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Gesundheitspolitik Editorial Gesundheit - kein Produkt wie jedes andere Rot-grüne Gesundheitspolitik 1998 - 2003 Chancen einer Gesundheitsreform in der Verhandlungsdemokratie Chronische Gesundheitsprobleme Was kann Deutschland lernen?

Was kann Deutschland lernen?

Annette Riesberg Susanne Weinbrenner Reinhard Busse Reinhard Susanne / Busse Annette / Weinbrenner Riesberg

/ 22 Minuten zu lesen

Ein konstruktives Aufnehmen der im EU-Verfassungsentwurf verankerten "Methode der offenen Koordinierung" im Gesundheitssystem böte einen Ansatz zur gemeinsamen Gestaltung eines künftigen Sozial- und Wirtschaftsmodells.

Einleitung

In der Einschätzung der gegenwärtigen Situation im Gesundheitswesen beruft sich die öffentliche gesundheitspolitische Debatte gern auf den internationalen Vergleich und bewegt sich dabei zwischen zwei Polen: So schrieben die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen in der Begründung zu ihrem Entwurf des Gesundheitssystemmodernisierungsgesetzes, dass das deutsche Gesundheitswesen im internationalen Vergleich teuer sei, seine Qualität und Ergebnisse jedoch nur im Mittelfeld lägen. Nach den Konsensgesprächen mit der Opposition wurde das gemeinsame Eckpunktepapier vom 21. Juli 2003 dagegen wie folgt eingeleitet: "Die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland gilt weltweit nach wie vor als Vorbild. (Um Zugang und solidarische Finanzierung und Leistungsgerechtigkeit aufrechtzuerhalten), müssen die vorhandenen finanziellen Mittel effizienter und wirtschaftlicher eingesetzt werden. ((...)) Die medizinische Versorgung in Deutschland befindet sich auf einem hohen Niveau. Dennoch bedarf es ständiger Bemühungen zur Verbesserung der Qualität der Patientenversorgung."



Wie kommt es zu solch unterschiedlichen Einschätzungen? Um ein Gesundheitssystem zu bewerten, muss zunächst die Evaluationsgrundlage klar sein, sprich: Es muss bekannt sein, welche Ziele verfolgt werden sollen.

I. Gesundheitspolitische Ziele

Gesundheitspolitik braucht Ziele, auf deren Basis sie mit den beteiligten Akteuren geeignete Umsetzungsformen auswählen und die vorhandenen Ressourcen angemessen verteilen kann. Die Gewährleistung einer (qualitativ) angemessenen und bedarfsgerechten, zugleich aber auch notwendigen und wirtschaftlichen Gesundheitsversorgung sowie die finanzielle Absicherung im Krankheitsfall ist Gegenstand der Rechtskodizes aller europäischen Länder. Viele Länder haben, anders als Deutschland, auch ein Recht auf Gesundheit in ihrer Verfassung verankert.

In den achtziger Jahren entwickelten die Mitgliedsländer der Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Zielkatalog "Gesundheit für alle", der das Ziel einer gesundheitsförderlichen Politik zwar einerseits auf viele Politikfelder ausdehnte, es andererseits aber unterließ, für die Gesundheitssysteme im engeren Sinne quantifizierte Ziele zu formulieren. Lange Zeit unterblieb daher ein internationaler Vergleich von Gesundheitssystemen anhand gemeinsamer Ziele. Erst im "Weltgesundheitsbericht 2000" stellte die WHO eine Liste von drei Hauptzielen und davon abgeleiteten Messwerten einer breiteren Öffentlichkeit zur Diskussion.

1. Das Gesundheitssystem soll die Gesundheit der Bevölkerung verbessern. Man könnte einwenden, dies sei nichts Besonderes, deswegen hätten wir ja schließlich ein Gesundheitssystem. Aber wir sehen nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern, dass dieses Ziel bisher viel zu wenig im Mittelpunkt gestanden hat. Das wirklich primäre Ziel des Gesundheitssystems ist nicht die Schaffung von Arbeitsplätzen für Ärzte und Pflegekräfte oder der Absatz von Waren, sondern die Gesundheit der Bevölkerung. Dieses erste Ziel hat laut WHO zwei Komponenten: Zum einen ist dies die Höhe - also das durchschnittliche Ausmaß - der Gesundheit in der Bevölkerung, zum anderen die Verteilung der Gesundheit in der Bevölkerung. Wenn die Einwohner eines Landes im Durchschnitt 75 Jahre alt werden, aber ungelernte Arbeiter mit 65 und Ärzte mit 85 sterben, ist das eine ungleiche Verteilung der Gesundheit. Ein ebenso wichtiges Ziel wie die 75 Jahre voller Gesundheit im Durchschnitt ist demnach die gleichmäßige Verteilung innerhalb einer Gesellschaft.

2. Das zweite Ziel heißt Responsivität. Es umfasst zwei große Kategorien, mit denen die Güte des Kontaktes zwischen Patient und System gemessen werden soll: a) Kundenorientierung, worunter die WHO vier Subkategorien fasst: Gewährleistung der Wahl der leistungserbringenden Person oder Institution, prompte Aufmerksamkeit (d.h. geringe Wartezeiten beim Zugang zur Versorgung), angemessene Qualität der Versorgung sowie Zugang zu sozialen Unterstützungsnetzwerken; b) Respekt für die Person, mit ebenfalls vier Subkategorien: Respekt der Würde des Individuums und seiner Autonomie sowie die Gewährleistung von Vertraulichkeit und angemessener Kommunikation bzw. Information. Auch bei diesen Teilzielen ist eine gleichberechtigte Verteilung im Auge zu behalten.

