Einleitung
Traditionelle Werte, Organisations- und Netzwerkformen sind in den asiatischen Schwellenländern in den vergangenen Jahren massiv in Frage gestellt worden. Die asiatische Finanzkrise hat das Ende der Tycoons und der "old bamboo networks" eingeläutet. Zwar hat die Wirtschaftsentwicklung in den so genannten Tigerökonomien - Südkorea, Hongkong, Taiwan und Singapur - die Gestalt einer V-Kurve angenommen, das heißt, nach drastischen Einbrüchen bestimmt eine starke Erholungsdynamik die ökonomische Entwicklung. Aber mit der einsetzenden ökonomischen Erholung hat sich die Situation nicht entspannt. Vielmehr gibt es in den Tigerökonomien so viele weitreichende Reformen der politischen und ökonomischen Strukturen wie noch nie zuvor. Auf die Krise folgte also keine ruhige Konsolidierungsphase, sondern eine unruhige Restrukturierungsphase. Neue Strukturen sollen eine zweite Finanzkrise von ähnlich dramatischem Ausmaß in Zukunft unmöglich machen. Aber hinter dieser Unruhe steckt noch mehr. Auf der einen Seite suchen die ostasiatischen Gesellschaften nach eigenen Wegen der Modernisierung, nach eigenen Wegen ins Zentrum der Weltwirtschaft. Auf der anderen Seite ist der interne Druck in Richtung auf eine weitere "Verwestlichung" der Ökonomie mit der Finanzkrise stark gewachsen. Damit ist die Vorstellung verbunden, von den westlichen Industrieländern zu lernen, ohne jedoch deren Fehler kopieren zu müssen. Insbesondere in Bezug auf die Unternehmens- und Netzwerkformen stellt sich nun die Frage, ob der "crony capitalism" tatsächlich am Ende ist und was an dessen Stelle rücken könnte.
Seit den neunziger Jahren befinden sich die asiatischen Tigerökonomien jedenfalls in einer Übergangsperiode. Diese findet ihren Ausdruck in der sich sehr unterschiedlich auswirkenden asiatischen Finanzkrise und in den Restrukturierungsbemühungen nach der Krise, die hier am Beispiel von Südkorea und Taiwan genauer analysiert werden sollen.
Die Besonderheiten und Unterschiede in der Entwicklung der asiatischen Schwellenländer zeigen sich gerade auch in der zweiten großen Modernisierungsphase der Nachkriegszeit, deren Gestaltung eine der zentralen Herausforderungen der Tigerökonomien ist. Eingeläutet wurde diese zweite Phase der ökonomischen Modernisierung durch das Zusammenwirken dreier globaler Trends:
Erstens traf die dritte globale Welle der Demokratisierung die asiatischen Schwellenländer mit einiger Wucht.
Zweitens setzte sich die weltweite Bildungsexpansion in den ostasiatischen Schwellenländern mit besonderer Dynamik fort. Dies hatte einen rasanten sozialstrukturellen Wandel zur Folge: Neue soziale Schichten gewannen an Bedeutung, die mit veränderten Werthaltungen und Ansprüchen vom bisherigen Entwicklungspfad abwichen. Dies kam seit 1987 u.a. in Studenten- und Arbeiterunruhen, aber auch in der Etablierung "demokratischer" und "autonomer" Gewerkschaften zum Ausdruck.
Drittens erschütterte der Wandel in der internationalen Arbeitsteilung die weltwirtschaftliche Position beider Ökonomien. Die zunehmende Konkurrenz von unten (von der vierten Generation der asiatischen Niedriglohnländer) und von oben (von den Zentrumsproduzenten) stellte ihre Rolle als Schwellenökonomien immer mehr in Frage.
Die nachhaltige Veränderung der politischen und ökonomischen Institutionen sowie der sozialen Beziehungen hat in den neunziger Jahren dafür gesorgt, dass der alte Modernisierungspfad und mit ihm die erfolgreichen Wirtschafts- und Organisationsmodelle der Tigerökonomien nicht mehr aufrechterhalten werden konnten. Zum ersten Mal seit Beginn des politischen Transformationsprozesses Mitte der achtziger Jahre zeichnet sich nun eine grundlegende Desorganisation der Wirtschaftsmodelle aus der "Gründerzeit"
modernisierten familialen Unternehmensformen und solchen, in denen ein extern rekrutiertes Management die Regie übernimmt;
der Aufrechterhaltung der neotraditionalen Arrangements
der staatlichen Restauration der korporatistischen Erfolgsmodelle der Wirtschaften oder ihrer staatlich induzierten "Desorganisation".
