Zivilgesellschaftliche Diskurse inder westlichen Welt
Zivilgesellschaftliche Diskurse beziehen sich im Wesentlichen - explizit oder implizit - auf westliche Gesellschaften. Dabei verlaufen die Debatten entlang der unterschiedlichen Ideologien in den USA und in Westeuropa.
Vergleichbare Bewegungen in Asien, etwa in China, haben jedoch nicht zu einer Diskussion im Westen geführt. Erst der Erfolg zivilgesellschaftlicher Akteure in Asien einerseits und das Beharren der staatlichen Organe auf einer spezifisch asiatischen Interpretation des Begriffs andererseits - etwa in der Menschenrechtsdebatte - haben die Aufmerksamkeit des Westens geweckt. Allerdings herrscht der westliche Beurteilungsmaßstab vor; damit verbunden ist die Vorstellung, dass es in den meisten Ländern Asiens gar keine zivilgesellschaftlichen Strukturen oder Organisationen gibt. So wird in westlichen Publikationen, etwa in Berichten der Weltbank oder international vergleichenden Surveys, allein die Zahl der nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen (NGO) als Indikator verwendet. Auch die vielfältigen Dezentralisierungskonzepte haben in aller Regel einen dezidiert westlichen Zuschnitt.
In diesem Beitrag soll verdeutlicht werden, dass zivilgesellschaftliche Diskurse in hohem Maße kontextgebunden sind und sich viele Länder in Asien in einem tief greifenden Transformationsprozess befinden. Vor diesem Hintergrund stehen nicht allein Fragen der politischen Partizipation zur Debatte, sondern sehr viel umfassendere Prozesse sozialer und ökonomischer Integration. Weiter wird hier argumentiert, dass es aus dieser Perspektive in der Region schon immer zivilgesellschaftliche Institutionen gegeben hat, die in traditioneller Weise Integrationsprozesse beförderten. Diese zumeist noch intakten Institutionen werden vom Westen, z.B. in der Entwicklungspolitik, aber kaum wahrgenommen. Oft arbeiten beide Seiten nebeneinander her oder behindern sich gar gegenseitig. Ein produktives Zusammenwirken ist nur dann möglich, wenn der Aufbau eines integrierenden Institutionengefüges gelingt, das nicht nur politische Partizipation, sondern auch ökonomische und soziale Integration auf der Grundlage traditioneller und zugleich moderner zivilgesellschaftlicher Formen gewährleistet.
Ich beziehe mich hier nur auf die Staaten Südostasiens, die zuletzt der Association of South East Asian Nations (ASEAN) beigetreten sind und nach ihren Ländernamen auch als CLMV-Region bezeichnet werden.
Transformationsprozesse bilden einen besonderen Rahmen für zivilgesellschaftliche Diskurse
Bei den Ländern der CLMV-Region handelt es sich um Transformationsländer. Damit ist gemeint, dass sich diese Länder in mindestens einem gesellschaftlichen Bereich, oft aber auch in mehreren zugleich, in einem radikalen Veränderungsprozess befinden; in der CLMV-Region sind dies die Einführung der Marktwirtschaft und zum Teil heftigepolitische Umbrüche. Wirtschaftlich gesehen besitzt Kambodscha einen offenen Markt, in Laos wird ein New Economic Mechanism-Ansatz (NEM) praktiziert, selbst in Myanmar/Burma gibt es eine vorsichtige wirtschaftliche Öffnung, und in Vietnam findet ein erfolgreicher Doi-Moi-Prozess, eine Reformpolitik, statt. Hinzu kommen die politischen Veränderungen: In Kambodscha gibt es nach dem Terror der Roten Khmer und der vietnamesischen Besatzung seit 1991 mit der Einsetzung der United Nations Transitional Authority in Cambodia (UNTAC) Demokratisierungsbestrebungen. In Laos existiert seit dem Bürgerkrieg 1975 ein kommunistisches Einparteiensystem, Myanmar/Burma erlebte 1988 einen Militärputsch, und in Vietnam herrscht nach dem Bürgerkrieg und den kriegerischen Auseinandersetzungen mit den USA seit dem Paris Peace Accord von 1973 ebenfalls die kommunistische Partei. Derart tief greifende Wandlungsprozesse haben beträchtliche Folgen für das soziale Zusammenleben. Die CLVM-Region ist in den vergangenen Dekaden unter starken Veränderungsdruck geraten.