3. Das dritte Ziel, die faire Finanzierung, bedeutet, dass die Bürger nach Finanzkraft und nicht nach Bedarf oder Inanspruchnahme zur Finanzierung der gesundheitlichen Leistungen herangezogen werden. (Der Weltgesundheitsbericht definiert übrigens "proportional" - also ein konstanter Prozentsatz am Einkommen, jedoch nach Abzug der Kosten für Nahrungsmittel - als "fair"; andere mögen eine eher progressive Finanzierung - je weniger der Verdienst, desto geringer der zu zahlende prozentuale Finanzanteil wie z.B. bei direkten, nicht aber bei indirekten Steuern - als fair erachten.)

Diese gesundheitspolitischen Ziele werden nicht allein von Regierungen und supranationalen Organisationen aufgestellt, sondern auch von einem überwiegenden Teil der Bevölkerung in den verschiedensten Ländern unterstützt. So befürworten 80 Prozent der deutschen Bevölkerung eine Umverteilung zwischen Personen mit hohem und niedrigem Einkommen, guter und schlechter Gesundheit, Erwachsenen und Kindern, mittlerem und höherem Alter. Derzeitige Nettozahler unterscheiden sich diesbezüglich kaum von derzeitigen Nettoempfängern. Die Mehrheit der Bevölkerung würde mehr zahlen, um eine bessere Qualität, Zugang zu therapeutischen Innovationen zu erhalten oder Leistungskürzungen zu vermeiden.

In der wissenschaftlichen, im Prinzip auch der öffentlichen und politischen Diskussion herrscht Übereinstimmung darüber, dass nicht alle Ziele gleichermaßen effektiv verfolgt werden können. Die Kunst und das Handwerk von Politik, Verwaltung, aber auch Leistungserbringern ist es, verschiedene Ziele möglichst miteinander zu verbinden und tragfähige Kompromisse zu erwirken. Werden z.B. zum Zwecke der Qualitätssteigerung Mindestmengen an diagnostischen Maßnahmen oder Operationen pro Institution oder Arzt vorgeschrieben, so müssen Nachteile im Zugang zu diesen Leistungen z.B. für die ländliche Bevölkerung in Kauf genommen werden. Darf aber der Gleichheitsgrundsatz nur bei wirklich qualitätsgesicherten Leistungen gelten, oder muss er auch bei Zweifeln an der Qualität berücksichtigt werden? Wie können Zugangsbarrieren für die Betroffenen möglicherweise praktikabel kompensiert werden (beispielsweise durch gezielt eingesetzte Fahrtkostenerstattungen)? Auf der anderen Seite wird im Rahmen der Diskussionen um die zukünftige Gesundheitspolitik in der EU befürchtet, dass eine zunehmende Berücksichtigung des Ziels "Zugang" zur Gesundheitsversorgung im europäischen Ausland dazu führt, dass die Mitgliedstaaten bei den Zielen "Finanzierbarkeit/Kostenbegrenzung" und "Qualität" Abstriche machen müssen, also bei Zielen, die bisher auf EU-Ebene Übereinstimmung finden.

Im Weltgesundheitsbericht wurde die Höhe der Gesamtausgaben ausdrücklich nicht als Ziel aufgenommen, weder in der einen (je niedriger, desto besser), noch in der anderen (je höher, desto besser) Richtung. Sie kam aber indirekt zum Tragen, da die für das Gesundheitswesen aufgewendeten Ressourcen in Relation zum Grad der Erreichung der drei Ziele gesetzt wurden, also die Effizienz des Systems bestimmt wurde. Lediglich die darauf beruhende Rangliste - bei der Deutschland weltweit nur auf den 25. Platz kam - wurde damals breit diskutiert.

Bei aller berechtigten Kritik an den (oft fehlenden) Daten und der Berechnungsmethodik wurden zwei fundamentale Dinge übersehen: Erstens wurde erstmals ein kohärentes Zielbündel für Gesundheitssysteme vorgelegt, und zweitens schnitt Deutschland nicht durchgehend so schlecht ab, wie dies in der öffentlichen Debatte den Anschein hatte. So kam es beim Ziel "Responsivität" auf Platz 5. Dieses Ergebnis wird von vielen anderen Studien sowohl zum niedergelassenen als auch zum stationären Sektor gestützt und kann nicht verwundern. Wartelisten sind im deutschen Gesundheitswesen - von den formalen Wartelisten bei Transplantationen abgesehen - nicht bekannt, wenn auch in ländlichen Gebieten gewisse geographische und zeitliche Zugangserschwernisse zu beobachten sind. Die Infrastruktur ist (trotz mancher Klagen) vergleichsweise sehr gut. Hier sind im letzten Jahrzehnt in den neuen Bundesländern enorme Anpassungsleistungen an die Standards der alten geleistet worden. Gleichzeitig lassen im europäischen Vergleich immer noch hohe Dichteziffern an Krankenhausbetten und medizinischen Großtechnologien eine Überversorgung vermuten, insbesondere, wenn sie nicht mit einer Verbesserung der Krankheitslast, z.B. bei Herzerkrankungen, einhergeht.

Bei dem Ziel einer "fairen Finanzierung" kam Deutschland im WHO-Ranking auf Platz 6 - 7. Eine so hohe Bewertung überrascht, glauben doch viele, dass steuerfinanzierte Systeme hier besser abschneiden sollten. Dabei darf aber nicht der hohe Anteil indirekter Steuern (die typischerweise eher regressiv sind, also niedrigere Einkommen stärker belasten) vergessen werden, die keineswegs "fair" erhoben werden. Die Schweiz mit ihren Kopfpauschalen landete bei diesem Indikator übrigens lediglich auf Platz 38 - 40, d. h. nur knapp vor Italien und Portugal, die sehr hohe Zuzahlungen für Kranke kennen.