Bei dieser zweiten Modernisierungsphase handelt es sich aber um eine "nachholende Modernisierung" nach westlichem Vorbild. Vielmehr reagieren die asiatischen Schwellenländer mit je pfadspezifischen Gestaltungsformen auf globale Herausforderungen.
Die asiatische Finanzkrise, die Südkorea bis ins Mark getroffen und Taiwan zunächst vergleichsweise unberührt gelassen hat, verdeutlicht, dass sich hinter dem Etikett der "vier kleinen Tiger" ganz unterschiedliche ökonomische Entwicklungspfade verbergen. Die vier kleinen Tiger, so kann man mit Bruce Cumings formulieren, bewegen sich in einem ähnlichen geopolitischen und geo-ökonomischen Kontext auf unterschiedlichen Pfaden.
Ich möchte im Folgenden zeigen, dass die unterschiedlichen Systeme des "organisierten Kapitalismus"
Neue Organisationsformen und die Abkehr von einer familial organisierten Wirtschaft
Das Ende der "Gründerzeit" kommt in den Tigerökonomien nicht nur in einem weit reichende Generationswechsel zum Ausdruck; die neue ökonomische Elite trifft nun in den Unternehmen auch auf hoch qualifizierte Mittelschichten, die andere Formen der Beteiligung, der Mitsprache und der Organisations- und Netzwerkbildung präferieren. Die traditionalen Arrangements verlieren an Boden, neue Organisationsformen sind jedoch noch umstritten.
Den aufsteigenden, hoch qualifizierten und urbanen "neuen Mittelklassen" wuchs in den neunziger Jahren in den zunehmend wissensbasierten Organisationen eine Schlüsselrolle zu, die vor dem Hintergrund neotraditionaler Familiendominanz der "Gründerzeit" für enorme Spannungen sorgte. Diese Modernisierungsspannungen waren in Südkorea aufgrund der geschlossenen Elitenstruktur besonders stark ausgeprägt, während sie in Taiwan auf eher sanfte Weise eine Desorganisation des traditionellen Organisations- und Netzwerkmodells der "Gründerzeit" bewirkten. Die für die Modernisierung wichtigen sozialen Schichten sind also in beiden Schwellenländern nicht die Eliten, sondern die neu entstandenen Statusgruppen in der Mittelklasse. Deren Statuszugewinn geht nun in der zweiten großen Modernisierungswelle der Nachkriegszeit mit dem Autoritätsverlust der neuen alten Eliten einher.
In Südkorea hat das Wirtschaftsmodell der hierarchisch organisierten, familial koordinierten Unternehmensgruppen - der so genannten Chaebol - in den neunziger Jahren zunächst seine enorme Prägekraft behalten. Die "New Economic Policy" (NEP) unter der Regierung von Kim Young-Sam (1993 - 1997), die auf einen Abbau staatlicher Regulierung zielte, hatte die Prinzipien der Marktwirtschaft nicht etwa gestärkt, sondern sie de facto unterlaufen.
Das Festhalten an dem Modell hierarchisch organisierter Unternehmensgruppen in Südkorea ist m.E. auf die Reproduktion der Elitenstruktur der "Gründerzeit" zurückzuführen. Die alten Eliten konnten sich bis zur Restrukturierung im vergangenen Jahr durchgehend auf den Top-Positionen der Chaebol halten. Neun von zehn Präsidenten bzw. Vorstandsvorsitzenden der größten südkoreanischen Unternehmensgruppen sind Gründer oder gehören einer Gründerfamilie an. Die Erwartung, dass mit der Nachfolge der sehr gut (zumeist in den USA) ausgebildeten Generation der Gründersöhne auch neue Handlungsrationalitäten Einzug halten würden, erwies sich in den neunziger Jahren als weitgehend illusionär.
