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Rot-grüne Gesundheitspolitik 1998 - 2003 | Gesundheitspolitik | bpb.de

Gesundheitspolitik Editorial Gesundheit - kein Produkt wie jedes andere Rot-grüne Gesundheitspolitik 1998 - 2003 Chancen einer Gesundheitsreform in der Verhandlungsdemokratie Chronische Gesundheitsprobleme Was kann Deutschland lernen?

Rot-grüne Gesundheitspolitik 1998 - 2003

Thomas Gerlinger

/ 20 Minuten zu lesen

Zunächst habe die Regierung Schröder vor allem die Ausgabenbegrenzung in der gesetzlichen Krankenversicherung unter Beibehaltung eines einheitlichen Leistungskatalogs angestrebt. Aufgrund der Zusammenarbeit mit der Opposition müsse künftig von stärkeren Belastungen für Versicherte und Patienten ausgegangen werden.

I. Gesundheitspolitischer Wandelin den neunziger Jahren

Seit Mitte der siebziger Jahre ist - gleich, in welcher Regierungskonstellation - die Kostendämpfung in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) das wohl wichtigste Ziel der Gesundheitspolitik. Dabei haben sich die von Parteien und Regierungen verfolgten Handlungsstrategien im Zeitverlauf recht deutlich gewandelt. Noch bis zum Beginn der neunziger Jahre waren die gewachsenen Strukturen und Anreize in der GKV weitgehend unangetastet geblieben. Diese wiesen entweder in Richtung auf eine Ausweitung der Leistungsmenge oder waren zumindest nicht so beschaffen, dass sie die Akteure veranlasst hätten, aus eigenem finanziellen Interesse die Erbringung, Finanzierung oder Inanspruchnahme von Leistungen wirksam einzuschränken.


Insofern war die traditionelle Kostendämpfungspolitik durch den Widerspruch zwischen dem globalen Ziel der Beitragssatzstabilität bzw. der Ausgabenbegrenzung und den finanziellen Anreizen für die Individualakteure gekennzeichnet. Auf Seiten der Leistungserbringer (v.a. niedergelassene Ärzte und Krankenhäuser) waren es die geltenden Vergütungs- und Finanzierungsformen, insbesondere das Selbstkostendeckungsprinzip in der stationären Versorgung und die Einzelleistungsvergütung im ambulanten Sektor, von denen starke Anreize zur Mengenausweitung ausgingen. Gleichzeitig genossen die Kassen durch das System der weitgehend starren Mitgliederzuweisung de facto Bestandsschutz. Zwar versuchten die Finanzierungsträger auch unter diesen Bedingungen, Beitragssatzanhebungen zu vermeiden, gleichwohl waren absehbare Erhöhungen in ihren negativen Auswirkungen auf die Kassen begrenzt und überschaubar.

Das 1992 verabschiedete Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) leitete einen tief greifenden Wandlungsprozess in der GKV ein, den - wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten - sowohl die konservativ-liberale Koalition mit der "dritten Stufe" der Gesundheitsreform 1996/97 als auch die rot-grüne Koalition mit dem GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000 (GKV-GRG 2000) weiterverfolgten. Im Zuge dieses Wandels kam eine Reihe von Steuerungsinstrumenten zum Einsatz, die für die GKV entweder neu waren oder so ausgebaut wurden, dass sie die Anreizstrukturen für die Akteure nachhaltig veränderten:

- Mit der Einführung der freien Kassenwahl verloren die Krankenkassen ihre Bestandsgarantie. Der Beitragssatz wurde zum entscheidenden Wettbewerbsparameter in der Konkurrenz um Mitglieder, und jede Beitragssatzanhebung war fortan mit dem drohenden Verlust von Marktanteilen verbunden.

- Die Einführung von Pauschalen bzw. Individualbudgets bei der Vergütung der Leistungserbringer schuf einen Anreiz, die Leistungen je Patient zu reduzieren bzw. nicht über definierte Grenzen hinaus ansteigen zu lassen.

- Mit der Einführung neuer Handlungsmöglichkeiten der Krankenkassen zur Einführung von Selbstbehalten und Beitragsrückerstattungen, einer kräftigen Anhebung und Dynamisierung sämtlicher Zuzahlungen, der Ausgliederung des Zahnersatzes für alle unter 18-Jährigen aus der Erstattungspflicht der Krankenkassen und ähnlichen Maßnahmen führte der Gesetzgeber 1996/97 einen Schub bei der Privatisierung von Krankenbehandlungskosten in der GKV herbei, die weit über die bisherige Praxis der sukzessiven und insgesamt eher moderaten Anhebung von Zuzahlungen hinausging.

Parallel wurde die Handlungsfreiheit der Krankenkassen gegenüber den Leistungserbringern erweitert, insbesondere ihre Möglichkeit, Verträge mit einzelnen Gruppen von Ärzten - und nicht mehr ausschließlich mit der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) als regionaler ärztlicher Monopolvertretung - abzuschließen bzw. Verträge mit einzelnen Krankenhäusern zu kündigen. Auf diese Weise sollten die Kassen, bisher weitgehend auf die Funktion des Kostenträgers beschränkt, in die Lage versetzt werden, Verbesserungen von Wirtschaftlichkeit und Qualität gegenüber den Leistungsanbietern durchzusetzen, also gleichsam zum Rationalisierungsagenten in der GKV mutieren.