Bei Ziel 1, der Gesundheit gemessen an der Lebenserwartung, sah es mit Platz 22 schon schlechter aus - hier lagen vor allem südeuropäische Länder vorn. Abbildung 1 zeigt, dass die niedrigeren Werte bei der Lebenserwartung zum Teil mit der höheren Sterblichkeit in den ostdeutschen Ländern zusammenhängt, dass aber sehr hohe Steigerungsraten in den neuen Bundesländern und damit auch in Deutschland zu beobachten sind. Wenn wir die Lebenserwartung oder die behinderungsfreie Lebenserwartung als Indikator nehmen, wissen wir jedoch nie, ob eine niedrige Lebenserwartung in einem Land den Bedarf nach einem guten Gesundheitssystem belegt (also höhere Investitionen vonnöten sind) oder ein Versagen des Gesundheitssystems (die Ausgaben also besser zurückgefahren werden sollten). Besser geeignet ist der Grad der "vermeidbaren Mortalität", also Todesfälle aufgrund von Ursachen, die durch eine gute Prävention oder Kuration zu vermeiden wären. Hier haben neue Berechnungen gezeigt, dass Deutschland innerhalb der EU gleich hinter Schweden und Frankreich, vor Spanien, Finnland, Italien, Dänemark, den Niederlanden und Griechenland - und weit vor Großbritannien - rangiert.

Das soll jedoch keineswegs dazu veranlassen, sich beruhigt zurückzulehnen ("habe ich ja schon immer gesagt - das deutsche System ist das beste der Welt"). Neben Hinweisen auf teilweise exzellente Gesundheitsergebnisse der Gesundheitsversorgung, z.B. in der stationären Behandlung von Herzerkrankungen, gibt es insbesondere zur kontinuierlichen Therapie auch sehr besorgniserregende Studien, die Deutschland z.B. bei dem Anteil der Blutdruckkranken mit gut kontrolliertem Blutdruck auf einen abgeschlagenen letzten Platz verweisen und sogar eine Verschlechterung im Verlauf der neunziger Jahre belegen, wobei die begrenzte Repräsentativität von Studien bei der Interpretation immer berücksichtigt werden sollte.

Das Bewusstsein über Gesundheits- und Qualitätsprobleme ist eine wichtige Voraussetzung für die Schwerpunktsetzung in der Politik wie auch in der Versorgung. Gesundheitsziele in Deutschland stellen ein gutes Beispiel dar, dass, was und wie Deutschland von anderen Ländern lernen kann. Der internationalen Debatte und Vorbildern in anderen Ländern folgend, wurden kürzlich unter Einbeziehung vieler Akteure Gesundheitsziele und Umsetzungsmöglichkeiten definiert - ein Ergebnis, das lange in dem durch Föderalismus, Selbstverwaltung, gegliederte Sozialversicherungen und pluralistische Anbieter geprägten Gesundheitssystem schwer erreichbar erschien. Die Gesundheitsziele beziehen sich auf die folgenden Bereiche: Diabetes, Brustkrebs, Reduzierung des Tabakkonsums, gesundes Aufwachsen (Ernährung, Bewegung, Stressbewältigung bei Kindern), Erhöhung der gesundheitlichen Kompetenz und Stärkung der Patientensouveränität.

II. Gesundheitssysteme und-reformen im Vergleich

1. Systemüberblick

In Europa lassen sich im Wesentlichen zwei Modelle von Gesundheitssystemen unterscheiden: Ein "Beveridge-Modell", das sich in der Finanzierung primär auf Steuern stützt, wird in den nordeuropäischen Ländern sowie in Irland und dem Vereinigten Königreich angetroffen. Südeuropäische Länder wie Spanien, Portugal und Griechenland sind seit den achtziger Jahren ebenfalls dieser Gruppe zuzurechnen (s. Abbildung 2). Zu den Sozialversicherungsländern, auch "Bismarck-Systeme" genannt, zählen alle mitteleuropäischen und seit den frühen bzw. späten neunziger Jahren nahezu alle osteuropäischen Länder, wobei der Staat in den meisten der Beitrittsländer weiterhin eine relativ hohe Bedeutung insbesondere bei der Finanzierung des Gesundheitssystems hat. Abbildung 2 zeigt, dass die Länder der Europäischen Union bei der Finanzierung auf einer Mischung aus öffentlichen und privaten Finanzierungsquellen aufbauen, wobei der Anteil öffentlicher Ausgaben im internationalen Vergleich weiterhin relativ hoch ist.

Im europäischen Vergleich gibt Deutschland in der Querschnittsbetrachtung viel Geld für Gesundheit aus, aber beispielsweise nur durchschnittlich viel für Sozialschutz und Schulbildung. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt fallen die Steigerungsraten niedriger aus als in anderen europäischen Ländern (s. Abbildung 3) und im Durchschnitt der OECD-Länder seit 1990. Höhere Gesundheitsquoten hängen teilweise auch mit einem geringeren Anstieg des Bruttoinlandsprodukts zusammen, wie es z.B. in vielen westeuropäischen Sozialversicherungsländern im letzten Jahrzehnt zu beobachten war. Hier spiegelt sich auch die Entwicklung nach der deutschen Wiedervereinigung wider: Die relativ geringere Wirtschaftskraft der Länder auf dem ehemaligen Gebiet der DDR führte zu geringeren Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung. Obwohl niedrigere Gehälter gezahlt wurden, bewirkte die politische Schwerpunktsetzung auf das im Grundgesetz festgelegte Ziel gleicher Lebensverhältnisse und die im Einigungsvertrag festgelegte Angleichung der Infrastruktur im Gesundheitswesen eine höhere Ausgabenquote.

Neben realen Ausgabenunterschieden muss ferner berücksichtigt werden, dass die Abgrenzung des Gesundheitssystems und seiner Ausgaben in unterschiedlichen Ländern auch verschieden ausfällt, trotz Standardisierungsbemühungen im methodischen, datenbezogenen Bereich. Denn die Trennlinie zu anderen Sozialsektoren, zur Pflege, Altenbetreuung, Schulbetreuung und hygienisch-technischer Ausstattung ist nicht immer scharf und wird nicht von jedem Land gleich gezogen.