Externe Manager sind zwar nur selten an der Firmenspitze zu finden, dafür aber sehr viel häufiger unterhalb der Vorstandsebene. Auf diese Weise wurden die Chaebol zum Spiegelbild eines sozialstrukturellen Wandels: Alte Eliten stießen auf eine bedeutender werdende Gruppe von leitenden Angestellten und Experten mit anderen Werthaltungen und Ansprüchen. Diese läutete, so meine These, in den neunziger Jahren das Ende der "Gründerzeit" ein. Denn die Manager und Professionals werden nach der Finanzkrise immer mehr zu Schlüsselfiguren der Chaebol, da sie den von außen induzierten Unternehmenswandel vorantreiben.
Während in Südkorea eine vergleichsweise verriegelte Elitenstruktur dafür sorgte, dass der Wertewandel in der Ökonomie in den neunziger Jahren nur selten strukturelle Veränderungen nach sich zog, ermöglichte die offenere Elitenstruktur in Taiwan eine stärkere Anpassung ökonomischer Strukturen an den soziokulturellen Wandel und sorgte auf diese Weise für eine eher "schleichende Desorganisation" des taiwanesischen/chinesischen Wirtschaftsmodells.
Anders als in Südkorea erfolgt die Erneuerung der Führungskräftestruktur in Taiwan sehr viel stärker durch Neugründungen und Unternehmensaufgaben als über deren Zirkulation innerhalb großer Unternehmensgruppen. Die kleinformatigen Unternehmensnetzwerke haben im Gegensatz zu den südkoreanischen Unternehmensgruppen für eine vergleichsweise offene Struktur ökonomischer Eliten gesorgt. Zwar existierten die Klein- und Mittelunternehmen auch in Taiwan in den vergangenen Jahrzehnten im Durchschnitt länger, aber noch im Jahr 2002 bestanden nur 16 Prozent der Klein- und Mittelunternehmen länger als 20 Jahre.
Die überwiegende Zahl der taiwanesischen Unternehmen befand sich auch in den neunziger Jahren noch im Familienbesitz, Die höchsten Positionen werden vererbt; eine Trennung von Besitz und Kontrolle gibt es selbst bei Großunternehmen nur selten. Häufig bekleiden die Söhne und Brüder der Firmengründer Managementposten in der Firma oder haben eine der Tochterfirmen übernommen. Dennoch lässt sich im Unterschied zu den südkoreanischen Unternehmensgruppen erkennen, dass sich in fast der Hälfte der von mir untersuchten Fälle Eigentümerunternehmen an Stelle von Familienunternehmen etabliert haben und in mehr als der Hälfte der Fälle Manager die Positionen des Vizepräsidenten oder General Managers besetzen. Der Einzug von externen Managern in die Führungspositionen der kleinformatigen taiwanesischen Unternehmensnetzwerke ist damit sehr viel weiter fortgeschritten als bei den Großunternehmen in Südkorea. Dies kann als Indikator für ein deutlich stärkeres Greifen der zweiten Modernisierungswelle in Taiwan gewertet werden.
Das viel beschriebene neotraditionale Modell der kleinformatigen Unternehmensnetzwerke ist nach meinen Ergebnissen nicht mehr die dominante Organisationsform; es hat vielmehr in der zweiten Modernisierungsphase stark professionalisierten Organisationsformen Platz gemacht.
Wie in Südkorea kommt die "neue Mittelklasse" auch in Taiwan nur noch zu einem Fünftel aus der Bauern- oder Arbeiterschicht. Beinahe 60 Prozent besitzen einen Universitätsabschluss und verfügen im Durchschnitt über ein wesentlich höheres Einkommen als die alte, unternehmerische "Mittelklasse". Ihr größtes Engagement gilt - dies ist u.a. Ausdruck von postmaterialistischen Werthaltungen - der Umweltbewegung. Insgesamt ergibt sich das Bild einer gut situierten, selbstbewussten neuen Mittelklasse, die zunehmend die Schlüsselpositionen in Taiwans Betrieben einnimmt. Auch in Taiwan sind also die autoritären, familialen Entscheidungsstrukturen aufgebrochen. Das neotraditionale chinesische Organisationsmodell wurde in den jungen, aufstrebenden Industriezweigen weit gehend abgelöst.