Gemeinsam ist den genannten Steuerungsinstrumenten, dass sie für die beteiligten Individualakteure (Kassen, niedergelassene Ärzte, Krankenhäuser, Versicherte bzw. Patienten) Anreize schaffen sollen, sich auf der Basis ihrer finanziellen Interessen am Ziel der Ausgaben- und Mengenbegrenzung zu orientieren. Sie sollen Kohärenz zwischen dem gesundheitspolitischem Globalziel der Kostendämpfung und individuellen Handlungsrationalitäten bei der Erbringung, Finanzierung und Inanspruchnahme von Leistungen herstellen.

Dass CDU/CSU und FDP auch den Patienten in dieses System finanzieller Anreize einbezogen, war zum einen Ausdruck der Überzeugung, dass ein umfassender Leistungsanspruch der Versicherten ohne deren direkte Kostenbeteiligung nicht länger finanzierbar und aus ordnungspolitischen Gründen auch nicht wünschenswert sei. Zum anderen sahen sie darin ein Instrument, das dem Gesundheitswesen nun jene kaufkräftige Nachfrage zuführen sollte, die ihm durch die Anbindung der GKV-Ausgaben an die Einkommen aus abhängiger Arbeit bisher vorenthalten worden war. Auf diese Weise sollte die Privatisierung dazu beitragen, Wachstumspotenziale im Gesundheitssektor zu erschließen und entsprechende Beschäftigungsimpulse zu erzielen (vom "Kostenfaktor" zur "Zukunftsbranche").

II. Rot-grüne Gesundheitspolitik: Leitbild und legislative Maßnahmen

Der skizzierte Wandel der Gesundheitspolitik, den SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei der Regierungsübernahme 1998 vorfanden, ging nicht auf das Konto der konservativ-liberalen Regierungskoalition allein. Vielmehr waren die erwähnten Weichenstellungen des GSG im Jahre 1992 in einer großen Koalition von CDU/CSU und SPD vorgenommen worden. Dies gilt jedoch nicht für den erwähnten Privatisierungsschub 1996/97, der zwischen Regierung und Opposition heftig umstritten war.

Das gesundheitspolitische Leitbild, dem die Regierung von Gerhard Schröder in der ersten Legislaturperiode folgte, bestand darin, durch eine Modernisierung von Versorgungsstrukturen und Vertragsbeziehungen Wirtschaftlichkeitspotenziale in der GKV zu erschließen, die es gestatten sollten, das Ziel der Beitragssatzstabilität und das Festhalten an einem einheitlichen, alles medizinisch Notwendige umfassenden GKV-Leistungskatalog miteinander zu verknüpfen.

Seit dem Regierungsantritt von Rot-Grün lassen sich drei recht deutlich voneinander zu unterscheidende Phasen identifizieren. Im Mittelpunkt der ersten Phase (1998 bis 2000) standen die Rücknahme der von der Vorgängerregierung ergriffenen Privatisierungsmaßnahmen und die parlamentarische Durchsetzung eines eigenen ambitionierten Reformprojekts, das eine auf Kostensenkung und Qualitätsverbesserung zielende Modernisierung von Vertragsbeziehungen und Versorgungsstrukturen zum Ziel hatte. In der zweiten Phase (2001 bis 2002) befasste sich die Koalition auf einer Reihe von Feldern (v.a. Kassenwettbewerb und Risikostrukturausgleich, Arzneimittelversorgung) mit der Korrektur sichtbar gewordener Fehlsteuerungen. Seit Beginn der 15. Legislaturperiode verfolgt Gesundheitsministerin Ulla Schmidt mit der Gesundheitsreform 2003 ein recht weitgehendes Reformprojekt, das auf eine weitere Modernisierung von Versorgungsstrukturen zielt, dabei aber - im Unterschied zu den ersten beiden Phasen - eine deutliche Umverteilung der Finanzierungslasten von den Arbeitgebern zu den Versicherten bzw. den Patienten vorsieht.

1. Revision des Privatisierungsschubs und das GKV-GRG 2000

Der im Zuge der "dritten Stufe" der Gesundheitsreform vollzogene Privatisierungsschub bot SPD und Bündnis 90/Die Grünen eine willkommene Gelegenheit, die Gesundheitspolitik der Regierung Kohl zu attackieren und sich als soziale Alternative zu präsentieren. Unmittelbar nach dem Regierungsantritt nahmen sie mit dem Solidaritätsstärkungsgesetz den Großteil der Maßnahmen zurück. Parallel dazu griff die rot-grüne Gesundheitspolitik auf die 1993 in Kraft getretenen und später von der konservativ-liberalen Koalition teilweise aufgehobenen Budgets zurück.

Das GKV-GRG 2000, am 1. Januar 2000 in Kraft getreten, war als umfangreiches Reformwerk angelegt, das die Erreichung der skizzierten Ziele gewährleisten sollte. Welche Grundlinien lassen sich in der Vielzahl der Einzelbestimmungen erkennen? Ebenso wie bei CDU/CSU und FDP genießt das Ziel der Beitragssatzstabilität in der GKV hohe Priorität. Dabei fasste Rot-Grün diesen Grundsatz noch schärfer, als dies in den gesundheitspolitischen Reformen der Ära Kohl geschehen war. Das GKV-GRG 2000 ließ die Eckpunkte der 1992 vereinbarten Organisationsreform - die freie Kassenwahl der Versicherten, den damit institutionalisierten Kassenwettbewerb und den Risikostrukturausgleich (RSA) - unverändert.