2. Informationsquellen

Kenntnis und Verständnis anderer Gesundheitssysteme waren lange eine Angelegenheit von wenigen Insidern, häufig gebunden an Kenntnisse der Landessprache. Die im letzten Jahrzehnt zu beobachtende Zunahme schriftlicher Informationen in Fachartikeln und öffentlich zugänglicher Datenbanken (z.B. der Weltgesundheitsorganisation, der Organisation für Wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit oder der Europäischen Kommission/ Missoc) verändert diese Situation allmählich. Auch eingehende Darstellungen und Analysen des Politikfeldes sind in den letzten Jahren einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden, wovon drei Angebote hier näher vorgestellt werden sollen.

Eine Analyse der Versorgungsqualität des deutschen Gesundheitswesens im internationalen Vergleich und die Diskussion geeigneter Reformansätze zur Verbesserung der Qualität und Patientensicherheit hat der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen in seinen Gutachten 2000/2001 und 2003 vorgelegt. Die Stellungnahmen der befragten Akteure im Gesundheitswesen und die Gutachten sind auf der Webseite des Rates nachzulesen.

Die "Gesundheitssysteme-im-Wandel"-Profile des Europäischen Observatoriums für Gesundheitssysteme beschreiben und analysieren u.a. Gesundheitssysteme und -reforminitiativen von Ländern in der europäischen Region der WHO. Alle Länderberichte werden anhand eines einheitlichen Fragekatalogs entwickelt, um Akteuren und Analytikern nationaler Gesundheitssysteme und internationaler Organisationen möglichst vergleichbare und relevante Informationen anbieten zu können. Die Profile beschreiben zunächst die gesundheitliche Lage und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Den Schwerpunkt aber stellen empirisch fundierte Einsichten in die Zusammenhänge von Organisation, Finanzierung und Erbringung der Gesundheitsversorgung dar. Sie untersuchen Reformen und ihre Ergebnisse, Trends und künftigen Reformbedarf. Eine möglichst neutrale und abwägende Darstellung und Interpretation der Informationen soll ein ausgewogenes Verständnis komplexer Zusammenhänge und eine unabhängige Meinungsbildung ermöglichen. Neben Berichten über nationale "Gesundheitssysteme im Wandel" veröffentlicht das Observatorium vertiefende Analysen und internationale Vergleiche zu ausgewählten politisch relevanten Fragestellungen, z.B. zur Rolle von Krankenhäusern, zur Regulation im Spannungsfeld zwischen marktwirtschaftlichen Anreizen und gesamtgesellschaftlichen Zielen, zur Finanzierung, zu westeuropäischen Ländern mit gesetzlicher Krankenversicherung, zur Primärversorgung oder zu Arzneimitteln. Die wesentlichen Erkenntnisse aus diesen Veröffentlichungen werden in so genannten "Policy Briefs" zusammengefasst. Der Austausch zwischen gesundheitspolitischen Akteuren und Experten wird über Vorträge, Gutachten, Diskussionsforen und Sommerakademien gefördert.

Der Gesundheitspolitik-Monitor, der von der Bertelsmann-Stiftung initiiert und unterhalten wird, entstand unter dem Eindruck zunehmender Dringlichkeit gesundheitspolitischer Reformen in Deutschland. Im Jahr 2002 wurde ein weltweites Netzwerk aus Gesundheitspolitikexperten von 16Partnerinstitutionen in 15 Industrieländern geknüpft, um über aktuelle, sich derzeit in der Diskussion und Entwicklung befindliche Gesundheitsreformansätze und ihre Umsetzung zu berichten. Indem zeitnahe Informationen darüber, was sich gesundheitspolitisch bewährt hat, zur Verfügung gestellt werden, soll die Lücke zwischen Forschung und ihrer Umsetzung durch die Politik verkleinert werden. Mit Hilfe einer gemeinsam entwickelten Fragebogenmatrix werden die gesundheitspolitischen Reformthemen erfasst. Gleichzeitig kann der Prozessverlauf dieser Reformen über die gesamte Entwicklung von der Idee über politische Statements und das Gesetzgebungsverfahren bis hin zu Implementierung, Evaluation und Abwandlung bzw. Abschaffung verfolgt werden. Durch die halbjährlich erscheinenden Berichte sowie durch die auf der Homepage ergänzend zur Verfügung gestellten Informationen kann der Entwicklungsstand der Reformen verfolgt werden. Der Gesundheitspolitik-Monitor baut auf einer früheren Acht-Länder-Studie sowie dem Carl-Bertelsmann-Preis 2000 für innovative Konzepte und nachahmenswerte Lösungsansätze für zentrale gesellschaftspolitische Problembereiche auf. Dieser wurde seinerzeit an die Niederlande für ihr Hausarztmodell sowie an die Schweiz für ihre Health-Maintenance-Organisation (HMO)-Modelle vergeben.

III. Aktuelle Reformansätze

1. Sicherung der Qualität

Die EU-Kommission stellt in einem kürzlich veröffentlichten Bericht fest, dass die Umsetzung von Qualitätssicherung in allen Mitgliedstaaten ganz oben auf der politischen Agenda steht. Nahezu überall habe man Kriterien für die Strukturqualität eingeführt. Dies gelte allerdings vorrangig für den stationären Sektor, während im ambulanten Bereich noch Umsetzungsprobleme existierten. Obwohl viele Mitgliedstaaten auch die Prozessqualität verbessern wollten, wurde hier noch größerer Nachholbedarf festgestellt - insbesondere bei der Entwicklung von Behandlungsleitlinien. Bei der Ergebnisqualität seien die Mitgliedstaaten meist noch nicht weit vorangekommen. So verfügten nur wenige Länder, wie z.B. Großbritannien, über ein funktionierendes System der systematischen Ergebnisbewertung von Krankenhäusern. Nahezu alle Mitgliedstaaten zielten allerdings darauf ab, die Rechte der Patienten zu stärken.