Die zweite Arbeitergeneration und das System industrieller Beziehungen
Die Gründe für diese innere Desorganisation des ostasiatischen Wirtschaftsmodells sind unter anderem auf der Ebene der Arbeiterschaft und des Systems industrieller Beziehungen zu finden. Auch von dieser Seite verliert das Wirtschaftsmodell der "Gründerzeit" seine Verankerung. Nicht so sehr die Erosion der Massenorganisationen der Arbeiterschaft steht dabei (wie in einigen westlichen Industrieländern) im Vordergrund, sondern die Abkehr von einem auf die eine oder andere Weise staatlich regulierten und oktroyierten System industrieller Beziehungen.
Dabei spielt zunächst auch hier eine Rolle, dass eine zweite, im Vergleich zur ersten Generation sehr stark urbanisierte und gut qualifizierte Generation von Arbeiterinnen und Arbeitern die neu entstehenden Systeme industrieller Beziehungen in beiden Schwellenökonomien zunehmend prägt. Die südkoreanische Industrie verfügt heute ebenso wie die taiwanesische über eine im weltweiten Vergleich
In Südkorea ist die staatliche Absicherung der Großindustrie gelockert worden. Die Gewerkschaften haben sich in den neunziger Jahren trotz ihres abnehmenden Organisationsgrades und des zunehmenden Arbeitsfriedens inner- und außerhalb der Unternehmen zu einem wichtigen Faktor im System industrieller Beziehungen entwickelt. Insbesondere nach der Restrukturierung 1997 und 1998 können Arbeitskonflikte in den Betrieben immer weniger externalisiert und dem Staat überantwortet werden. Thomas A. Kochan sprach bereits 1994 von einer "shock effect-period", in der sich das Management der südkoreanischen Unternehmensgruppen professionalisieren musste.
Die Regeln dafür haben sich geändert. Während in der Vergangenheit 30 Arbeitnehmer erforderlich waren, um eine Betriebsgewerkschaft zu gründen, genügen heute zwei.
Das System industrieller Beziehungen ist mit diesen Änderungen in den vergangenen Jahren erheblich in Bewegung geraten. Dabei ist Raum für seine Neustrukturierung entstanden. Bis heute ist jedoch unentschieden, ob sich ein neuer, formalisierter "Sozialvertrag" durchsetzt oder die neotraditionalen Arrangements wieder die Oberhand gewinnen.
In Taiwan hat sich das strukturelle Korsett des Systems industrieller Beziehungen mit der Demokratisierung seit 1987 zunächst nicht geändert. Erst seit 1997 sind auf die Novellierung von Arbeitsgesetzen und Gewerkschaftsstrukturen gerichtete Reformanstrengungen erkennbar, deren Reichweite allerdings ebenfalls noch unklar ist. So waren die industriellen Beziehungen in den neunziger Jahren insgesamt durch ein hohes Maß an Kontinuität gekennzeichnet. Daran änderte auch das Aufkommen einer zweiten, hoch qualifizierten und urbanen Generation der Industriearbeiterschaft nichts, da diese in ungleich geringerem Maße gewerkschaftlich aktiv war als jene in Südkorea. Noch immer wirkt hier die Tradition der parteistaatlichen Einbindung der Gewerkschaften nach. Nach wie vor, so meine These, ist das System industrieller Beziehungen in Taiwan durch eine Schwäche der Gewerkschaften im Hinblick auf die kollektive Handlungsfähigkeit gekennzeichnet. So ist der Aufbau von betrieblichen und überbetrieblichen Interessenvertretungen aufgrund der kleinformatigen Unternehmen und Unternehmensnetzwerke sowie einer hohen Firmenfluktuation besonders schwierig. Die "Industriegewerkschaften" sind hier qua Gesetz Betriebs- und keine Unternehmensgewerkschaften.
Die Reformen der Post-Entwicklungsstaaten: Zwischen De- und Re-Regulierung
Beide Ökonomien waren lange Zeit durch ein straffes "politisches Korsett" gebunden. Dies war nach Alexander Gerschenkron eine wichtige Voraussetzung für den ökonomischen Erfolg der "Spätentwickler".