Außerdem wurde die Reform von Vergütungsstrukturen fortgesetzt. Dafür steht insbesondere die Einführung diagnosebezogener Fallpauschalen ("Diagnosis Related Groups" - DRGs) bei der Vergütung von Krankenhausleistungen, die man mit guten Gründen als wichtigstes Vorhaben des GKV-GRG 2000 bezeichnen kann. Zum 1. Januar 2004 sollen nahezu alle Leistungen des Krankenhauses auf der Grundlage von DRGs vergütet werden. Bisher erfasst der pauschalierte Anteil nur etwa 25 Prozent der Krankenhauskosten. Mit der DRG-Einführung verfolgt der Gesetzgeber das Ziel, einen Anreiz zur Verkürzung der Verweildauer zu schaffen und auf diese Weise Wirtschaftlichkeitsreserven in der medizinischen Versorgung zu erschließen. Das geschieht nicht mehr wie in der Vergangenheit auf dem Wege der Mengenexpansion, sondern - bezogen auf den einzelnen Behandlungsfall - auf dem der Leistungsminimierung. So können die Krankenhäuser ihren Gewinn erhöhen, denn dieser ergibt sich nun aus der Differenz zwischen der prospektiv fixierten Vergütung und den entstandenen Behandlungskosten.

Das GKV-GRG 2000 enthielt daneben eine Reihe von Bestimmungen, welche die Effizienz der medizinischen Versorgung erhöhen sollten. Im Zentrum steht das Ziel, die hausärztliche Versorgung zu stärken und den Aufbau integrierter Versorgungsformen zu erleichtern. Die Maßnahmen zur Reform von Versorgungs- und Vergütungsstrukturen wurden begleitet von gesetzlichen Vorgaben. Dazu zählen vor allem konkretisierte Pflichten der Leistungsanbieter zum Aufbau eines internen Qualitätsmanagements (§§ 135ff. SGB V). Auch die erneut ins Sozialgesetzbuch aufgenommene Einführung einer Positivliste der verordnungsfähigen Arzneimittel (§ 33a SGB V) zielt auf eine Verbesserung der Versorgungsqualität. Hervorzuheben ist ferner die Wiederaufwertung von Primärprävention und Gesundheitsförderung als Aufgabenfeld der Krankenkassen (§ 20 SGB V). Des Weiteren setzte das GKV-GRG 2000 den Trend der sukzessiven Stärkung der Krankenkassen gegenüber den Leistungserbringern fort. Sie kommt vor allem in der Erweiterung von deren vertragspolitischen Handlungsmöglichkeiten bei der Vereinbarung von Modellvorhaben (§ 64 SGB V) und integrierten Versorgungsformen (§ 140b SGBV) zum Ausdruck. Allerdings blieb der Kompetenzzuwachs der Kassen deutlich hinter deren Forderungen zurück.

2. Korrektur von Fehlentwicklungen

Nach der Verabschiedung des GKV-GRG 2000 rückten eine Reihe von Steuerungsproblemen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, die in erster Linie durch das Festhalten an der geschaffenen Wettbewerbsordnung und durch die Praxis der Budgetierung hervorgerufen worden waren. Die Kumulation dieser Probleme veranlasste die Bundesregierung zu neuerlichen Interventionen, so dass es in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode eher um die nachträgliche Korrektur sichtbar gewordener Fehlentwicklungen als um positive Gestaltungskonzepte ging. Diese Interventionen betrafen vor allem zwei Problemfelder: den Finanzausgleich zwischen den Krankenkassen und die Arzneimittelversorgung.

Recht bald nach dem Inkrafttreten der freien Kassenwahl am 1. Januar 1997 deutete sich an, dass die Reform der GKV-Organisation zu neuen Verwerfungen in der Kassenlandschaft führen würde. Da der Risikostrukturausgleich (RSA) nicht den Krankheitszustand der Versicherten beim Finanzausgleich zwischen den Kassen berücksichtigte, umwarben diese vor allem "günstige" Risiken, also Gesunde. Einige Kassen (in erster Linie Betriebskrankenkassen) waren dabei besonders erfolgreich, hingegen blieben vor allem die Ortskrankenkassen, aber zunehmend auch die großen Ersatzkassen auf ihren "schlechten" Risiken sitzen. Ohne staatliche Eingriffe drohte ein Teufelskreis aus immer neuen Beitragssatzanhebungen und Mitgliederabwanderungen. Zu den bedenklichen Auswirkungen dieses Anreizsystems zählte, dass die Kassen sich angesichts der erheblichen Wettbewerbsvorteile, die eine erfolgreiche Risikoselektion versprach, nicht in der erhofften Intensität um die Schaffung effizienterer Versorgungsformen bemühten. Vor diesem Hintergrund war eine Reform des RSA unausweichlich geworden.

Das 2001 schließlich verabschiedete Maßnahmenpaket verfolgt das Ziel, die Morbidität der Versicherten stärker zu berücksichtigen, so die Anreize zur Risikoselektion zu vermindern und gleichzeitig das Interesse der Kassen an einer verbesserten Versorgung chronisch Kranker zu erhöhen. Von besonderer Bedeutung ist, dass die Kassen aus dem Finanzausgleich zusätzliche Mittel erhalten, wenn sie chronisch kranke Versicherte im Rahmen von "Disease-Management"-Programmen (DMPs) versorgen. DMPs sind sektorenübergreifende Programme zur Behandlung bestimmter chronischer Erkrankungen, die sich an evidenzbasierten Leitlinien orientieren und auf diese Weise dazu beitragen sollen, die Versorgung zu verbessern. Schließlich soll ab 2007 der RSA vollständig am Morbiditätsstatus der Versicherten ausgerichtet werden.