Im oben erwähnten Gesundheitspolitik-Monitor werden einige aktuelle Ansätze europäischer Länder im Bereich der Qualitätssicherung vorgestellt. Die Niederlande etwa gelten weltweit als vorbildlich, was die Bemühungen um Qualitätssicherung in der medizinischen Versorgung angeht. Eine imDezember 2002 veröffentlichte Evaluation des"Gesundheitsversorgungsqualitätsgesetzes für Institutionen der Krankenversorgung" von 1996 zeigte nun aber, dass es nur wenige Fortschritte bei der Implementierung eines strukturierten und programmierten Qualitätssicherungssystems in diesen Institutionen gab. Infolgedessen beschloss die niederländische Regierung, die Einführung eines solchen Systems nicht mehr der Freiwilligkeit zu überlassen, sondern verpflichtend vorzuschreiben - mit der Möglichkeit, bei Nichteinhaltung der Vorschriften Strafen zu verhängen.

Ein weiteres Beispiel, an dem sich Deutschland im Rahmen des Entwurfes zum Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz orientiert hat, stammt aus der Gruppe der Länder mit vorwiegend steuerfinanziertem Gesundheitssystem. Das britische Nationale Institut für klinisch hervorragende Leistungen (NICE) diente als Vorbild für das vorgeschlagene deutsche "Zentrum für Qualität in der Medizin". Dieses Institut soll nach neuestem Diskussionsstand nun zwar nicht mehr die Kosteneffektivität von Arzneimitteln beurteilen, aber weiterhin zu einer Verbesserung der Versorgungsqualität beitragen, z.B. durch neutrale Patienteninformationen, die Verbesserung der kontinuierlichen Fort- und Weiterbildung von Ärzten oder im Bereich von Disease-Management-Programmen.

Zwei weitere Länder aus der Gruppe der steuerfinanzierten Systeme, Spanien und Finnland, diskutieren Ansätze zur Qualitätsverbesserung, die unter das Thema Zentralisierung versus Dezentralisierung fallen. In Spanien ist im Rahmen einer seit Jahren stufenweise eingeführten Dezentralisierung mehr Autonomie an die Regionen abgegeben worden. Um in ganz Spanien bestimmte Qualitätsstandards zu schaffen und zu erhalten, sollen überall folgende Anforderungen erfüllt werden: gleicher Zugang zum Gesundheitssystem in allen Regionen, Garantie eines einheitlichen Grundleistungskatalogs und Garantie einer zweiten Meinung.

In Finnland wird die Zentralisierung bestimmter spezialisierter medizinischer Prozeduren auf Versorgungsschwerpunkte diskutiert, um durch die Bildung von "Kompetenzzentren" ein möglichst hohes Qualitätsniveau zu erreichen. Als Gegenargument wird die Problematik des dann ungleichen Zugangs zu diesen Leistungen angesichts der dünnen Besiedelung weiter Landesteile ins Feld geführt.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass in keinem der genannten Länder eine umfassende, vorbildliche Umsetzung von Qualitätssicherung zu finden ist. Die kurz vorgestellten Reformvorschläge zeigen das Spektrum der Maßnahmen auf, die auch in Deutschland diskutiert werden. Einige Länder sind jedoch in der Umsetzung von Maßnahmen schon weiter, so dass auf ihre Erfahrungen zurückgegriffen werden sollte.

2. Integrierte Versorgung

Ein weiteres viel zitiertes Problem in fast allen entwickelten Ländern ist die Fragmentierung der Versorgung. Oft wird das Problem durch die zusätzlich sektoral gebundenen Leistungsvergütungen wie auch in Deutschland noch akzentuiert. In der spanischen Region Katalonien läuft ein Modellversuch, bei dem die ambulante und stationäre Versorgung in der Region besser verzahnt werden sollen. Die lokalen Gesundheitsbehörden schließen mit Anbietern verschiedener Gesundheitsleistungen und Institutionen Verträge ab. Darin werden einerseits die Leistungen für die zu versorgende Bevölkerung spezifiziert, andererseits ist die Vergütung, die einer Kopfpauschale entspricht, festgelegt.

Die am Ziel der Versorgungsintegration gemessene optimale Vertragsgestaltung scheint in Spanien ebenso wie in Deutschland eines der wesentlichen Hindernisse für die erfolgreiche Umsetzung dieser Reformidee zu sein. In Frankreich gab es in den letzten Jahren ebenfalls viele Änderungen bezüglich der Vertragsgestaltung zwischen den staatlichen Gesundheitsbehörden und den Krankenkassen einerseits und den ambulanten Leistungsanbietern andererseits, die unter anderem eine verbesserte Integration der Versorgung, auch über die Grenzen des Gesundheitssystems hinweg, bewirken sollten. Der Erfolg dieser Bemühungen ist noch nicht absehbar, zumal an einem Teil der Verträge und Verhandlungen nicht alle Parteien beteiligt waren.

3. Übertragbarkeit

Gerade in jüngster Zeit sind von der deutschen Gesundheitspolitik auf Empfehlung von Experten Reformideen aus anderen Ländern übernommen worden. So werden ab 2004 in Deutschland die so genannten "Diagnosis-related groups" (DRGs), das heißt Fallpauschalen, als Entgeltbasis für die Vergütung von Krankenhausleistungen flächendeckend genutzt. Das deutsche DRG-System wurde aus Australien importiert, das sich wiederum die USA zum Vorbild genommen und deren Ansätze modifiziert hatte. Infolge der Einführung dieses neuen Vergütungssystems werden umfassende organisatorische und strukturelle Veränderungen erwartet. Beispielsweise wird mit einer Verkürzung der Krankenhausverweildauer gerechnet, die eine bessere Verzahnung mit dem ambulanten Bereich erfordert, weshalb dieser in die Reform einbezogen werden sollte. Die rechtlichen Voraussetzungen dafür sind teilweise in Form von "Disease management programs" geschaffen worden, die eine verbesserte Versorgung chronisch Kranker (Diabetes mellitus, Brustkrebs, koronare Herzerkrankungen) anstreben. Es fehlen jedoch differenzierte rechtliche Möglichkeiten für eine umfassende, sektorübergreifende Gestaltung der entsprechenden Verträge und Vergütung.