In Südkorea ist es allerdings in den neunziger Jahren zu einer ungleich stärkeren Erosion der zentralen Prinzipien des Entwicklungsstaates - verbunden mit einem Rückgewinn an Regulierungskraft während und nach der asiatischen Finanzkrise - gekommen. Diese Erosion trug zur unsteten ökonomischen Entwicklung Südkoreas und zum dramatischen Durchschlagen der asiatischen Finanzkrise bei. Das gewohnte Maß an Zuverlässigkeit, Berechenbarkeit und Planbarkeit ging verloren und ließ den Chaebol so in der ersten Hälfte der neunziger Jahre weitgehende Handlungsfreiheit. Doch im Zuge der Krise gewann der Staat seine dirigierende und regulierende Funktion zurück. Hyun-Chin Lim spricht in seiner Analyse sogar von einer neo-konservativen Rolle des Staates, der seine Macht im Zuge der Restrukturierung der südkoreanischen Wirtschaft zurückerobert habe.
Auch die Politik der Regierung Kim Dae-Jung ist auf die wohlfahrtstaatliche Absicherung gerichtet. Der Wachstumspakt, der mit der Vernachlässigung wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen einherging, wurde mit den Auswirkungen der asiatischen Finanzkrise endgültig durchbrochen. Die institutionellen Absicherungen des autoritären Entwicklungsstaats wurden in den neunziger Jahren zunehmend obsolet, ohne dass ein neues System wohlfahrtsstaatlicher Regulierung in Grundzügen bereits erkennbar wäre. Zwischen Desorganisation und Reorganisation versucht der Post-Entwicklungsstaat heute ein Profil zu gewinnen, das für eine neue Ära ökonomischer Entwicklung tauglich sein könnte.
In Taiwan veränderten sich die zentralen Prinzipien des Entwicklungsstaat durch die Beharrlichkeit der Kuomintang (KMT)-Regierung hingegen eher langsam. Erst in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre begannen institutionelle Veränderungen in der Ausgestaltung der politischen Institutionen zu greifen. Im Zuge der Reform von oben schaffte die KMT-Regierung den autoritären Entwicklungsstaat schließlich ab, bevor sie (zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte Taiwans) selbst abgewählt wurde. Demokratisierung, Liberalisierung und Internationalisierung standen von nun an auf dem politischen Programm. Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hat sich die gesellschaftliche Einbettung von Staat, Regierung und Parteien langsam gewandelt.
Die Weiterentwicklung des Wohlfahrtsstaates ist mit der Demokratisierung zunehmend zu einem bedeutenden Wahlkampfthema geworden, und die KMT-Partei hat deshalb Ende der neunziger Jahre weitere Maßnahmen zur sozialen Absicherung ergriffen. "In order to struggle for votes in a democracy", so Yuen-Wen Ku, "the KMT state has headed in the direction of increased state welfare."
Die Konturen des autoritären Entwicklungsstaates verblassten in Taiwan nur langsam. Erst gegen Ende der neunziger Jahre zeichnete sich ein grundlegender Wandel in Richtung auf einen Post-Entwicklungsstaat ab. Seine wirtschaftspolitische Ausrichtung aber bleibt ebenso umstritten wie in Südkorea. Auch in Taiwan spielt jene Wegscheide eine immer stärkere Rolle, die für die politischen Systeme in Ostasien typisch erscheint. Die Legitimationspolitiken beginnen in Taiwan ebenso wie in Südkorea zwischen einem deutsch-skandinavischen Wohlfahrtsmodell und einem anglo-amerikanischen Neo-Liberalismus zu oszillieren.
Ausblick
Bisher gab es gute Gründe, von einem "organisierten Kapitalismus" in den asiatischen Schwellenländern zu sprechen. Die von Scott Lash und John Urry für Europa entwickelten Regeln passten nur zu gut auf die Situation der Tigerökonomien: Je später die Industrialisierung in einem Land einsetze, je mehr vorkapitalistische Institutionen überlebten und je niedriger die Bevölkerungszahl eines Landes sei, desto stärker organisiert werde seine Wirtschaft sein.
Sowohl die südkoreanischen Großunternehmensgruppen als auch die taiwanesischen Unternehmensnetzwerke können sich dem damit verbundenen Druck immer weniger entziehen. Dieser ist auch deswegen so stark, weil zwei sozialstrukturelle Entwicklungen aufeinander treffen und sich wechselseitig verstärken: Eine deutliche gesellschaftliche Aufwertung neuer Mittelschichten geht mit einem Generationswechsel innerhalb der Eliten einher, der ein Festhalten an traditionalen Arrangements deutlich erschwert. Die Desorganisation zentraler Parameter der althergebrachten Wirtschaftsmodelle ist die Folge.