Jedoch erscheint es fraglich, ob das Ziel der verbesserten Versorgung chronisch Kranker mit den eingesetzten Instrumenten erreicht werden kann. Zum einen schafft die Verknüpfung von RSA und DMPs für die Krankenkassen zunächst einmal den Anreiz, eine möglichst hohe Anzahl von Versicherten zu bewegen, sich in derartige Programme einzuschreiben - aber nicht unbedingt einen Anreiz, qualitativ hochwertige Programme aufzulegen und dafür Sorge zu tragen, dass Ärzte und Patienten die vereinbarten Behandlungsleitlinien tatsächlich befolgen. Zum anderen werden starke Anreize zur Risikoselektion fortbestehen, weil sich die DMPs nur auf einen Teil der chronisch Kranken erstrecken. Eine Kasse wird also auch künftig von einer günstigen Risikozusammensetzung ihres Versichertenkreises profitieren.

In der Arzneimittelversorgung standen die seit 1993 geltenden Budgets im Zentrum der Auseinandersetzung. Sie waren vor allem den Vertragsärzten ein Dorn im Auge, weil sie darin eine Einschränkung ihrer Verordnungsfreiheit sahen und im Falle einer Budgetüberschreitung mit einem - allerdings niemals vollzogenen - Kollektivregress bedroht waren. Unter dem Druck der Vertragsärzteschaft hob die Regierungskoalition die Arznei- und Heilmittelbudgets zum 1. Januar 2001 auf. Stattdessen soll die gemeinsame Selbstverwaltung aus Ärzten und Krankenkassen nunmehr auf Bundes- und auf regionaler Ebene eine Obergrenze für die Arzneimittelausgaben vereinbaren und sich gleichzeitig auf die Definition von Versorgungs- und Wirtschaftlichkeitszielen verständigen. Dazu zählen z.B. die Umstellung der Versorgung, wo möglich, auf preisgünstige Generika und der Verzicht auf die Verordnung teurer Arzneimittelinnovationen, deren therapeutischer Zusatznutzen nicht nachgewiesen oder nur gering ist. Allerdings führte die Aufhebung der Budgets zu einem starken Anstieg der Arzneimittelausgaben, den auch die Vielzahl nachträglicher Interventionen nicht verhindern konnte.

Immerhin zeigen die Einführung der DMPs und die Pflicht zum Abschluss von Qualitätsvereinbarungen in der Arzneimittelversorgung, dass Rot-Grün bei der Korrektur von Fehlentwicklungen darum bemüht war, auf eine verbesserte Versorgungsqualität zielende Instrumente in die verabschiedeten Maßnahmenpakete einzubeziehen - wenn auch mit geringem Erfolg (Arzneimittelversorgung) bzw. durchaus ungewissen Erfolgsaussichten (DMPs).

3. Kontinuität und neue Akzente

Das skizzierte gesundheitspolitische Leitbild von Rot-Grün enthält im Verhältnis zur Gesundheitspolitik der Vorgängerregierungen sowohl Kontinuitätselemente als auch neue Akzente. Kontinuität existiert vor allem im Hinblick auf den Vorrang der Ausgabenbegrenzung und das Ziel der Beitragssatzstabilität. Sie lässt sich aber auch im Hinblick auf wichtige Steuerungsinstrumente feststellen: Ebenso wie die konservativ-liberale Koalition hält rot-grüne Gesundheitspolitik an der freien Kassenwahl und dem damit institutionalisierten Kassenwettbewerb fest; desgleichen setzt sie den Trend zur Verlagerung des Morbiditätsrisikos auf die Leistungsanbieter und die Stärkung der Kassenseite fort.

Neue Akzente sind vor allem in den verstärkten Bemühungen zu sehen, die Versorgungsqualität durch die gesetzliche Formulierung von Pflichten bzw. die gesetzliche Schaffung zielführender Handlungsanreize und Handlungskompetenzen zu verbessern. Die wichtigste Differenz zwischen der rot-grünen Gesundheitspolitik während der 14. Legislaturperiode und der vorangegangenen konservativ-liberalen Gesundheitspolitik lag sicherlich in der Frage, ob der einheitliche und alles medizinisch Notwendige umfassende Leistungskatalog der GKV zur Disposition zu stellen ist. Allerdings war die Ablehnung einer weiter gehenden Privatisierung des Krankheitsrisikos bei der SPD und erst recht bei den Grünen niemals unumstritten. Nunmehr zeichnet sich mit dem Entwurf für die Gesundheitsreform 2003 ab, dass die finanzielle Belastung der Versicherten und Patienten einen deutlichen Schub erhalten wird.

Die Bemühungen um erweiterte Optionen und neue Anreize für die Schaffung neuer Versorgungsformen sowie die Maßnahmen zur Verbesserung der Qualitätssicherung sind nicht einfach nur eine Reaktion auf die Versorgungsmängel im deutschen Gesundheitswesen. Vielmehr gewinnen sie eine spezifische Bedeutung im Kontext der skizzierten gesundheitspolitischen Handlungsstrategie. Zum einen waren es in erster Linie diese Maßnahmen, mit deren Hilfe die Regierung Schröder die Effizienz im Versorgungssystem steigern wollte. Dabei schwang stets die Hoffnung mit, auf diesem Wege nicht nur eine bessere Versorgung gewährleisten, sondern auch unnötige Kosten vermeiden zu können. Zum anderen sollten sie aber auch dazu beitragen, den von Budgets, Pauschalvergütungen und Kassenwettbewerb ausgehenden Anreizen zur Unterversorgung und Qualitätsminderung - also z.B. der Kosteneinsparung durch vorzeitige Entlassungen oder Verlegungen von Patienten, durch die Selektion einfacher Behandlungsfälle, durch das Unterlassen von Leistungen - entgegenzuwirken.