So ist einerseits die Implementierung neuer Vergütungssysteme oder Versorgungsstrukturen zu begrüßen, andererseits steht für beide exemplarisch angeführten Reformen der Nachweis einer erhöhten Kosteneffektivität sowie verbesserten Qualität noch aus. Durch frühzeitige Planung von Reformen mit parallel angelegter optimal gestalteter Evaluation (zufällige Auswahl der Interventionsteilnehmer, Durchführung der Evaluation im Vergleich zu einer Kontrollgruppe) könnten in einem überschaubaren Kontext neue Konzepte erprobt und bewertet werden.

Problematisch sind nicht allein die prinzipiell unterschiedlichen Finanzierungs- und Vergütungssysteme, also staatliches Gesundheitssystem (z.B. National Health Service/NHS in Großbritannien; Schweden) versus gesetzliches Krankenversicherungssystem (z.B. Deutschland, Niederlande) versus marktwirtschaftliche Modelle (z.B. USA, teilweise Schweiz), welche die Ad-hoc-Übertragbarkeit von Reformansätzen einschränken. Auch innerhalb einer Gruppe mit gleichartigen Systemen gibt es unterschiedliche organisatorische und strukturelle Lösungsansätze, die teilweise historisch gewachsen sind und sich nicht ohne weiteres adaptieren lassen. Trotzdem können die industrialisierten Länder mit ähnlichen Problemen (rückläufige Einnahmen der Finanzierungsquellen des Gesundheitssystems, steigende Lebenserwartung und technischer Fortschritt mit konsekutivem Anstieg der Ausgaben sowie Änderung des Krankheitsspektrums) oder mit ähnlichen Systemstrukturen als Vorbilder für Lösungsstrategien dienen.

Beliebte Beispiele aus der Vergangenheit sind das Hausarztsystem der Niederlande und das Finanzierungssystem über Kopfpauschalen in der Schweiz. Diese "Musterbeispiele" aus den Niederlanden und der Schweiz sind ein gutes Beispiel für die ungeheure Reformdynamik, der die Gesundheitssysteme in allen industrialisierten Staaten momentan unterworfen sind. So wurden die beiden preisgekrönten Reformansätze (Carl-Bertelsmann-Preis 2000) innerhalb der letzten Monate komplett in Frage gestellt. In den Niederlanden gibt es Reformbestrebungen, die eine vollständige Eliminierung der Hausarztleistungen aus dem Leistungskatalog der Krankenversicherung vorschlagen. In der Schweiz gab es im Mai diesen Jahres ein Referendum, in dem die Bevölkerung darüber entschied, ob die Kopfpauschalen zugunsten einer Finanzierung analog zum deutschen System verlassen werden sollten; der Volksentscheid fiel zugunsten des bisherigen Systems aus.

Insgesamt zeigt es sich, dass Deutschland Reformansätze aus anderen Ländern und Systemen durchaus übernehmen kann. Es ist aber gut beraten, sie an den deutschen Kontext - ein großes, bevölkerungsstarkes Land mit föderalen Strukturen und einem hohen Maß an Selbstverwaltung - anzupassen und ihre Wirksamkeit und unerwünschten Auswirkungen sorgfältig zu evaluieren.

IV. Gesundheitspolitik in der Europäischen Union

Lange Zeit waren viele Akteure im Gesundheitswesen der Auffassung, dass die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung in der alleinigen Zuständigkeit der EU-Mitgliedstaaten liegen. Sie beriefen sich dabei auf Artikel 152 Absatz 5 EG-Vertrag, wonach bei der "Tätigkeit der Gemeinschaft im Bereich der Gesundheit der Bevölkerung ((...)) die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung in vollem Umfang gewahrt" werde. Dabei wurde übersehen, dass sich diese Einschränkung nur auf die in Artikel 152 explizit genannten Maßnahmen bezog, also andere Bestimmungen im EG-Vertrag durchaus die Organisation der Gesundheitswesen beeinflussen können, was durch die Bestimmungen zum europäischen Binnenmarkt mit seinen vier Grundfreiheiten für Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital sowie zum Wettbewerbs- bzw. Kartellrecht in nicht unbeträchtlichem und zunehmendem Maß auch der Fall ist (vgl. Abbildung 4).

Während der Vorbereitung des Gesundheitssystemmodernisierungsgesetzes (GMG) zeichnet sich nun ein Wandel ab. So soll das GMG die Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in den Rechtssachen Kohll (C-158/96) und Decker (C-120/95) vom 28. April 1998 und das Urteil des EuGH in der Rechtssache Smits/Peerbooms (C-157/99) vom 12. Juli 2001 berücksichtigen. Danach gelten die Grundsätze des freien Warenverkehrs nach Artikel 28 und der Dienstleistungsfreiheit nach Artikel 49 EG-Vertrag auch im Bereich der ambulanten und stationären Behandlung mit der Konsequenz, dass sich Versicherte Leistungen gegen Kostenerstattung zu Lasten öffentlich-rechtlicher Versicherungsträger selbst beschaffen können. Zuletzt hat der EuGH explizit festgelegt, dass ein nationales Sachleistungssystem den Kostenerstattungsanspruch nicht behindert (Rechtssache Müller-Fauré/van Riet, C-385/99, vom 13. Mai 2003), wodurch ein zentrales Argument der deutschen gesundheitspolitischen Akteure entkräftet wird.

Noch im Fraktionsentwurf des GMG (Mai 2003) hatte die Bundesregierung eine Inanspruchnahme ambulanter Leistungserbringer im EU-Ausland auf den (sehr kleinen) Kreis von freiwillig Versicherten begrenzen wollen, die sich auch im Inland zu einem Kostenerstattungsmodus entschlossen haben. Die parteiübergreifende Vereinbarung (Juli 2003) sieht nun vor, allen gesetzlich Versicherten den Anspruch auf Kostenerstattung von in EU-Ländern erbrachten Leistungen auch ohne "unmittelbaren" Hilfsbedarf in einer Akutsituation zu gewähren. Während Leistungen im ambulanten Bereich keiner Vorabgenehmigung durch den Kostenträger bedürfen, ist für eine stationäre Behandlung weiterhin eine vorherige Genehmigung erforderlich. Die Kosten werden auf der Grundlage der in der GKV geltenden Vergütungsregeln erstattet.

Damit Auslandsreisende nicht gegenüber Patienten im Inland bevorteilt werden, soll nun allen Versicherten auch im Inland in Ausnahmefällen erlaubt werden, nicht zugelassene Leistungserbringer über Kostenerstattung in Anspruch zu nehmen, allerdings unter dem Vorbehalt, dass dies zuvor von der Krankenkasse genehmigt wurde und eine zumindest gleichwertige Qualität wie bei zugelassenen Leistungserbringern nachgewiesen wurde.

Während sich die öffentliche gesundheitspolitische Diskussion in Deutschland auf das aktuelle Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz konzentrierte, wurden auf EU-Ebene die Beratungen für den Entwurf einer gemeinsame Verfassung der EU-Mitgliedsländer zu einem vorläufigen Abschluss gebracht. Der im Juni 2003 veröffentlichte Entwurf der EU-Verfassung bestärkt einerseits die Verantwortlichkeit der nationalen Regierungen imGesundheits- und Sozialbereich (z.B. Artikel III-174 [5]): "Die aufgrund dieses Artikels erlassenen Europäischen Gesetze und Rahmengesetze a)berühren nicht die anerkannte Befugnis der Mitgliedstaaten, die Grundprinzipien ihres Systems der sozialen Sicherheit festzulegen, und dürfen das finanzielle Gleichgewicht dieser Systeme nicht erheblich beeinträchtigen; b) hindern die Mitgliedstaaten nicht daran, strengere Schutzmaßnahmen beizubehalten oder zu erlassen, die mit der Verfassung vereinbar sind." Auch wird generell ein Frühwarnsystem für unerwünschte Auswirkungen von EU-Regelungen auf das Subsidiaritätsprinzip und die Mitgliedsländer eingerichtet. Gleichzeitig werden die Kompetenzen der EU erweitert; dazu erhalten auch demokratische Elemente einen höheren Stellenwert als bisher.

Im Bereich "soziale Sicherheit und sozialer Schutz der Arbeitnehmer" (Artikel III-99 [c]) sollen "unter Berücksichtigung der in den einzelnen Mitgliedstaaten bestehenden Bedingungen und technischen Regelungen Mindestvorschriften, die schrittweise anzuwenden sind, durch Europäische Rahmengesetze festgelegt werden" können. Während in einigen Gebieten der Sozialpolitik Mehrheitsentscheidungen eingeführt worden sind, bleibt im Bereich soziale Sicherheit das Konsensprinzip bestehen. Zusätzlich muss neben den Ausschüssen für Wirtschaft & Soziales sowie der Regionen nun auch das Europäische Parlament angehört werden.

Im Gesundheitswesen (Artikel III-174) soll die Methode der offenen Koordinierung eingeführt werden. Der Passus wurde bei der letzten Sitzung des Konvents vor Übergabe des Verfassungsentwurfs in Thessaloniki aufgenommen: "Die Kommission kann in enger Verbindung mit den Mitgliedstaaten alle Initiativen ergreifen, die dieser Koordinierung förderlich sind, insbesondere Initiativen, die darauf abzielen, Leitlinien und Indikatoren festzulegen, den Austausch bewährter Verfahren durchzuführen und die erforderlichen Elemente für eine regelmäßige Überwachung und Bewertung auszuarbeiten. Das Europäische Parlament wird in vollem Umfang unterrichtet." Diese "offene Methode der Koordinierung" ist ein Prozess, in dem gemeinsame Ziele und Leitlinien festgelegt werden und mittels Indikatoren die Zielerreichung in den Mitgliedstaaten ermittelt wird. Die Methode ist auf EU-Ebene bisher in der Währungs- und Beschäftigungspolitik und seit kurzem auch in der Vermeidung sozialer Ausgrenzung angewendet worden.

V. Schlussfolgerungen

Der Verweis auf "gute Erfahrungen" im Ausland ist zum Standardinstrument der gesundheitspolitischen Auseinandersetzung geworden. Selten wird dabei klar, was mit "gut" gemeint ist, d.h. an welchen Zielen man sich orientiert. Dass bestimmte Systemausprägungen oder Reformen auch praktisch nie nur "gut" sein können, sondern immer eine Abwägung zwischen verschiedenen Zielen erfordern, wird leicht übersehen. Auch international vergleichenden Analysen mit eindimensionalen Hypothesen und einfachen Ursachenzuschreibungen ist mit Vorsicht zu begegnen. Sofern sie bei Momentaufnahmen (Querschnittsbetrachtungen) und der Bewertung eines Status (internationales Vorbild) verharren, sind sie wenig hilfreich für eine realistische Situationseinschätzung und Weiterentwicklung gesundheitspolitischer Perspektiven.

Einige weitere Punkte sind in diesem Zusammenhang zu betonen. In diesen Zeiten erwartet die Gesellschaft Transparenz darüber, was und mit welchem Ergebnis in öffentlichen oder quasi-öffentlichen Sektoren passiert: ob PISA-Studie im Bildungswesen oder WHO-Ranking im Gesundheitswesen. Dies leugnen oder sich verweigern hieße, den Zug der Zeit zu verschlafen. In der Gesundheitspolitik tun vor allem die Leistungserbringer gut daran, die Abwehr dagegen aufzugeben und sich konstruktiv an der Entwicklung von Indikatoren, ihrer Messung und vor allem der Verbesserung der Versorgungsqualität zu beteiligen.