Allein diese knappe Aufzählung verdeutlicht die Schwierigkeit, (...) zivilgesellschaftliche Ausprägungen nach unseren westlichen Maßstäben zu bewerten. Soziologisch gesehen ist es zudem unzureichend, nur nach der politischen Partizipation zu fragen. Die Herausforderungen in diesen Ländern sind weit umfassender, weil es auch um ökonomische und soziale Probleme geht. Es ist deshalb notwendig, den engen politikbezogenen Zugang aufzugeben und die Interdependenz zwischen sozialen Prozessen, Markt und Zivilgesellschaft zu untersuchen. Studien zur Transformationsforschung können hier hilfreich sein, weil diese die Kontextgebundenheit zivilgesellschaftlicher Praxis und Diskurse ernst nimmt und unterschiedliche kulturelle und nationale Verwendungsweisen berücksichtigt.
Traditionelle und moderne zivilgesellschaftliche Institutionen in der CLMV-Region
1. Die Rolle buddhistischer Institutionen in Kambodscha
Kambodscha erscheint als ein Land, in dem die soziale Ordnung auf den ersten Blick vollkommen zerstört ist. In wirtschaftlicher Hinsicht ist es überwiegend agrarisch strukturiert; 80 Prozent der Menschen arbeiten in der Landwirtschaft, es gibt kaum eine nennenswerte Industrie, und die Infrastruktur ist durch den Bürgerkrieg noch stark zerstört. Das Humankapital ist ebenfalls kaum entwickelt. In den vergangenen Jahren gab es ein relativ gleichmäßiges Wirtschaftswachstum auf niedrigem Niveau. Die politische Situation ist in hohem Maße durch die Einflussnahme der internationalen Gemeinschaft geprägt. Kambodscha hat sich - oberflächlich betrachtet - stabilisiert; die gewaltsamen Ereignisse bei den Wahlen 2003 zeigen allerdings die Fragilität der Lage. Angesichts dieser Situation ist es ein "Wunder", dass die Gesellschaft zusammenhält - insbesondere wenn man bedenkt, dass ein tiefes Misstrauen unter den Bürgern des Landes herrscht.
Nach Meinung der meisten Experten sind es die Monarchie und der Buddhismus, die in entscheidender Form integrative Wirkung ausüben. In einer Selbststilisierung und in Anlehnung an die zwei Räder des Dharma spricht König Sihanouk von den "wheels of the chariot of Khmer nationalism"
Derartige Reis-Assoziationen verdeutlichen das entwicklungspolitische Dilemma beim Aufbau wirtschaftsfördernder Strukturen. Erstens zeigen sie, wie zivilgesellschaftliche Strukturen (Assoziationen), wirtschaftliches Handeln (Reisanbau und [Um-]Verteilung) und soziale Organisation (durch die Pagoden) auf der Ebene von Gemeinwesen zusammenwirken. Integration und Partizipation sind zwei Seiten einer Medaille. Zweitens wird der Charakter der wenig oder gar nicht formalisierten Selbstorganisationen deutlich, die traditionell verankerte reziproke und kooperative Handlungsmuster verdichten und somit wirtschaftliches Handeln gleichsam tragen.
Darüber hinaus bleiben (und das Beispiel der Reis-Assoziationen macht dies sehr deutlich) Organisationen, die von traditionellen Strukturen unabhängig sind und an den organischen zivilgesellschaftlichen Zusammenhalt nicht anknüpfen können (oder wollen), ein Fremdkörper in der Gesellschaft. Dies trifft auf die meisten modernen, nach westlichem Vorbild importierten Organisationen der Zivilgesellschaften zu. Hema Goonatilake spricht denn auch treffend von "organic and artificial civic society structures".
2. Die zivilgesellschaftliche Situation in Laos und Myanmar/Burma
Anders als für Kambodscha existiert zur zivilgesellschaftlichen Situation in Laos und Myanmar/Burma wenig sozialwissenschaftliche Literatur; das hängt damit zusammen, dass es insgesamt nur wenige empirische Studien gibt. Deshalb kann die zivilgesellschaftliche Situation in Laos weniger eindeutig bestimmt werden: Die wirtschaftliche Lage ist weitaus schlechter als in Kambodscha, obwohl die Zuwachsraten mit rund fünf Prozent relativ gut sind. Das Land ist jedoch noch stärker agrarisch dominiert als Kambodscha, und es gibt kaum Infrastruktur oder Ansätze zur Entwicklung des Humankapitals. Laos zählt zu den ärmsten Ländern der Welt, und mehr als die Hälfte des Staatshaushalts wird seit Jahrzehnten von der internationalen Gebergemeinschaft getragen. Durch das kommunistische Einparteiensystem ist das Land jedoch stabiler als der Nachbarstaat Kambodscha. Im Hinblick auf den sozialen Zusammenhalt wirken viele Faktoren erschwerend: Nur etwa 60 Prozent der Bevölkerung können als buddhistisch orientiert bezeichnet werden, während sich die übrigen in einem animistischen Welt- und Kosmosgefüge verankert sehen.
Dieser Sachverhalt gilt auch für Myanmar/Burma. Hier leben knapp 70 Prozent Burmesen und jeweils knapp zehn Prozent Shan und Karen sowie mehr als 130 weitere ethnische Gruppen - die Bevölkerungszahl ist jedoch mit fast 50 Millionen Einwohnern etwa achtmal so hoch wie die von Kambodscha oder Laos. Myanmar/Burma ist ebenfalls ein wirtschaftlich schwach entwickeltes Land, das aber über eine intaktere Infrastruktur verfügt und außer in der Landwirtschaft auch im Bereich der Leicht- und Schwerindustrie sowie im Reishandel engagiert ist; es gibt stärker ausgeprägte internationale Wirtschaftsbeziehungen sowie Auslandsinvestitionen und Joint ventures.
Anders als in Kambodscha und Laos kann in Myanmar/Burma, so räumt selbst die kritische International Crisis Group (ICG) ein, in Bezug auf die demokratische Phase in der Vergangenheit von einer "vibrant civil society" gesprochen werden.
3. Zivilgesellschaftliche Bedeutung autonomer Dorfstrukturen in Vietnam
Vietnam hat sich in der CLMV-Region wirtschaftlich am besten entwickelt. Es ist politisch äußerst stabil und sowohl im ASEAN-Verbund als auch auf internationaler Ebene sehr gut integriert. DieExportraten umfassen fast 50 Prozent des Sozialprodukts; Vietnam ist inzwischen der zweitgrößte Reis- und Kaffee-Exporteur der Welt. Mit 80 Millionen Einwohnern ist es neben Thailand (62 Millionen) das bevölkerungsreichste Land der Mekong-Region, etwa ein Viertel der Bevölkerung lebt in urbanen Zentren. In Vietnam sind etwa 80 Prozent der Einwohner buddhistisch, allerdings in der mahayanischen Richtung und stark animistisch orientiert sowie konfuzianisch geprägt. Es ist das ethnisch homogenste Land der Region (nur rund zehn Prozent der Bevölkerung gehören ethnischen Minoritäten an).
Die Entwicklung der Zivilgesellschaft Vietnams ist deshalb interessant, weil sie eine Reihe von Parallelen, aber auch Abweichungen gegenüber den anderen Ländern der CLMV-Region aufweist. So gibt es, geprägt durch das kommunistische Einparteiensystem, eine ähnliche Struktur von Großorganisationen und Einflussnahme auf freiwillige Assoziationen und Verbände wie in Laos; und wie in Kambodscha gibt es wegen der Offenheit Vietnams eine Vielzahl westlich orientierter nationaler und internationaler NGO's sowie relativ autonome Vereinigungen.
Anders als in allen übrigen Ländern ist der sozialintegrative Einfluss des Buddhismus in Vietnam geringer, und es bestehen vor allen Dingen nicht die engen Verknüpfungen zum wirtschaftlichen Bereich. Es gibt jedoch in diesem Zusammenhang eine Besonderheit, die von zivilgesellschaftlicher Relevanz ist: die relativ autonom und selbst organisierten Strukturen in den Dörfern, die eigene, oft gering formalisierte Gesetzmäßigkeiten aufweisen. Es heißt, jedes Dorf sei eine eigene Republik, obwohl es gleichzeitig - dem Prinzip konfuzianischer Organisation folgend - in bürokratische Strukturen eingebunden ist.
Werden derartig komplexe Strukturen und kulturelle sowie wirtschaftliche Verankerungen bei (gut gemeinten) entwicklungspolitischen Interventionen nicht berücksichtigt, dann lassen sich weder die vorhandenen Selbsthilfepotentiale stärken noch integrative oder partizipative Prozesse befördern. Hier gibt es Beispiele, die durchaus auch das staatliche Handeln betreffen. So beschreiben Adam Fforde/Nguyen Dinh Huan den Unterschied zwischen den organischen, auf Freiwilligkeit beruhenden kooperativen Gruppen und den politisch erwünschten modernen Kooperativen, denen die Bevölkerung mit Skepsis begegnet.
Gibt es in der Mekong-Region einen eigenen Weg in die Zivilgesellschaft?
Nach der Beschreibung der zivilgesellschaftlichen Situation in den CLMV-Ländern Südostasiens und der entwicklungspolitischen Implikationen soll abschließend die mögliche Rolle Südostasiens im internationalen Diskurs über die Zivilgesellschaft betrachtet werden. Dabei ist unsere empirische Beobachtung wichtig, dass in den Ländern der Mekong-Region, Thailand also eingeschlossen, bereits zivilgesellschaftliche Diskurse geführt werden, die sowohl internationale Debatten als auch die eigene Situation reflektieren. Dies zeigen die hier genannten Autoren
Dabei wird immer wieder auf die besondere Situation in der Region hingewiesen, die eine eigene Einbettung des Diskurses erfordere; es gelte die Transformationssituation zu berücksichtigen, die primär eine Analyse von Integrationsprozessen erfordere. Problemen der politischen Partizipation wird eine nachrangige Bedeutung zugeschrieben. Allerdings fällt auf, dass die europäisch geprägte Transformationsforschung kaum rezipiert wird. Des Weiteren wird die auch in diesem Beitrag vertiefte Debatte um traditionelle versus moderne zivilgesellschaftliche Institutionen geführt, wobei sowohl ein plurales Nebeneinander als auch ein Zusammenwirken denkbar erscheint.
Im Hinblick auf Verknüpfungsmöglichkeiten wird auch diskutiert, inwieweit moderne Organisationen zu stark auf Mittelschichten gründen, und es wird immer wieder die Vermutung aufgestellt, dass viele vom Ausland finanziert würden. Deshalb gibt es vielfältige Bemühungen, eigenständige Strukturen aufzubauen. Wiederum in Thailand konnten wir bei unserem jüngsten Forschungsaufenthalt in Chiang Mai beobachten, dass mehrheitlich Studenten und einige wenige Professoren eine Offene Universität (Midnight University) betreiben, bei der es in Vorträgen und Diskussionen um die Vielfalt partizipativer Verfahren ging.
Das Thema Eigenständigkeit zivilgesellschaftlicher Formen und Entwicklungen hat in den südostasiatischen Diskursen durchaus eine hohe Relevanz. So hat Pasuk Phongpaichit bei ihrer Untersuchung zu sozialen Bewegungen Besonderheiten herausgearbeitet, die nicht nur für derartige Organisationen von Bedeutung sind.
Somit kann das Resümee gezogen werden, dass sich in der Mekong-Region Südostasiens Formen republikanischer Zivilgesellschaft am ehesten als durchsetzbar erweisen. Westliche Deutungsangebote haben dann eine Chance, wenn sie sich alltagspraktisch in die gelebte traditionelle Ordnung einfügen lassen. In diesem Verwendungsprozess entstehen dann neue Muster zivilgesellschaftlichen Handelns und somit spezifische asiatische Prägungen. Es verhält sich mit der Diskussion um die Zivilgesellschaft wie mit der sehr kontrovers geführten Wertedebatte: Letztlich haben nicht die Werte eine eigene asiatische Prägung, sondern es ist die besondere Fähigkeit der asiatischen Gesellschaften, westliche Konzepte in eigene Weltvorstellungen zu integrieren - ohne den eigenen Kosmos aufzugeben. Und somit geht es - um abschließend noch einmal Amartya Sen zu zitieren - darum, "multiple institutions" aufzubauen, die den gesellschaftlichen Gebrauch von "varying norms of behavior" gewährleisten.