Der Trend zur Stärkung wettbewerblicher Elemente hat sich weiter fortgesetzt. In wachsendem Maße wendet sich der Staat direkt an die Individualakteure auf der Mikroebene und erweitert deren versorgungs- und vergütungspolitische Handlungsspielräume. Deutlich wird dies vor allem in den erwähnten Möglichkeiten der Kassen, die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) beim Abschluss von Verträgen über Modellvorhaben und integrierte Versorgungsstrukturen zu umgehen. Dabei erhalten die Kassen diese Spielräume nicht mehr in der Perspektive, sie als Solidargemeinschaft der GKV-Träger, sondern als - zwar in einen öffentlich-rechtlichen Rahmen eingebettete, aber im Kern eben doch - konkurrierende, rational handelnde Wirtschaftssubjekte zu nutzen. Die Implementation derartiger Steuerungsinstrumente geht mit einer partiellen Rückführung korporatistischer Steuerungsformen und mit erweiterten Handlungsspielräumen für die Individualakteure einher, um diese in die Lage zu versetzen, den veränderten Anreizen zu folgen.

Allerdings bedeuten diese Entwicklungstendenzen nicht, dass korporatistische bzw. unmittelbar staatliche Regulierungskompetenzen als Restgröße zu betrachten wären. Vielmehr ist die staatliche Delegation von Handlungskompetenzen an paritätisch zusammengesetzte, zentralisierte, verbandliche Steuerungsgremien nach wie vor von großer Bedeutung und wurde in einigen Bereichen sogar ausgeweitet. Unter diesen Steuerungsgremien ist vor allem der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen, ein paritätisch aus Vertretern von Krankenkassen und Vertragsärzten besetztes Gremium, hervorzuheben. Er erfuhr im Zuge des gesundheitspolitischen Wandels der neunziger Jahre einen neuerlichen Bedeutungszuwachs und ist mit einem umfassenden Auftrag zum Erlass verbindlicher Richtlinien zu nahezu allen Bereichen der ambulanten Behandlung ausgestattet.

Darüber hinaus setzt der Staat einen zunehmend restriktiven Handlungsrahmen für die kollektivvertraglichen Regelungen in der GKV. Dies betrifft insbesondere die Ausgabenentwicklung. Die sektoralen Budgetierungen seit 1993, die Verschärfung des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität, die im Beitragsentlastungsgesetz 1996 staatlicherseits oktroyierte Senkung der GKV-Beitragssätze um 0,4 Prozentpunkte oder das 2003 verfügte Einfrieren von GKV-Ausgaben sind prägnanter Ausdruck hierarchischer Intervention und des Misstrauens gegenüber der Fähigkeit und Bereitschaft der Selbstverwaltung, die Einhaltung globaler Ausgabenziele aus eigener Veranlassung zu gewährleisten.

Dass sich parallel zur Einführung von Wettbewerbsmechanismen und zur Aufwertung der Individualakteure als Regulierungsinstanzen ein partieller Bedeutungszuwachs zentralisierter, parastaatlicher Gremien sowie direkter staatlicher Intervention vollzieht, ist ein Hinweis darauf, dass die Regulierung eines Politikfeldes kein Nullsummenspiel aus wettbewerblichen einerseits und korporativen bzw. staatlichen Regelungen andererseits ist. Einer der wichtigsten Gründe für die Beharrungskraft korporatistischer Regelung und staatlicher Intervention im Gesundheitswesen liegt in den skizzierten Ökonomisierungstendenzen selbst. Beide sind in vielen Fällen eine Reaktion auf wahrgenommene oder aufgrund bisheriger Erfahrungen antizipierte Fehlsteuerungen, die von Budgets, Pauschalvergütungen und Kassenwettbewerb ausgehen. Dies wird insbesondere deutlich im Hinblick auf die formalrechtliche Aufwertung, die das Feld der Qualitätssicherung in den vergangenen Jahren in der GKV erfahren hat. Gerade wegen der Anreize zur Leistungsbegrenzung bzw. -minimierung werden kollektiv verbindliche Qualitätsstandards unverzichtbarer denn je, wenn verhindert werden soll, dass Einsparungen zu einer Minderung der Versorgungsqualität führen.

III. Gesundheitspolitische Ziele und gesundheitspolitische Realität

1. Modernisierung von Versorgungsstrukturen

Inwiefern hat Rot-Grün die drei selbst gesteckten Hauptziele in der Gesundheitspolitik erreicht? Die Bemühungen zur Etablierung neuer Versorgungsformen (Praxisnetze, Hausarztnetze, sektorenübergreifende Versorgung) und zur Verbesserung der Versorgungsqualität haben sich bisher kaum in der Praxis niedergeschlagen. Dies gilt insbesondere für die Schaffung sektorenübergreifender Versorgungsformen auf der Grundlage von § 140a-h SGB V. Die potenziellen Integrationsakteure haben mehr als drei Jahre nach dem Inkrafttreten dieser Bestimmung so gut wie gar nicht von den neuen Handlungsspielräumen in der Vertragspolitik Gebrauch gemacht. Angesichts dessen hat sich die anfängliche Euphorie schnell gelegt.

Auch die in die Etablierung von Praxisnetzen gesetzten Hoffnungen auf eine Qualitätsverbesserung bei ausgabenneutraler oder sogar kostengünstigerer Finanzierung haben sich bisher überwiegend nicht erfüllt. Zwar sind seit dem Inkrafttreten dieser Regelungen eine Reihe von Versorgungsprojekten auf den Weg gebracht worden. Aber eine Veränderung von Versorgungsverläufen hat sich in vielen Fällen ebenso wenig eingestellt wie eine Verbesserung der Behandlungsqualität. Auch Einsparungen lassen sich meistens nicht nachweisen oder fallen nur gering aus. Zumindest in der Anfangsphase verursachen Praxisnetze üblicherweise sogar weit höhere Kosten als die Regelversorgung, und nicht selten werden sie wieder eingestellt. Insgesamt haben sie sich bisher nicht als die Inseln erwiesen, von denen die Modernisierung des gesamten Versorgungssystems ausgehen könnte. Die Bilanz indikationsbezogener Versorgungsformen für chronisch Kranke fällt im Vergleich zu denen von Praxisnetzen etwas positiver aus, jedoch ist ihre Zahl insgesamt sehr gering; bisher wird nur ein sehr kleiner Teil der chronisch Kranken auf diesem Wege versorgt.

Die Ursachen sind vor allem im Widerspruch zwischen Steuerungszielen und -instrumenten zu suchen. Von überragender Bedeutung sind die durch die Wettbewerbsordnung geschaffenen Interessen der Kassen. Der Zuschnitt der GKV-Wettbewerbsordnung schafft einen Anreiz, Konkurrenz in erster Linie auf dem Wege der Selektion "guter Risiken" auszutragen. In der GKV verursachten 1998 und 1999 die teuersten zehn Prozent der Versicherten, bezogen auf Krankenhausbehandlung, Krankengeld und Arzneimittel, etwa 80 Prozent der Leistungsausgaben. Wenn es einer Krankenkasse gelingt, den Anteil dieser Gruppe an ihrem Versichertenkreis möglichst gering zu halten, kann sie viel wirksamer Kostenvorteile gegenüber den Konkurrenten erzielen als etwa über die Schaffung effizienterer Versorgungsstrukturen. Aber Kassen halten sich mit deren Entwicklung nicht nur zurück, weil andere Strategien wirkungsvoller sind, sondern auch, weil aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive wünschenswerte Innovationen sich für die einzelne Kasse als Nachteil im Wettbewerb erweisen können. So können die Krankenkassen kein Interesse daran haben, innovative Versorgungsstrukturen für chronisch Kranke aufzubauen - erst recht dann nicht, wenn sie kostenintensiv sind - und für sie zu werben, denn sie würden Gefahr laufen, damit "teure" Patienten anderer Kassen anzulocken.

Neben den Anreizen des Kassenwettbewerbs wirken vor allem die sektoralen Budgets als Innovationsblockaden: Weil die Gesamtvergütung für ambulante Behandlung budgetiert ist, würde die mit der Integration von Versorgungsverläufen beabsichtigte Verlagerung von Leistungen in die ambulante Versorgung für die Vertragsärzteschaft insgesamt nicht zu einer Erhöhung des Gesamthonorars, sondern zu einer niedrigeren Vergütung für die einzelne Leistung führen. Ein Mehr an Leistungen würde also nicht durch ein Mehr an Geld belohnt werden, sodass im Rahmen der Budgetierungs- und Vergütungsregelungen sowohl kollektiv als auch individuell kein finanzieller Anreiz zum Abschluss von Integrationsverträgen besteht.

Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass wichtige Innovationsprojekte in der Versorgungs- und Präventionspolitik sich schnell im Gestrüpp der Wettbewerbsanreize sowie der geltenden Budgetierungs- und Vergütungsregelungen verfangen. Deutlich wird, dass die Konzipierung, Implementation und Diffusion integrierter Versorgungsmodelle und sozialkompensatorischer Präventionskonzepte komplexe Voraussetzungen haben und es mit der bloßen Erweiterung von gesetzlich eingeräumten Kompetenzen zur Vertragsgestaltung nicht getan ist. Die konstatierten Probleme bei der Implementation innovativer Versorgungsformen bewirken, dass zentrale Steuerungsinstrumente in Widerspruch zu einzelnen Steuerungszielen geraten: Vor allem die sektorale Budgetierung und der Zuschnitt der GKV-Wettbewerbsordnung bringen Handlungszwänge und Anreize hervor, deren Zusammenwirken die Durchsetzung von Innovationen eher behindert als fördert. Ob die DMPs einen Durchbruch bei der Modernisierung von Versorgungsformen darstellen, muss abgewartet werden.

2. Leistungskatalog

Am solidarisch finanzierten und alles medizinisch Notwendige umfassenden Leistungskatalog hat Rot-Grün in der 14. Legislaturperiode festgehalten. Allerdings ist es überaus fraglich, ob unter der formalen Hülle eines aufrechterhaltenen Rechtsanspruchs nicht zumindest in Teilbereichen bereits eine Rationierung medizinischer Leistungen Platz gegriffen hat. Zum einen neigt der aus Vertretern von Kassen und Vertragsärzteschaft zusammengesetzte Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen, der darüber entscheidet, welche Leistungen von den Krankenkassen zu erstatten sind, unter dem Druck der Budgetierung zu einer zunehmend restriktiven Interpretation der Kriterien, aufgrund derer er über die Erstattungspflicht der Kassen entscheidet. Zum anderen gibt es deutliche Hinweise darauf, dass Ärzte aus Kostengründen ihren GKV-Patienten Leistungen vorenthalten bzw. Kassenleistungen privat verordnen, Leistungen in das folgende Abrechnungsquartal verschieben oder Patienten an andere Institutionen des Versorgungssystems weiterleiten.

3. Beitragssatzentwicklung

Die Bundesregierung hat das Ziel, die Beitragssätze in der GKV stabil zu halten, verfehlt. Sie stiegen zwischen 1998 und 2002 von 13,62 auf 14,01 Prozent. Allerdings ist dies in erster Linie eine Folge der lahmenden Konjunktur. Die nominalen Ausgaben je Mitglied sind zwischen 1998 und 2002 um 11,3 Prozent und damit eher moderat angestiegen, die Einnahmen je Mitglied lediglich um 8,7 Prozent. Die Beitragssatzanhebungen haben also weniger mit spezifischen gesundheitspolitischen Entscheidungen zu tun - wenn man einmal von der Aufhebung der Arzneimittelbudgets absieht, in deren Folge die Leistungsausgaben in diesem Sektor stark zunahmen. Allerdings ist der Anstieg der GKV-Ausgaben auch ein Hinweis darauf, dass die Möglichkeiten zur raschen Erschließung von Einsparpotenzialen durch die Modernisierung von Versorgungsstrukturen wohl auch überschätzt worden sind.

IV. Die Gesundheitsreform 2003

Der Sieg bei der Bundestagswahl 2002 leitete eine dritte Phase rot-grüner Gesundheitspolitik ein. Deren Leitlinien werden in dem Gesetzentwurf für die Gesundheitsreform 2003 deutlich, den die Koalitionsfraktionen am 16. Juni 2003 in den Bundestag einbrachten. Legt man die darin niedergelegten Reformabsichten zugrunde, so zeigt sich erstens, dass der Trend zur Stärkung der Finanzierungsträger gegenüber den Leistungserbringern fortgesetzt werden soll. Besonders deutlich wird dies im Hinblick auf die Rolle der KVen: Die alleinige Wahrnehmung des Sicherstellungsauftrags soll künftig auf die hausärztliche Versorgung beschränkt, für die fachärztliche Versorgung hingegen zwischen KVen und Krankenkassen geteilt werden. Fachärzte sollen die Möglichkeit erhalten, aus dem Kollektivvertragssystem auszuscheiden und Einzelverträge mit den Krankenkassen abzuschließen. Für neu in die vertragsärztliche Versorgung eintretende Fachärzte werden Einzelverträge mit den Kassen sogar obligatorisch.

Zweitens zielt der Gesetzentwurf auf eine weitere Modernisierung der Versorgungsstrukturen, insbesondere auf eine Stärkung der hausärztlichen Versorgung und auf einen Ausbau der Qualitätssicherung. Dies kommt u.a. in der geplanten Schaffung eines "Deutschen Zentrums für die Qualität in der Medizin" und in der Öffnung der Krankenhäuser für hoch spezialisierte ambulante Leistungen zum Ausdruck. Außerdem sollen Gesundheitszentren, die bisher nur in den neuen Bundesländern als Relikte der DDR-Polikliniken in geringer Zahl überlebt haben, künftig im gesamten Bundesgebiet zugelassen werden können. Neu ist, dass diejenigen Versicherten, die nicht als erstes einen Hausarzt aufsuchen oder sich nicht an integrierten Versorgungsformen beteiligen, in erheblichem Umfang finanziell belastet werden, nämlich durch die Erhebung einer einmaligen Praxisgebühr von 15 EUR pro Quartal und durch drastisch erhöhte Zuzahlungen bei den Arzneimitteln.

Drittens sieht der Gesetzentwurf jenseits dieser Zuzahlungsbestimmungen eine erhebliche Entlastung der Arbeitgeber und eine Belastung von Versicherten bzw. Patienten bei den Krankenversicherungsbeiträgen vor. In diesem Zusammenhang ist vor allem die Befreiung der Arbeitgeber von der Finanzierung des Krankengelds zu erwähnen, das im Jahr 2002 mit 7,6 Mrd. EUR immerhin 5,3 Prozent der GKV-Ausgaben ausmachte, aber auch die Ausgliederung einiger anderer Leistungen, vor allem die Leistungsbegrenzung bei nicht rezeptpflichtigen Arzneimitteln, sowie die Erhöhung von Zuzahlungen.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass private Haushalte 2001 bereits Zuzahlungen zu GKV-Leistungen in Höhe von rund 9,9 Mrd. leisteten. Auch hinter den Ausgaben für die Selbstmedikation aus Apotheken (2001: 3,9 Mrd. EUR) verbergen sich in erheblichem Umfang Zahlungen von GKV-Versicherten für solche Arzneimittel, die entweder seit Ende der siebziger Jahre aus dem Leistungskatalog ausgegliedert worden sind oder auch gegenwärtig noch der Erstattungspflicht durch die Kassen unterliegen. Zudem ist davon auszugehen, dass die erwähnten Tendenzen zur Ausweitung informeller Rationierungen zu einer Erhöhung der privaten Ausgaben für grundsätzlich dem GKV-Katalog zuzurechnende Leistungen geführt haben, auch wenn deren Höhe nicht exakt zu beziffern ist. Addiert man zu diesen privaten Zahlungen die mit dem Gesetzentwurf verbundenen Belastungen für die Versicherten bzw. Patienten, so dürften sie im Falle einer Umsetzung dieser Pläne bereits rund 60Prozent der Krankenbehandlungskosten zu tragen haben. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass in die Überweisungen aus der Renten- und der Arbeitslosenversicherung an die GKV in relevantem Umfang steuerfinanzierte Bundeszuschüsse eingehen, die ihrerseits überwiegend aus den Abgaben von Arbeitnehmern aufgebracht werden.

Der Entwurf der CDU/CSU für eine Gesundheitsreform 2003 geht noch über die von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vorgesehenen Privatisierungsmaßnahmen hinaus. Er sieht eine Ausgliederung des Zahnersatzes aus der Erstattungspflicht der Krankenkassen (2001: 3,7 Mrd. EUR) sowie eine durchgängige zehnprozentige Zuzahlung zu GKV-Leistungen bis zu einer Höhe von zwei Prozent des Bruttoeinkommens vor.