Gemessen an der hohen Bedeutung für die künftige Politik wird der derzeitige und vor allem zukünftige Einfluss der EU auch auf die Gesundheitssysteme noch immer unterschätzt. Die Urteile des Europäischen Gerichtshofes und die EU-Verfassung haben hier eine Dynamik in Gang gesetzt, mit der sich die deutsche Politik und insbesondere die Akteure im Gesundheitswesen sorgfältig auseinandersetzen müssen. Ein konstruktives Aufnehmen der Methode der offenen Koordinierung im Gesundheitssystem bietet einen Ansatzpunkt zum wechselseitigen Lernen unter den Mitgliedsländern und zur gemeinsamen Gestaltung des zukünftigen Sozial- und Wirtschaftsmodells in der erweiterten Europäischen Union.

Auch die Zielorientierung wird zukünftig im Rahmen der offenen Methode der Koordinierung eine europäische sein. Ein solches Zielbündel könnte enthalten: Erreichung eines hohen Gesundheitsniveaus; Gestaltung und Funktion der Gesundheitswesen entsprechend den gerechtfertigten Bedürfnissen und Erwartungen der Bevölkerungen; Zugang zu bedarfsgerechten und wirksamen Gesundheitstechnologien; Sicherstellung fairer und nachhaltiger Finanzierung. Eine so fundierte EU-Gesundheitspolitik wäre auch ein Beitrag zum Abbau des Spannungsverhältnisses zwischen wirtschaftlicher EU-Regulierung und nationaler Finanzierung und Leistungserbringung.

Internet-Empfehlungen der Autorinnen und des Autors:

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. World Health Organization, World Health Report 2000, Genf 2000 (www.who.int/whr/previous/en).

  2. Vgl. Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Finanzierung, Nutzerorientierung und Qualität, Bonn 2003.

  3. Vgl. Richard Grol u. a., Patients in Europe evaluate general practice care: an international comparison, in: British Journal of General Practice, 50 (2000) 11, S. 882 - 887; Angela Coulter/ Paul Cleary, Patients' experience with hospital care in five countries, in: Health Affairs, 20 (2001) 3, S. 244 - 252.

  4. Vgl. Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit, Bde. I-III, Bonn 2001 (www.svr-gesundheit.de).

  5. Vgl. Afschin Gandjour u. a., European comparison of costs and quality in the treatment of acute myocardial infarction (2000 - 2001), in: European Heart Journal, 23 (2002), S. 858 - 868.

  6. Vgl. EUROASPIRE, Clinical reality of coronary prevention guidelines. A comparison of EUROASPIRE I and II in nine countries, in: Lancet, 357 (2001), S. 995 - 1001.

  7. Siehe Akteure, Prozess, Zwischenberichte (2003) und Mitsprachemöglichkeiten unter www.gesundheitsziele.de.

  8. www.svr-gesundheit.de

  9. Das Observatorium ("Beobachtungswarte") wird getragen vom Regionalbüro Europa der Weltgesundheitsorganisation, den Regierungen von Griechenland, Norwegen und Spanien, der Europäischen Investitionsbank, dem Open Society Institute, der Weltbank, der London School of Economics and Political Science sowie der London School of Hygiene & Tropical Medicine. Zurzeit stehen für 45 Länder Profile auf der Webseite des Europäischen Observatoriums inenglischer, teilweise auch in deutscher, spanischer und russischer Sprache zur Verfügung. Alle genannten Veröffentlichungen sind in pdf-Form zugänglich unter www.observatory.dk.

  10. www.healthpolicymonitor.org.

  11. Vgl. Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Krankenkassen, Die offene Methode der Koordinierung im Bereich des Gesundheitswesens, Bonn 2002; online z.B. unter www.ikk.de.

  12. Europäischer Konvent, Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa, dem Europäischen Rat auf seiner Tagung in Thessaloniki am 20. Juni 2003 vom Europäischen Konvent überreicht (dt. Übersetzung vom 27.6. 2003) (CONV 820/1/03 REV 1).

  13. Vgl. Reinhard Busse, Anwendung der "offenen Methode der Koordinierung" auf die europäischen Gesundheitswesen: Hintergrund, mögliche Ziele und Indikatoren, Auswirkungen auf Gesundheitssysteme, in: G&G Wissenschaft, (2002) 2, S. 7 - 14.

MPH, geb. 1966; approbierte Ärztin; wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Europäischen Observatorium für Gesundheitssysteme und Fachgebiet Management im Gesundheitswesen, Institut für Gesundheitswissenschaften, Technische Universität Berlin.
Anschrift: Fachgebiet Management im Gesundheitswesen, EB 2, TU Berlin, Str. des 17. Juni 145, 10623 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: annette.riesberg@tu-berlin.de

Veröffentlichung u.a.: (zus. mit Reinhard Busse) Gesundheitssysteme im Wandel: Deutschland. Europäisches Observatorium für Gesundheitssysteme, Kopenhagen 2000 (akt. Ausgabe erscheint im Herbst 2003).

Dr. med. MPH; geb. 1962; wiss. Mitarbeiterin im Fachgebiet Management im Gesundheitswesen, TU Berlin.
Anschrift: s. Riesberg.
E-Mail: E-Mail Link: susanne.weinbrenner@tu-berlin.de

Zahlreiche Veröffentlichungen zu arbeits- und sozialmedizinischen Aspekten.

Prof. Dr. med. MPH, geb. 1963; Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen und assoziierter Forschungsdirektor des Europäischen Observatoriums für Gesundheitssysteme, TU Berlin.
Anschrift: s. Riesberg.
E-Mail: E-Mail Link: rbusse@tu-berlin.de

Veröffentlichung u.a.: (Hrsg., zus. mit Matthias Wismar und Philip Berman) The European Union and Health Services - The impact of the Single European Market on Member States, Amsterdam 2002.