Innergesellschaftlich ist die Dynamik der industriellen, politischen und sozialen Transformation in Südkorea von einem "Statuskonflikt" zwischen Elite- und Subelitegruppen geprägt. Dieser spielt m.E. eine noch stärkere Rolle für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung des Landes als jener zwischen Kapital und Arbeit. Der Konflikt zwischen Eliten und Subeliten in den Chaebol - also zwischen den neuen alten Eliten und der neuen Mittelklasse - treibt derzeit die Desorganisation der Chaebol von innen voran. Das Ausbleiben eines Wandels der Organisationsstrukturen erwies sich nicht nur als teuer und hat zu einem Durchschlagen der (durch eine "financial panic" ausgelösten) asiatischen Finanzkrise beigetragen. Es hat auch dazu geführt, dass das Innovationspotential der "neuen Mittelklassen" nicht wirklich genutzt wurde. Deshalb trieb der ungelöste Konflikt zwischen Eliten und Subeliten die faktische Desorganisation der Chaebol - und damit des südkoreanischen Wirtschaftsmodells insgesamt - weiter voran. Davon war auch das System industrieller Beziehungen betroffen. Seine Neustrukturierung, die erst Mitte bzw. Ende der neunziger Jahre einsetzte, ist von der Suche nach einem neuen "Sozialpakt" mit formellen Beteiligungsrechten geprägt, der jedoch gesellschaftlich noch sehr umstritten ist. Aber auch diese Desorganisation und Neuausrichtung ist, wie jene nach den neuen Konturen und Aufgaben eines Post-Entwicklungsstaates, von oben organisiert. Der Entwicklungspfad Südkoreas vor, während und nach der Krise lässt sich deshalb am ehesten als "teilweise radikale Desorganisation" des Wirtschaftsmodells "von oben" kennzeichnen.
In Taiwan hingegen ist in den vergangenen Jahren eher eine "schleichende Desorganisation" des Wirtschaftsmodells "von innen" zu beobachten. Sie hat das Land - nach einer kontinuierlichen ökonomischen Entwicklung in den neunziger Jahren - heute an den Rand einer Wirtschaftskrise geführt; diese ist gekennzeichnet durch eine nur langsame strategische Neupositionierung in der Weltwirtschaft sowie die weitgehende Verlagerung der gesamten arbeitsintensiven Produktion ins ökonomische Hinterland der Volksrepublik China. Die schleichende Desorganisation macht sich zunächst in der sukzessiven Abkehr von dem neotraditionalen Modell chinesischer Unternehmensnetzwerke bemerkbar; sie sorgt zusammen mit der offenen Elitenstruktur dafür, dass die Spannungen zwischen den aufstrebenden neuen Mittelschichten und den ökonomischen Eliten viel geringer ausgeprägt sind als in Südkorea. Die Desorganisation zeigt sich dann auch in der nach wie vor großen Vertretungsschwäche der Gewerkschaften, die noch zu keinem neuen System industrieller Beziehungen gefunden haben. Am deutlichsten erkennbar ist sie jedoch an den Konturen des Entwicklungstaates, die in den neunziger Jahren aufgrund der Dominanz der KMT nur langsam verblassten.
Sowohl in Südkorea als auch in Taiwan lässt sich die Desorganisation der Wirtschaftsmodelle derzeit an den Unsicherheiten, Turbulenzen und Rückschlägen in der ökonomischen und sozialen Entwicklung ablesen. Beide Ökonomien befinden sich in einer "Statuspassage", deren Ausgang nicht nur ungewiss, sondern auch von mehr oder weniger starken Modernisierungsspannungen überschattet ist. Die ostasiatischen Tigerökonomien stehen am Ende ihrer "Gründerzeit". An der Wegscheide zwischen Familien- und Managerkapitalismus müssen die ostasiatischen Firmen zu neuen Unternehmensformen finden, die in stärkerem Maße Professionalität zulassen und die Entfaltungsmöglichkeiten der aufsteigenden "neuen Mittelschichten" berücksichtigen. Die Selbstverständlichkeit der tendenziell autokratischen, "neotraditionalen Arrangements" der "Gründerzeit" hat nachgelassen. Zwischen Desorganisation und Restrukturierung müssen die Tigerökonomien nun zu neuen Wirtschaftsmodellen finden, um ihren Weg ins Zentrum der Weltwirtschaft fortzusetzen.