Ende Juni hat die Regierungskoalition das Gesetzgebungsverfahren zur Gesundheitsreform gestoppt und sich - angesichts der notwendigen Zustimmung des Bundesrates zu weiten Teilen des Gesetzespakets - mit der Opposition darauf verständigt, einen gemeinsamen Gesetzentwurf zu erarbeiten, der im September 2003 vorgelegt werden soll. Dies begründet die Vermutung, dass es bei den bisher vorgesehenen Belastungen von Versicherten und Patienten wohl nicht bleiben wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Thomas Gerlinger, Zwischen Korporatismus und Wettbewerb: Gesundheitspolitische Steuerung im Wandel (WZB-Discussion Paper P02 - 205), Berlin 2002.

  2. Vgl. für den Krankenhaussektor: Michael Simon, Krankenhauspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Historische Entwicklung und Probleme der politischen Steuerung stationärer Krankenversorgung, Opladen-Wiesbaden 2000.

  3. Hier soll es nicht um die Frage gehen, ob finanzielle Anreize für die Versicherten (also z.B. erhöhte Zuzahlungen) auch die Inanspruchnahme von Leistungen tatsächlich in signifikantem Umfang reduzieren; entscheidend ist, dass die politischen Entscheidungsträger sich diesen Effekt, zumindest aber eine finanzielle Entlastung der Krankenkassen, erhoffen. Empirische Befunde sprechen dafür, dass ein Steuerungseffekt vor allem dann eintritt, wenn die Kosten für die Patienten finanziell spürbar sind. In diesem Fall treffen sie aber insbesondere sozial schwache Bevölkerungsschichten und bergen darüber hinaus die Gefahr, dass medizinisch notwendige Behandlungen aus finanziellen Gründen unterbleiben oder verzögert werden.

  4. Vgl. z.B. Philip Manow, Strukturinduzierte Politikgleichgewichte: Das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) und seine Vorgänger (Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Discussion Paper 94/5), Köln 1994.

  5. Beim RSA handelt es sich um ein finanzielles Umverteilungsverfahren zwischen den Krankenkassenarten. Kassen mit günstigerer Versichertenstruktur müssen an Kassen mit ungünstiger Versichertenstruktur einen Teil ihrer Einnahmen abführen. Berücksichtigt wurden dabei zunächst die Parameter "Einkommen", "Alter", "Geschlecht" und "Familienlastquote" sowie "Bezug einer Erwerbsminderungsrente". Der RSA sollte die unterschiedlichen finanziellen Risiken, die sich aus der spezifischen Zusammensetzung ihrer Versichertenklientel ergeben, ausgleichen und die Anreize zur Selektion "guter Risiken" abschwächen.

  6. Vgl. Günter Neubauer, Auswirkungen eines DRG-basierten Vergütungssystems auf den Wettbewerb der Krankenhäuser, in: Eberhard Wille (Hrsg.), Anreizkompatible Vergütungssysteme im Gesundheitswesen, Baden-Baden 2002, S. 159 - 176.

  7. Vgl. Rolf Rosenbrock/Thomas Gerlinger, Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung, Bern 2003 (i.E.).

  8. Vgl. Hans-Jürgen Urban, Wettbewerbskorporatistische Regulierung im Politikfeld Gesundheit. Der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen und die gesundheitspolitische Wende (WZB-Discussion Paper P01 - 206), Berlin 2001.

  9. Vgl. Christina Tophoven, Der lange Weg zur integrierten Versorgung, in: Arbeit und Sozialpolitik, 56 (2002), S. 12 - 17.

  10. Vgl. Olaf Winkelhake/Ulrich Miegel/Klaus Thormeier, Die personelle Verteilung von Leistungsausgaben in der Gesetzlichen Krankenversicherung 1998 und 1999. Konsequenzen für die Weiterentwicklung des deutschen Gesundheitswesens, in: Sozialer Fortschritt, 51 (2002), S. 58 - 61.

  11. Vgl. H.-J. Urban (Anm. 8), S. 36ff.

  12. Vgl. z.B. Bernard Braun, Rationierung und Vertrauensverlust im Gesundheitswesen - Folgen eines fahrlässigen Umgangs mit budgetierten Mitteln?, St. Augustin 2000.

  13. Vgl. Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Gesundheitssystems (Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz - GMG), Bundestagsdrucksache 15/1170 vom 16.6. 2003.

  14. Schätzung des Statistischen Bundesamtes (Auskunft an den Autor, Mai 2003).

  15. Vgl. Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (Hrsg.), Der Arzneimittelmarkt in Deutschland in Zahlen 2001 - Unter besonderer Berücksichtigung der Selbstmedikation, Bonn o.J.

  16. Der Gesetzentwurf geht von einem Entlastungsvolumen für die GKV in Höhe von 5,6 Mrd. EUR (ohne Steuerungs- und Struktureffekte) aus (vgl. Anm. 13, S. 391). Darin ist nicht die Befreiung der Arbeitgeber von der Finanzierung des Krankengeldes enthalten.

  17. Antrag der Abgeordneten Annette Widmann-Mauz u.a., Für ein freiheitliches, humanes Gesundheitswesen - Gesundheitspolitik neu denken und gestalten, Bundestagsdrucksache 15/1174 vom 17.6. 2003.

Dr. phil., Dr. rer. med., geb. 1959; wiss. Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Public Health am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).
Anschrift: WZB, Arbeitsgruppe Public Health, Reichpietschufer 50, 10785 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: gerlinger@wz-berlin.de

Veröffentlichungen u.a.: Arbeitsschutz und europäische Integration, Opladen 2000; (zus. mit Rolf Rosenbrock) Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung, Bern 2003 (i.E.).