engagements der Bundesrepublik aufwerfen. Viel zu selten wird ins Feld geführt, dass Deutschland mit den Folgen der Wiedervereinigung noch immer intensiv beschäftigt ist, dass es ärmer geworden ist und trotzdem weiterhin den Löwenanteil am EU-Haushalt bestreitet. Einem innenpolitischen Reformstau steht eine europäische Überforderung des Landes gegenüber, die gerechter auf alle europäischen Schultern zu verteilen ist.

Die Zusammensetzung der Staatengemeinschaft zeigt, dass sehr wenigen Demokratien viele Halb- und Volldiktaturen gegenüberstehen, dass die politische Instabilität in vielen Teilen der Welt eher zu- als abnimmt. Europa steht somit im Begriff, sich bei seiner Friedens- und Interventionspolitik zu überfordern, ehe sie eigentlich begonnen hat. Ein Wirrwarr von Motiven führt momentan dazu, dass der Überblick bei den Engagements, welche die Bundesrepublik und ihre Partner während der letzten Jahre eingegangen sind, beinahe verloren geht. Es ist daher politisch geboten, diese letztlich hinsichtlich ihrer Tendenz wohl unausweichliche Politik vom Kopf auf die Füße zu stellen und in der Bundesrepublik zunächst eine Debatte darüber zu führen, was dieses Land tun kann, was es besser unterlassen und was es unter keinen Umständen anpacken sollte. Das deutsche Engagement in Afghanistan hat jedenfalls mit dazu beigetragen, dass die Bundesregierung beim Irak-Konflikt so zurückhaltend agiert hat. Zurzeit mehr getrieben als politisch gestaltend, muss die Bundesregierung Herr des Verfahrens bleiben, wie ihre europäischen Partner auch. Unverkennbar ist seit dem Irak-Krieg allerdings auch, dass in Europa neue Konkurrenzverhältnisse entstanden sind. Sie müssen politisch beherrschbar bleiben, wenn Europa nicht dauerhaft Schaden nehmen soll.

Dr. phil., geb. 1944; Studium der Politischen Wissenschaft, Geschichte und Romanistik in Kiel, Freiburg und Köln; zurzeit Sonderkorrespondent beim DeutschlandRadio Berlin.
Anschrift: DeutschlandRadio Berlin, Hans-Rosenthal-Platz, 10825 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: jochen.thies@dradio.de

Veröffentlichungen u. a.: Helmut Schmidts Rückzug von der Macht. Das Ende der Ära Schmidt aus nächster Nähe, Stuttgart 1988; zahlreiche Beiträge zu zeitgeschichtlichen Themen und zu Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik.